Türkei: Aufruf gegen die Resignation
101 Akteure aus allen politisch-gesellschaftlichen Bereichen fordern die Opposition auf, sich gegen das AKP-Regime zu stemmen
Eine neue Wirtschaftskrise, die außer Kontrolle geratene Corona-Pandemie, der Krieg in Syrien, der sich zuspitzende Konflikt mit Griechenland, die seit mehr als vier Jahren anhaltenden Verfolgung von Oppositionellen: Die Türkei kommt nicht zur Ruhe. Und obwohl die regierende AKP, die Partei von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan, in Umfragen zunehmend schlecht dasteht, hat sich im Land Resignation breit gemacht.
Von der Hoffnung und Aufbruchsstimmung, die zeitweise immer mal wieder hochkochten, ist heute nicht mehr viel zu spüren. Es scheint bisweilen, als habe die Opposition den Kampf aufgegeben. Ohnehin sind es noch einige Jahre hin bis zu den nächsten Wahlen, die 2023 stattfinden sollen. Und wie es scheint glaubt aktuell kaum jemand daran, dass sich bis dahin viel zum Guten ändern wird.
In dieser Situation hat ein Zusammenschluss, der sich "Die 101 Weisen" nennt, einen Aufruf publiziert, der sich insbesondere an die junge Generation in der Türkei richtet. Hinter dem kryptischen Titel verbergen sich große Namen wie der Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk, der Verleger Murat Belge, die Autoren Oya Baydar und Zülfü Livaneli. Zu den Erstunterzeichnern aus Deutschland zählen unter anderem der Filmemacher Fatih Akin, die Politiker Lale Akgün (SPD) und Cem Özdemir (Grüne), der Journalist Günter Wallraff, der Schriftsteller Dogan Akhanli, die Autorin Asli Erdogan, die Journalisten Can Dündar und Banu Güven.
Gegen Polarisierung
In dem Aufruf prangern sie die Lage an, die von Erdogan und der AKP geschaffen wurden: Die Außerkraftsetzung der Verfassung, die Abschaffung der Gewaltenteilung und der Unabhängigkeit derb Justiz, Willkür und Repressionen und vor allem die Spaltung der türkischen Gesellschaft:
"Unsere Gesellschaft wird zunehmend polarisiert; mit dem Ergebnis, dass Fromme und Säkulare, Sunniten und Aleviten, Rechte und Linke, Türken und Kurden, Junge und Alte sich nicht zusammenschließen, um gemeinsam dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten."
Die Initiatoren fordern die ebenfalls zerstrittenen Oppositionsparteien des Landes auf, ihre Konflikte zu begraben und sich gemeinsam für eine bessere Zukunft des Landes zu engagieren:
"Die Koalition aus AKP-MHP schöpft ihre Kraft aus dem zersplitterten Zustand der Opposition. Unser Land braucht eine starke Alternative, die verlässlich ist. Die Lösung liegt in einem demokratischen Bündnis, welches sämtliche oppositionelle Kräfte unter elementaren Grundsätzen der Menschenrechte vereint, unter Beibehaltung ihrer jeweils eigenen politischen Identität."
"Ich bin überwältigt von der Reaktion in der Türkei", sagt der Journalist Osman Okkan, Gründer des KulturForum TürkeiDeutschland, der zurzeit eine Pressekonferenz zur Präsentation des Aufrufs vorbereitet, die im Oktober in Berlin stattfinden soll.
"Dass Menschen aus so unterschiedlichen politischen und gesellschaftlichen Richtungen einen gemeinsamen Aufruf unterstützen, ist einmalig. Es sind Ex-AKPler dabei, religiöse Intellektuelle, Kurden und kurdische Politiker, Linksliberale, auch Sozialisten. Gerade weil sich in der Türkei eine große Desillusionierung und Resignation breit gemacht hat, ist dieser Aufruf ein wichtiges Signal. Die Unterstützung durch Organisationen wie den PEN, die Journalistenunion und weitere ist eine starke Solidaritätsbekundung."
Dabei gehen die meisten der Unterzeichnenden ein großes Wagnis ein. Schon in den vergangenen Jahren reagierte die AKP auf Friedensaufrufe mit Repressionen und Massenverhaftungen. Bis heute sind Zehntausende Oppositionelle in Haft, in den überfüllten Gefängnissen wird wieder gefoltert. Das Corona-Virus ist für die Gefangenen zu einer zusätzlichen Bedrohung geworden.
Und auch Regierungsgegner, die im Exil leben, werden massiv bedroht. So soll der seit Jahren in Berlin lebende Journalist Can Dündar enteignet werden, wenn er nicht in die Türkei zurückkehrt und sich der Justiz stellt. Ein faires und rechtsstaatliches Verfahren würde ihn dort nicht erwarten - sondern politische Willkürjustiz. Immer wieder werden auch in der Türkei lebende Angehörige von aus dem Land geflüchteten Oppositionellen bedroht - eine Praxis, die auch aus anderen autoritär regierten Staaten bekannt ist.
Ob und inwiefern der Aufruf etwas wird bewegen können, hängt nun nicht zuletzt von der Reaktion der türkischen Oppositionsparteien ab: der kemalistischen CHP, der prokurdisch-linksliberalen HDP und der rechtskonservativen Iyi Parti.
Ob es diesen so unterschiedlichen Akteuren gelingt, sich nochmal wie bei der Kommunalwahl in Istanbul im Vorjahr zusammenzuraufen, ist fraglich. Es wäre in der Geschichte der Türkei das erste Mal bei einer Parlamentswahl.