Träume ohne Grenzen

Weil unklar ist, welche geografischen und moral-religiösen Grenzen Israel und Palästina haben, ist ein Ausgleich zwischen beiden Seiten schwierig

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Ein Staat, zwei Staaten – was am Ende des Konflikts zwischen Israelis und Palästinensern das Ergebnis sein wird, ist völlig offen. Sicher ist, dass es bis dahin noch ein sehr weiter Weg sein wird, denn „einfach mit der Gewalt aufzuhören“, das ist gar nicht so einfach: In Israel gibt es eine Minderheit, die die Palästinensischen Gebiete für immer behalten will; im Westjordanland und im Gazastreifen leben derweil Menschen, die das israelische Staatsgebiet zum Teil des zu gründenden palästinensischen Staates machen wollen. Auch wenn diese Forderungen nicht Teil des jeweiligen Konsens innerhalb der beiden Gesellschaften sind, wurde dennoch akzeptiert, dass sich Gruppen bildeten, die ihre groß-nationalistischen Ziele religiös legitimierten.

Durch diese religiöse Legitimierung werden Kompromisse für die Anhänger dieser Zielsetzungen ausgeschlossen, und deshalb bewegen sich mit jedem Zugeständnis, das die etablierten Parteien und Organisationen machen, jene Ultra-Radikalen, die diese Gruppierungen selbst erzeugt haben, von ihnen weg. Ihre Zahl ist zwar vergleichsweise klein, aber sie haben Waffen, und den Willen, sie benutzen, falls jemand ihre heiligen Missionen stören sollte. So ist eine Situation entstanden, in der jeder Politiker, ganz gleich auf welcher Seite, im Fall einer Übereinkunft mit der anderen Seite und der damit notwendigerweise einhergehenden Kompromisse mit möglicherweise gewaltsamen Konflikten mit Teilen seiner eigenen Bevölkerung rechnen muss. Und nein, eine Einstaatenlösung würde das Problem ebenfalls nicht lösen, glauben Experten – denn die Extremisten wollen ja nicht nur überall in ihrem Israel, in ihrem Palästina leben, sondern dort auch das alleinige Sagen haben.

In der Stadt

Sie kommen zwischen dem dritten und dem vierten Bier, vielleicht 50 von ihnen, die meisten mit schwarzen Hüten auf dem Kopf und brüllen die Gäste an, die in einem Straßenlokal in der Jerusalemer Innenstadt die erste Frühjahrssonne genießen. Es ist Sonntag, der vorletzte Tag von Pesach, an dem religiöse Juden nichts zu sich nehmen, in dem Gesäuertes enthalten ist. Und Bier gehört nun mal dazu.

Nun könnte man sagen, dass sich in einer doch recht großen Stadt Säkular und Religiös ganz gut aus dem Weg gehen könnten, zumal es mehrere Stadtteile gibt, die traditionell den Ultra-Orthodoxen vorbehalten sind. Aber das hier ist Jerusalem, die Heilige Stadt. Und damit ist Bier trinken und Brot essen während der sieben Pesach-Tage aus Sicht der Religiösen eine noch schwerere Sünde, als es das ohnehin schon ist.

Der Mob ist mächtig sauer. Die Gäste sind es auch. Nur mit Mühe kann die Polizei die beiden Gruppen davon abhalten, aufeinander los zu gehen. „Dient in der Armee“, brüllt einer von ihnen, „dann dürft Ihr mitreden.“ Eine der Kellnerinnen reicht ein paar sehr unschickliche Bemerkungen hinzu. „Am nächsten Bombenanschlag seid Ihr schuld, Ihr Chametz- [Gesäuertes, d.A.] Fresser“, ruft ein junger Mann zurück, den seine gehäkelte, weiß-blaue Kippa als Anhänger der nationalreligiösen Ideologie identifiziert. Es ist Jonathan, ein alter Bekannter. Sozusagen.

Auf dem Hügel

Mitte März, nördliches Westjordanland. Leise rieselt der Schnee. Die Jungs haben sich in dicke Wolldecken gehüllt, halten mühsam ein Lagerfeuer am Leben. Denn da, wo sie sind, ist nicht viel: Zwei Wohnwagen, von denen einer als Synagoge dient, ein paar Zelte, ein provisorischer kleiner Wasserturm, der gleichzeitig als Dusche dient, all' dies umgeben von einem wackligen Zaun auf der Spitze eines kleinen Hügels irgendwo im Westjordanland – so muss man sich das Reich dieser zwölf jungen Männer vorstellen, auf deren Köpfen Kippas ruhen, unter deren verschlissener Kleidung kleine weiße Bänder, die Enden ihrer Gebetsschals, hervorschauen, und um deren Schultern lässig Gewehre baumeln.

Sie könnten jetzt in einem warmen Zimmer irgendwo in den religiösen Vierteln von Jerusalem sitzen, aber das wollen sie nicht. „Wir sind gerne hier“, sagt der 19jährige Jonathan, der jetzt eigentlich seinen Militärdienst ableisten sollte, aber nicht dazu angetreten ist, weil er die israelische Armee seit der Räumung der Siedlungen im Gaza-Streifen für einen „Haufen von Verrätern“ hält:

Wenn nicht wir den zionistischen Traum verwirklichen, wer denn dann? Die Meisten, allen voran die Politiker, haben doch schon längst vergessen, was Israel ist: Das ist unser Land, der Herr hat uns dieses Land gegeben und wir werden niemandem erlauben, es uns noch einmal zu stehlen.

Er zieht eine verdreckte Landkarte hervor, auf der das Westjordanland sowie die Golanhöhen als Israel zu erkennen sind:

Hier schauen Sie: Hebron – da haben Juden gelebt, bis sie 1929 ermordet oder aus ihren Häusern vertrieben wurden; Schechem [der hebräische Name für Nablus, d.A.] - Hunderte von Juden vertrieben oder ermordet...

Er deutet auf immer mehr Flecke auf der Karte, auch auf solche, wo es noch nie Ortschaften gegeben hat, erwähnt nicht, dass die Nachkommen der Juden von Hebron zum größten Teil für einen Ausgleich mit den Palästinensern eintreten. „Das sind Verräter“, sagt Jonathan, darauf angesprochen, wütend: „Die haben vergessen, wofür die Leute damals gestorben sind.“ Die Anderen nicken zustimmend: Ihr Leben ist Religion, ist Politik, ist Mission. „Besser als den ganzen Tag lang MTV zu schauen“, sagt Jonathan und schiebt seine Waffe in Richtung Rücken. Wofür er die braucht? „Zu unserem Schutz natürlich“, sagt er schnippisch, „das Militär will uns doch nicht schützen.“

Was kein Wunder ist: Die mehr als 150 Mini-Siedlungen der so genannten Hügel-Jugendlichen, die es im Westjordanland gibt, sind nicht genehmigt; ihre schätzungsweise rund 800 Bewohner (Frauen sind übrigens so gut wie keine dabei) sind ausgesprochen radikal, sorgen immer wieder für nicht selten gewalttätige Reibereien mit der palästinensischen Bevölkerung. Kurz: Am Liebsten wäre die israelische Regierung die Jugendlichen und ihre Zeltlager los.

Im Tal

Die Menschen im benachbarten palästinensischen Dorfes stimmen dem, ausnahmsweise einmal, mit voller Überzeugung zu - und das nicht nur, weil die Jugendlichen ihr Camp auf Land aufgeschlagen haben, das einem der ihren gehört, und die jungen Männer gerne mal in ihrem Ort um die Häuser ziehen und sich dabei aufführen wie Hooligans.

Am Minarett der örtlichen Moschee weht die grüne Fahne der Hamas; im Café daneben sitzen junge Männer, auch hier mit Waffen, und schlagen die Zeit tot, von der sie hier, wo kaum jemand Arbeit hat, viel haben. An der Wand hängt eine Landkarte; sie sieht aus wie jene, die Jonathan hervor geholt hat. Nur das die Städtenamen arabische sind: Tel Aviv heißt Jaffa; Jeruschalajim Al Kuds – so, zwischen Jordan und Mittelmeer, stellt man sich hier den künftigen Staat Palästina vor. „Das ist unser Recht“, sagt der 21jährige Mohammad:

Die Juden haben unser Land gestohlen, und wir werden es uns zurückholen.

Er spricht von der Rückkehr der palästinensischen Flüchtlinge nach Haifa, nach Jerusalem, davon, dass Palästina, das nach seiner Lesart aus den Palästinensischen Gebieten und Israel besteht, Wakf sei, also Allgemeinbesitz der muslimischen Gemeinschaft, über das niemals ein Nicht-Muslim herrschen dürfe: „Es ist die heilige Pflicht eines jeden Moslems, für die Freiheit Jerusalems zu kämpfen“, sagt Mohammad im Brustton der Überzeugung und holt zu einer Tirade gegen die Hamas aus, deren Parole er gerade rezitiert hat:

Die Hamas ist zu einer Marionette Israels und des Westens geworden. Mit der Einheitsregierung hat sie das palästinensische Volk und den Islam verraten.

Das Problem

Besonders viele sind sie nicht auf beiden Seiten, die sich von allen verraten und verkauft fühlen, und die deshalb dem mäßigenden oder zumindest kontrollierenden Einfluss von Organisationen wie der Hamas, dem Islamischen Dschihad, der National-Religiösen Partei Israels oder der Siedler-Lobby-Organisation Jescha entzogen sind. Einst wurden ihnen Waffen gegeben, um Siedlungen zu bewachen oder gegen die israelische Besatzung zu kämpfen. Deshalb sind es Leute wie Jonathan und Mohammad sowie ihre Ansichten, die eine Übereinkunft im Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern so unglaublich schwierig machen: Sie sind religiös, sehen sich als letzte Verteidigungslinie von Religion und Ideologie, die im Nahen Osten auf beiden Seiten oft miteinander verschwimmen. Ihre Mission: das Maximum. Das Maximum an Land, an Lebensart. Und sie sind bereit, für ihre Welt ohne Kompromisse zu kämpfen.

So ist heute eine Situation entstanden, in der Verhandler auf beiden Seiten nach jedem Gedanken an einen Kompromiss auch immer daran denken, dass dieser zu einem offenen Ausbruch der sowohl in der israelischen als auch der palästinensischen Gesellschaft längst offensichtlichen Konflikte führen könnte. Doch neu ist das Problem nicht. Mohammad und Jonathan sind die Kinder einer Entwicklung, die vor mehr als hundert Jahren in der zionistischen Bewegung ihren Anfang nahm.

Das zionistische Maximum

In den Gründerjahren des Nahostkonflikts Anfang des 20. Jahrhunderts bildete sich innerhalb der Zionistischen Bewegung eine Vielzahl von Richtungen heraus, deren ideologische und religiöse Vorstellungen oft widersprüchlich waren. Um sie unter einen Hut bringen zu können, wurde Zionismus auf den kleinsten gemeinsamen Nenner, die Gründung eines Staates, reduziert. Gleichzeitig kristallisierte sich langsam heraus, dass vor allem die religiösen Gesellschaftsgruppen nur ohne Einschränkungen in diesem Staat würden leben können, wenn dessen Struktur auf dem Maximum an religiösen Vorstellungen aufgebaut sein würde. So wurde Israel zu einem Land, in dem Samstag so gut wie alles zum Erliegen kommt und wo schon mal die Cafeteria der Knesset geräumt wird, weil jemand in dem Fleisch-Restaurant Milch in seinen Kaffee gegossen hat.

Ungeklärt blieb indes die Frage, wo Israel eigentlich ist. In den Grenzen des Gelobten Landes, die sich sehr stark von den Grenzen des heutigen Israel unterschieden, und große Teile des Westjordanlandes beinhalteten? Oder in den Grenzen, die die Zionistische Bewegung im Ersten Weltkrieg aus wirtschaftlichen Erwägungen von der späteren Mandatsmacht forderte und die ungefähr die Hälfte von Jordanien, das Westjordanland, die Golanhöhen und einen Teil von Syrien beinhalteten?

Im vorstaatlichen Israel waren jene in der Überzahl, die der Ansicht waren, man solle erstmal so viel Land aufkaufen, es besiedeln und, falls es Krieg geben sollte, das Ergebnis als Grenze des israelischen Staates akzeptieren. Als es 1948 so weit war, konnte die Mehrzahl der Israelis einigermaßen gut damit leben, wenn man vom ständigen Beschuss des an manchen Stellen sehr schmalen Kernlandes von den Anhöhen des Westjordanlandes und den Golanhöhen aus einmal absah. Doch am rechten Rand des politischen Spektrums träumten manche weiter von Groß-Israel oder vom Gelobten Land. Langsam fanden die politischen und die religiösen Ideologen zueinander, die Israel vor allem als Erfüllung eines höheren Auftrages ansahen. Ihre Stunde schlug, als sich Israel nach dem Sechs-Tage-Krieg im Oktober 1967 relativ überrascht im Besitz von Westjordanland und Gazastreifen wieder fand. Bisher vom Rest der Gesellschaft eher belächelt, waren sie plötzlich die Hüter des Status Quo: Sicherheit, spirituelle Wohlfahrt, mehr Platz – sie hatten die Antwort und jene, die zunehmend mit den endlosen Debatten innerhalb der seit anno dazumal regierenden Arbeiterpartei unzufrieden wurden, neigten dazu, den Rechten zu glauben.

Die ersten Siedlungen wurden aus strategischen Erwägungen heraus gebaut, und waren von ihren Planern nie dazu gedacht, auf ewig zu bleiben. Aber viele derjenigen, die in die Häuser einzogen, waren anderer Ansicht: Ihrer Meinung nach war das ihre Heimat – entweder von der Bibel oder von Herzls Nachfolgern verheißen. Die israelische Bevölkerung akzeptierte auch das – schließlich war es ja, so glaubte man, im Interesse aller. An die Ausmaße, die die Siedlungsbewegung annehmen würde, und die Auswirkungen, die dies auf die Chancen haben würde, einen Ausgleich mit der anderen Seite zu erreichen, dachte kaum jemand.

Zionismus und palästinensischer Nationalismus

Die Entwicklung auf der palästinensischen Seite ist eng mit den Ereignissen auf der israelischen verbunden. Mitte des 19. Jahrhunderts war das Leben westlich des Jordans stark patriarchalisch geprägt. Die Menschen hier, einschließlich der mehreren Tausend arabisch sprechenden Juden, die hier seit Hunderten von Jahren lebten, regelten die meisten Angelegenheiten unter sich. Der Staat in Form des im fernen Konstantinopel ansässigen Osmanischen Reiches trat im Großen und Ganzen nur in Erscheinung, wenn es um die Steuerzahlungen ging oder es mal wieder Krieg in der Gegend gab.

Schon seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts siedelten sich immer wieder Juden aus Osteuropa an, weil sie Jerusalem, also dem Zentrum des Judentums, nahe sein wollte. Größere Probleme hatte damit kaum jemand – die Leute waren ja genauso traditionell geprägt wie die Einheimischen; sie sahen nur anders aus. Und dass jemand, unterstützt durch reiche Philantrophen, versuchte, dem kargen Land etwas abzugewinnen, war den Leuten nur recht – die Armut in der Region war groß.

Richtigen Ärger gab es zum ersten Mal, als sich mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts plötzlich Juden aus Osteuropa in Palästina ansiedelten, die zunehmend eine komische Form der Sprache benutzten, die die Alteingesessenen bisher nur während der jüdischen Gebete gehört oder genutzt hatten, und die davon redeten, hier, in Palästina, einen jüdischen Staat zu gründen.

Unter dem Einfluss der zunehmenden Öffnung des Osmanischen Reiches nach Westen seit 1792 und der aufkommenden Nationalstaaten in Europa einerseits und zum andererseits durch die aktive Förderung durch die europäischen Mächte, hatte es im westlichen Teil des Osmanischen Reiches vielerorts nationalistische Strömungen gegeben. Doch in die arabische Welt waren diese nicht wirklich durchgedrungen, wo man es meist ausreichend fand, dass es Muslime waren, die über die Heiligen Städte des Islam herrschten. Allerdings wurde die zunehmende Schwäche des Reiches seit Ende des 19. Jahrhunderts mit einer zunehmenden Stärkung der arabischen Identität beantwortet, was letzten Endes während des ersten Weltkrieges in den Panarabismus, also der Idee eines arabischen Staates auf der Grundlage der arabischen Kulturnation mündete.

Der Einzug der zionistischen Ideologie in den Nahen Osten konfrontierte die Menschen westlich des Jordans erstmals ernsthaft mit der Idee des Nationalstaates und zwang sie dazu, sich mit ihr auseinander zu setzen. Das erste Ergebnis war heftige Ablehnung, auch von Seiten der palästinensischen Juden, denen die Neuankömmlinge fremd und die Idee eines jüdischen Staates - oder eines Staates für die Juden, je nachdem, mit wem man spricht - vor der Erfüllung biblischer Prophezeiungen als Sünde erschien.

So entwickelte sich parallel zum jüdischen Nationalismus der palästinensische Unabhängigkeitsgedanke heraus, der zunächst noch loyal gegenüber der panarabischen Idee war und erst mit der Gründung von immer mehr arabischen Einzelstaaten im Laufe der 30er und 40er Jahre zum palästinensischen Nationalismus wurde. Als 1948 der Staat Israel gegründet wurde, entsprach das politische Palästina, wie im Fall Israels auch, längst nicht mehr der historischen Region Palästina, die sowohl das heutige Jordanien, die Golanhöhen und den Gazastreifen, nicht aber den Süden des heutigen Israel bis hin zum Roten Meer umfasste – dafür hatte, unbewusst, der Völkerbund gesorgt, als er Anfang der 20er Jahre die Grenzen zwischen dem britischen und dem französischen Mandatsgebiet zog und damit den Grundstein für die Gründung von Syrien, Jordanien und des Libanon legte.

Wie sich die Wahrnehmungen gleichen

Sehr ähnlich sind sich derweil die gesellschaftlichen Entwicklungen auf beiden Seiten: Auch hier wurde das Streben nach dem großen Ziel, die Gründung eines palästinensischen Staates, lange Zeit von dem Streben nach Integration aller, auch der radikalen, Kräfte in der Gesellschaft begleitet – im Vordergrund stand der Kampf gegen Israel und für einen eigenen Staat. Um allen die Möglichkeit zu geben, daran teilzunehmen, wurden alle Meinungen und Befindlichkeiten, die darüber hinaus gingen, hintan gestellt.

Machte dies sowohl in Israel wie in den Palästinensischen Gebieten bis in die 70er Jahre hinein noch Sinn, weil beide Gesellschaften bis dahin noch recht homogen waren oder hatte man zumindest über die anders denkenden Minderheiten hinweg sehen können, änderte sich dies nach dem Sechs-Tage-Krieg und der damit einhergehenden israelischen Besatzung von Westjordanland und Gazastreifen: Im Laufe der darauf folgenden 20 Jahre entstanden im Laufe eines langsamen Prozesses israelische Siedlerbewegung und Gruppen wie Hamas und Islamischer Dschihad, zwei palästinensische Gruppen, die sich nicht in das eher säkular bestehende Rahmenwerk der Palästinensischen Befreiungsorganisation PLO einfügen wollten, nach einer islamischen Republik nach dem Vorbild des Iran streben und, was auch auf die israelische Seite zutrifft, dem Kampf für die eigene Sache einen religiösen Unterbau schufen.

Warum sich Hügel und Tal so schwer integrieren lassen

Und damit wurden auch Jonathan und Mohammad geboren: Zwei junge Männer, in deren Welten Thora oder Koran die ultimativen, unanfechtbaren, unkritisierbaren Gesetzbücher sind, und in denen es keine Kompromisse gibt, weil Gottes Wort eben absolut ist. Stattdessen gibt es Waffen. Und den mit jedem Tag der politischen Debatte, jedem Tag des Kompromisses, zunehmenden Willen, sie gegen die Gegner im eigenen Lager und auf der anderen Seite einzusetzen. „Noch ist nichts passiert, aber das wird nicht immer so bleiben – diese Leute radikalisieren sich zunehmend“, sagt Ami Ayalon, der früher Chef des israelischen Inlandsgeheimdienstes Schin Beth war und heute für die Arbeiterpartei im Parlament sitzt.

Wie schwierig es ist, den nationalistisch-religiösen Rand in das gesellschaftliche Gesamtbild einzufügen, wurde bereits während und nach der Räumung des Gazastreifen deutlich: Die israelischen Siedler dort sahen sich und ihre Ortschaften als Teil Israels, gestützt auf jene Unter-Ideologie innerhalb des Zionismus', die das Maximum, also den damaligen Status Quo, zum Minimum erklärt und dies mit religiösen Argumenten begründet. Nach der Räumungsankündigung durch den damaligen Premierminister Ariel Scharon im April 2004, hätten sich viele der National-Religiösen unter den Siedlern in einer Art Schock befunden, erläutert der Psychologe Amnon Misrachi:

Da hatte ein jüdischer Regierungschef das für sie Undenkbare getan und angekündigt, er werde Land aufgeben. Abgesehen davon, dass sie nach vor dieses Land als ihre Heimat betrachten, fürchten sie auch um ihr Wohlergehen, denn das ist ja nicht irgendein Land, sondern das Gelobte Land. Im Laufe der vergangenen eineinhalb Jahre haben ja immer wieder sowohl jüdische als auch christliche Fundamentalisten die Gaza-Räumung für alle möglichen Katastrophen in der Welt verantwortlich gemacht.

So lässt sich auch erklären, warum die Siedler damals nicht einfach begannen, sich Jobs und Wohnungen irgendwo im israelischen Staatsgebiet suchten, wie es die meisten der Israelis taten, die nach dem Friedensvertrag zwischen Israel und Ägypten Ende der 70er Jahre ihre Siedlungen auf der Sinai-Halbinsel verlassen mussten:

Das war damals etwas völlig anderes. Der Sinai ist nicht Teil des gelobten Landes, und der Siedlungsgedanke war damals noch nicht so ausgeprägt. Der spirituelle Moment war dementsprechend in diesem Fall nicht vorhanden; der wurde ja erst im Laufe der Zeit geschaffen, um die nationalistischen Bestrebungen zu untermauern. Es gab allerdings Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und jenen, die der Ansicht waren, dass Israel jedes Stück Land, dass es einmal erobert hat, behalten müsse.

Amnon Misrachi

Im Fall der Gaza-Räumung jedoch warteten die meisten der Siedler bis zum Schluss, bis Polizei und Armee kamen, um sie aus ihren Häusern zu tragen, immer darauf hoffend, dass irgendetwas, vielleicht eine göttliche Eingebung, die gegenüber den Medien immer wieder beschworen wurde, die bevorstehende Räumung noch verhindern werde. „Die Leute dort hatten sich immer als Teil der israelischen Gesellschaft gesehen, waren aber in ihren umzäunten, gut bewachten Siedlungen völlig außer Kontakt mit dem Rest des Landes geraten,“ beschreibt der Soziologe Juwal Rubin die damalige Stimmungslage:

Für viele von ihnen war im Laufe der Zeit der religiöse Auftrag in den Vordergrund getreten; den meisten Israelis anderswo hingegen ist Sicherheit wichtiger und deshalb betrachteten viele von ihnen die Siedlungen nach mehr als vier Jahren eher als Sicherheitsrisiko. Die Siedlungsräumungen waren damit auch ein offener Bruch, eine direkte Konfrontation zwischen den beiden Lagern, die bis heute nachwirken. Die Spaltung zwischen Religiös und Säkular lässt sich mittlerweile auch im täglichen Leben oft beobachten: Nachdem der religiös-ideologische Bevölkerungsteil dabei ist, seine Spielwiese zu verlieren, beansprucht er diese in Israel selber – Szenen, wie wir sie im vergangenen Jahr vor der Schwulenparade oder auch jetzt während Pesach erlebt haben, sind darauf zurückzuführen. Es herrscht das Gefühl, dass die Säkularen zum Angriff auf den Status Quo blasen.

Wie man zum Verräter wird

So sehen sich nun Jonathan und Mohammad gefordert: Letzterer sieht in dem Abzug aus Gaza und dem nördlichen Westjordanland einen Beweis dafür, dass Israel besiegt werden kann, und fordert mehr. „Wir müssen zuschlagen; jetzt ist die Gelegenheit“, sagt er, „Israel ist eben doch nicht für die Ewigkeit.“ Jonathan indes glaubt, das Judentum vor seinem Untergang retten zu müssen: „Die meisten haben sich von ihren Werten abgewandt. Wenn wir sie nicht dazu bringen, wieder dazu zurückzukehren steht uns Schlimmes bevor“, sagt er nach der Konfrontation mit den Kneipen-Gästen am Sonntag, oder schreit es vielmehr, weil er von seinem Gegenüber nach seinem Besuch auf „seinem“ Hügel im Westjordanland „mehr erwartet hätte“. Dass man anderer Ansicht sein kann, und dennoch gerne verstehen können möchte, dafür hat er kein Verständnis: „Wenn Du nicht für uns bist, dann bist Du genauso ein Verräter wie alle Anderen auch“, brüllt er. Dann ziehen er und die Anderen ab, um ein paar Straßen weiter ein paar Mülltonnen anzuzünden.

Wir müssen uns daran gewöhnen und darauf vorbereiten, dass eine Einigung mit den Palästinensern auch einen möglicherweise gewaltsamen Konflikt in unserer eigenen Gesellschaft auslösen könnte. Bei den Palästinensern gibt es diesen Konflikt ja bereits. Das Problem der ungenehmigten Siedlungsaußenposten wurde zu lange vernachlässigt. Wenn verhindert werden soll, dass bald Juden auf Juden schießen, müssen diese Posten umgehend geräumt und ihre Bewohner, falls möglich, in die Gesellschaft integriert werden - und ich kann der palästinensischen Seite nur raten, das Gleiche zu tun.

Ex-Geheimdienstler Ami Ayalon