Toxizität - oder die Sprache der "Besorgten"

Seite 2: Verbalradikalismus des sanften Wortes

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Vor dem "zufällig-absichtlichen" Vokabular der "Besorgten" ist daher ebenso zu warnen, wie vor dem Verbalradikalismus des sanften Wortes. Beispielsweise vor dem - nach Jahren wieder ins Spiel gebrachten - vom Ministerpräsidenten Bayerns benutzten Wort "Asyltourismus", das er eigenen Angaben zufolge nicht mehr verwenden möchte, "wenn es jemanden verletzt"; was keinen Unterschied mehr macht, da es ohnehin längst in den verengenden Echokammern der Sozialen Medien angekommen ist.

Auch "Bio-Deutsche" im Gegensatz zu "Pass-Deutschen" sind keine harmlosen Wortspiele, sondern bagatellisierende Komposita als Teile des xenophoben rechten Agenda Settings.

Die AfD erblickte in Deutschland das Licht der Welt und gedeiht als Partei besonders in sozial segregierten Gebieten des Ostens prächtig. Doch in Österreich, Italien und Frankreich sowie in zahlreichen anderen Staaten leben ihre älteren Partei-Geschwister und -Verwandten. Diese arbeiten schon lange, mit teils erschreckend großem Publikumserfolg, u. a. mit ethnisch und religiös herabwürdigendem Vokabular.

Die verschmutzten und beschädigten Sprachkerne der jüngeren Geschichte sind konstitutiver Teil ihrer sprachlichen Aufrüstung. Mit subkutanen Sprachvergiftungen und -verseuchungen wird die Hassrede unserer Tage rhetorisch errichtet. Sie bildet jenen schneidenden Grundton, der nahezu jedes kulturelle Bemühen durchdringt.

Gesamtgesellschaftliche Gegenhaltung

Die Vorbildwirkung der Sprache in der Politik kann nicht hoch genug bewertet werden. Nicht erst die nächste Legislaturperiode, sondern bereits die nächste politische Rede, nicht erst die erfolgte Amtsübernahme, sondern bereits der Wahlkampf vor dieser bietet Gelegenheit zu verbaler Deeskalation im Sinne politischer Kultur. Doch es ist schwierig, dem Volk sprachliche Mäßigung abzuverlangen, wenn die Vorbilder das "Vor" aus "Vorbild" streichen und nur noch am Bild, am Image und an dessen glatter Oberfläche arbeiten - vom großen transatlantischen Entwerter ganz zu schweigen.

Hassrede, insbesondere jene in den sozialen Medien, hat den Charakter von großflächigen sprachlichen Überschwemmungen. Einzelmaßnahmen helfen da nur punktuell, daher wäre konsequente Gegenhaltung vermutlich das wirksamste Gegenmittel. Das Konzept der Gegenrede ist zwar gleichfalls bemüht und ehrenwert. Doch Gegenrede birgt das Risiko, die Hassrede, Affekte und Ressentiments implizit zur politischen Kategorie aufzuwerten und mit demokratischer Partizipation zu verwechseln. Hingegen generiert die Praxis einer zivilgesellschaftlichen Ethik, vermittelt durch Vorbilder aus Politik, Bildungseinrichtungen und Medien substanzielle gesamtgesellschaftliche Gegenhaltung; auch wenn diese nicht sofort denselben diskursiven Startvorteil besitzt.

Aufstehen ist wichtig. Damit die tragischen, folgenreichen Zusammenstöße von Chemnitz niemals zum Paradigma für ein New Normal werden.

Paul Sailer-Wlasits, geb. 1964, ist Sprachphilosoph und Politikwissenschaftler in Wien. Zuletzt erschienen: "Minimale Moral. Streitschrift zu Politik, Gesellschaft und Sprache" (2016) und "Verbalradikalismus. Kritische Geistesgeschichte eines soziopolitisch-sprachphilosophischen Phänomens" (2012).

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