Türkei: Friedensprozess beendet
Seite 2: Gewollte Eskalation
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Auf erklärten Wunsch Erdoğans findet morgen eine Nato-Sondersitzung in Brüssel statt (Türkische Regierung veranlasst Nato-Sondersitzung). Dort sollen die 28 Botschafter über das weitere Vorgehen in diesem Konflikt beraten und entscheiden. Eines der drohenden Szenarien ist der Nato-Bündnisfall, und damit die offizielle Beteiligung deutscher Truppen an diesem Krieg. Das wäre trotz einer hundert Jahre alten Waffenbrüderschaft zwischen Berlin und dem Bosporus, inkl. aktiver Beihilfe zum Völkermord an ca. 1,5 Armenierinnen und Armeniern, politischer, finanzieller, militärischer und logistischer Unterstützung der Türkei als Nato-Partner im Krieg gegen die PKK und der Stationierung der Patriot-Raketen im kurdischen Teil der Türkei ein Novum.
Nato-Generalsekretär Stoltenberg warnte davor, den Friedensprozess zu gefährden. Er begrüßt die Beteiligung der Türkei am Kampf gegen den IS, erklärte aber, Selbstverteidigung müsse angemessen erfolgen. Nach ihm hat die Türkei um keine "substantielle" militärische Hilfe bei der Nato angefragt.
Aufgrund der aktuell extrem angespannten Lage in der Türkei und in Kurdistan ist offenbar völlig in Vergessenheit geraten, dass es in der Türkei am 8. Juni 2015 Parlamentswahlen gab, bei denen die AKP (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) ihre absolute Mehrheit verlor - allen voran bei Präsident Erdoğan, der als solcher schon lange abgewählt ist, jetzt jedoch agiert, als habe es diese Wahl nie gegeben.
Die Eskalation ist gewollt. Darüber sind sich die Kommentatoren aller Medien einig. Denn Erdoğan will seine Macht zurück, die er am 8. Juni 2015 verlor. Im März 2003 wurde der ehemalige Oberbürgermeister von Istanbul zum Ministerpräsidenten der Türkei gewählt. Dieses Amt bekleidete er bis August 2014, seitdem ist er "nur noch" der Präsident, also oberster Repräsentant der Republik Türkei. Ein Image- und Machtverlust, den er mit einer Verfassungsänderung zu beenden gedachte, die ihm die Machtkonzentration als Staatsoberhaupt, als Regierungschef und als militärischer Oberbefehlshaber verschaffen sollte. Doch die HDP, ein breites und buntes Bündnis aus linken und fortschrittlichen, türkischen sowie kurdischen Organisationen, Studentinnen und Studenten, Lesben und Schwulen, Teilen der Anti-Kriegs-, der Öko-, der Frauen-Bewegung, Intellektuelle, Kunst- und Kulturschaffende, machte ihm einen Strich durch diese Rechnung.
Durch die politische Destabilisierung erhofft er sich nun bei eventuellen Neuwahlen, dass einerseits die Diskreditierung der HDP als Querulanten-Verein wirkt, der mit der PKK - und somit "Terroristen" - unter einer Decke steckt, und andererseits das Bedürfnis nach einem starken Mann steigt, der für Ruhe und Ordnung sorgt. Und er, bzw. die AKP, so erneut die absolute Mehrheit erreichen wird. Damit er sein Projekt "Sultan Erdoğan" doch noch verwirklichen kann.
Doch diese Rechnung scheint ziemlich kurzsichtig. Denn wie Deniz Yücel sehr beunruhigend, allerdings auch sehr treffend schreibt: "Aber selbst wenn Erdogan bloß politisches Kapital aus den Ereignissen zu schlagen versucht, ist es töricht zu glauben, man könne eine militärische Eskalation am Abend der Neuwahl einfach so beenden. Die Türkei torkelt dem Chaos entgegen."