"Trennung verläuft nicht zwischen Geimpften und Ungeimpften"

Seite 2: Gegen falsche Spaltungen

Der mit Recht politisch viel kritisierte Kreuzberger Straßenkünstler Sozi36 hatte kürzlich an verschiedenen Stellen eine Parole in das Stadtteil gemalt, die auf viel Zustimmung stieß: "Die Grenze verläuft nicht zwischen Geimpften und Ungeimpften, sondern zwischen Jeff Bezos und Sozi 36."

Die Namen sind austauschbar. Es könnte da ein Unternehmen genannt werden, das den Lohn schuldet oder gegen aktive Gewerkschafter vorgeht oder gegen Wohnkonzerne, die die Corona-Krise für Mieterhöhungen nutzen. Mit einer solchen Orientierung gegen falsche Spaltungen würde eine linke Bewegung an die Proteste gegen Hartz-IV anknüpften, als die linke Bewegung auch gegen falsche Spaltungen vorging, in Menschen, die es verdienten, unter Hartz-IV zu leben und solchen, die es nicht verdienten.

Niemand verdient es, unter Bedingungen von Hartz-IV zu leben, lautete die linke Parole, die damals in großen Teilen der sozialen Bewegung hegemonial war und sich gegen falsche Spaltungen wandte. Damit konnte man die Rechten damals in der Bewegung klein halten. Ähnlich agieren in Italien und Frankreich aktuell linke Gruppen und Basisgewerkschaften, die gegen Rechte, aber auch gegen die staatliche Corona-Politik demonstrieren.

Der Historiker und Arzt Karl Heinz Roth hat vor einigen Tagen bei einer Online-Vorstellung seines Buches Blinde Passagiere – Die Corona-Krise und die Folgen auf die Problematik in Italien hingewiesen. Im Frühjahr und Sommer 2020 hätten Basisgewerkschaften auf einen selbstorganisierten Lockdown gesetzt, fanden dabei aber bei großen Teilen der Lohnabhängigen, die zwischen Gesundheitsschutz und Verlust der Arbeitsplätze wählen mussten, wenig Unterstützung.

Im Herbst letzten Jahres beteiligten sich Hafenarbeiter in Triest und anderen italienischen Städten an rechtsoffenen Protesten gegen den Grünen Pass und organisierten sogar für mehrere Tage Blockaden. Unterstützung bekamen sie von linken Gruppen und Basisgewerkschaften, was auch vom operaistischen Kollektiv Wu Ming in einem Interview mit der Wochenzeitung Jungle World verteidigt wird.

Dabei spricht das linke Kollektiv den ideologischen Müll, der in der Bewegung gegen den Grünen Pass verbreitet wird, offen an. Doch es kommt zu dem Fazit:

Es ergibt wenig Sinn, über den angeblichen Missbrauch des Begriffs "Freiheit" bei diesen Mobilisierungen zu philosophieren. Das geht an der Sache vorbei, denn meistens geht es den Teilnehmenden nicht um Freiheit, sondern um ihre eigene Proletarisierung. Ein Teil der prekären, verarmten und verängstigten Mittelschicht – Menschen, die die Sprache des sozialen Kampfes nicht beherrschen und nicht zu den Erben politischer Traditionen mit etabliertem Vokabular gehören – übersetzt seine Wut über seinen kürzlich erfolgten oder bevorstehenden sozialen Abstieg und über die Ungerechtigkeit, die er aufgrund der Art und Weise erlitten hat, wie der pandemische Notfall gehandhabt wurde, in Begriffe der "Freiheit".

Wu Ming, Jungle World

Wu Ming werfen einem Teil der Linken vor, die individuelle Freiheit geringzuschätzen und so womöglich autoritärer Staatlichkeit Vorschub zu leisten. Es wäre schon viel gewonnen, wenn die Linke – ob parlamentarisch oder außerparlamentarisch – über solche Thesen mit Argumenten streiten würde, statt auch in den eigenen Reihen noch weitere Spaltungen und Ausschlüsse zu provozieren. Damit wird die so viel gefürchtete rechte Hegemonie bei den Protesten eher noch verstärkt.