"To avoid the fate of the Dodo the Tories need BoJo"
Boris Johnson hat verkündet, dass er für die Nachfolge Theresa Mays bereitsteht, während die Premierministerin das Parlament ein viertes Mal über ihren Brexit-Deal abstimmen lassen will, obwohl Jeremy Corbyn die Kompromissfindungsgespräche mit ihr abbrach
Boris Johnson, der ehemalige Bürgermeister von London und im Streit um den Brexit zurückgetretene Außenminister Theresa Mays, hat der britischen Presse bestätigt, dass er nach deren Rücktritt für eine Übernahme ihrer Ämter bereitsteht. Vorher hatten britische Medien anhand der schlechten Umfragewerte über einen möglichen Untergang der Tories spekuliert, der in einem System mit Mehrheitswahlrecht einen langen Anlauf benötigt, aber dann sehr plötzlich vor sich gehen kann (vgl. UK: Tories auf dem Weg in den Untergang?).
Johnson bewarb sich schon einmal um den Parteivorsitz der Tories - 2016, als der damalige Parteichef James Cameron nach dem Volksentscheid für einen Ausstieg aus der EU seinen Hut nahm. Damals zog sich der exzentrisch frisierte Abkömmling des letzten osmanischen Innenministers aus dem Rennen zurück, nachdem ihm sein Parteifreund Michael Gove in den Rücken fiel und das Votum der "Brexiteers" in der Partei zu spalten drohte (vgl. Wer wird Premierminister?). Nun könnte Johnson mehr Unterstützung haben. So sprach sich beispielsweise der populäre Jacob Rees-Mogg für ihn aus, als er eine Kolumne von Trevor Kavanagh in der Sun inhaltlich in dem Satz zusammenfasste: "To avoid the fate of the Dodo the Tories need BoJo".
Europawahlergebnis könnte Unterhausabgeordnete zum Umdenken bewegen
Bis die Partei über einen neuen Vorsitzenden (der ohne eine vorgezogene Neuwahl dann wahrscheinlich auch Premierminister würde) entscheidet, wird es allerdings noch etwas dauern: Ein vom 1922-Komittee gesetztes Ultimatum an May, ein Datum für einen Rücktritt zu nennen, hat die Premierministerin diese Woche dadurch umgangen, dass sie für die erste Juniwoche eine vierte Unterhausvorlage ihres bereits drei Mal abgelehnten Ausstiegsdeals mit der EU ankündigte. Vor diesem Termin nehmen sowohl die Tories als auch die Labour Party an der Europawahl teil - und beide Parteien müssen dabei mit Ergebnissen rechnen, die so schlecht sind, dass sie den einen oder anderen Unterhausabgeordneten zum Umdenken bewegen könnten.
Aktuell kommt Nigel Farages neue Brexit Party bei YouGov nämlich auf einen Umfrageanteil von 35 Prozent - das sind elf Punkte mehr als die Tories (neun Prozent) und Labour (15 Prozent) zusammen erreichen. Zweitstärkste Kraft sind nun mit 16 Prozent die Liberaldemokraten, die sich gegen einen Ausstieg aus der EU aussprechen, drittstärkste mit zehn Prozent die in dieser Frage ähnlich gelagerten Grünen. Dass in den Umfragen außer den Tories auch Labour weiter verliert, dürfte nicht nur damit zusammenhängen, dass die Partei in Schottland mit Broschüren auf Walisisch zu werben versuchte, sondern auch mit der Frage eines Ausstiegs aus der EU. Den Versuch, dazu in Gesprächen mit Theresa May einen Kompromiss zu finden, erklärte der Labour-Vorsitzende Jeremy Corbyn heute für gescheitert.
Auswirkungen auf das EU-Parlament
Verliert May im Juni auch die vierte Brexit-Deal-Abstimmung, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass die im Vereinigten Königreich gewählten Abgeordneten an der konstituierenden Sitzung des EU-Parlaments am 2. Juli teilnehmen. Und falls es auch danach zu keiner Einigung auf einen Ausstiegsmodus kommt, auch an den folgenden Sitzungen. Vorerst bis zum 31. Oktober (vgl. Brexit auf Halloween verschoben).
Für die sozialdemokratische S&D-Fraktion im EU-Parlament ist das potenziell keine schlechte Nachricht: Weil die Labour-Abgeordneten zu ihr, aber die der Tories nicht zur christdemokratischen EVP-Fraktion gehören, wittert sie eine Chance, letztere zu überflügeln. Ihr Spitzenkandidat Frans Timmermanns meinte bereits, er sehe keinen Grund, sich nicht mit den Stimmen der Labour-Abgeordneten zum Kommissionspräsidenten wählen zu lassen. Dazu, dass die S&D-Fraktion die EVP überflügelt, dürften 16 Prozent für Labour allerdings nicht reichen. Auch deshalb, weil die Sozialdemokraten in Ländern wie Deutschland und Frankreich mit massiven Verlusten rechnen müssen und die portugiesische PS an die neue Macron-Fraktion verloren haben (vgl. FDP: Gegen Transferunion und Uploadfilter, aber für Macron?).
Ob sich Farages Brexit Party im Europaparlament einer Fraktion anschließen wird, ist noch unklar. Diese Unklarheit besteht EU-weit bei insgesamt etwa 50 vorhergesagten Abgeordneten neuer Kräfte. Schließt sich nach der Wahl ein Teil davon Matteo Salvinis neuer "Allianz der europäischen Völker und Nationen" an, hätte diese eine Chance, die auf aktuell 104 Sitze prognostizierten Liberalmacronisten zu überholen. Die wahrscheinlich 15 Abgeordneten der ungarischen Regierungspartei Fidesz, deren Mitgliedschaft in der christdemokratischen EVP ausgesetzt wurde, würden dafür bei einem wahrscheinlichen Grundstock von 72 Basismandaten der Lega, der Rassemblement National und der anderen Allianz-Parteien nicht reichen.
Die konservative ECR-Fraktion, die bislang von den britischen Tories angeführt wurde, kann den aktuellen Umfragen nach mit 71 Sitzen rechnen und würde einen Abschied der Briten verkraften, weil die polnische Regierungspartei PiS und andere (vor allem osteuropäische) Parteien wahrscheinlich stark genug werden. Ihr tschechischer Fernsehrundenvertreter Jan Zahradil amüsierte gestern auch außerhalb seiner Heimat, als er die Wahl zwischen dem EVP-Spitzenkandidaten Manfred Weber und dem S&P-Spitzenkandidaten Frans Timmermans mit der zwischen "Cola light und Cola Zero" verglich.
Verabschieden sich die britischen Abgeordneten nach einem Ausstieg ihres Landes aus dem EU-Parlament, können mehrere Länder mit zusätzlichen Sitzen rechnen. Vor allem Frankreich und Spanien, die jeweils fünf Abgeordnete mehr entsenden könnten. Von den 73 britischen Sitzen werden nämlich nur 46 eingespart, weshalb die Zahl der Mandatsträger nur von 751 auf 705 sinkt.
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