Türkei: Friedensprozess beendet

Der militärische Konflikt zwischen der türkischen Armee und der kurdischen Guerilla PKK erreicht eine neue Eskalationsstufe. Auch die Bundeswehr könnte in den Konflikt hineingezogen werden

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Die Lage ist unübersichtlich. Die Nachrichten aus der Westtürkei, dem kurdischen Teil der Türkei, dem Nordirak und Syrien überschlagen sich. Soziale Netzwerke im Internet sowie gut vernetzte türkische und kurdische Communities machen es möglich. Bilder von brennenden Landschaften, und Rauchwolken über Gebäuden, Dörfern und Städten gehen um die Welt.

Es ist schwierig, die Fülle dieser Informationen einzuordnen und auf ihren Wahrheitsgehalt hin zu überprüfen. Doch die wesentlichsten Informationen werden - zumeist mit einigen Stunden Verzögerung - durch Nachrichtenagenturen und Medien bestätigt. Sehr hilfreich dabei ist die fundierte Berichterstattung des Türkei-Korrespondenten der Welt und ehemaligen taz-Redakteurs Deniz Yücel, dem türkische Quellen im Original zugänglich sind, die er aber nicht unhinterfragt übernimmt.

Fakt ist demnach: Die Türkei bombardiert Stellungen der PKK, woraufhin diese den Friedensprozess mit der türkischen Regierung für beendet erklärte. Das hat weitreichende Konsequenzen. auch für die Zivilbevölkerung in der Westtürkei, im kurdischen Teil der Türkei, im Nordirak und Syrien sowie für linke, kurdische und alevitische Organisationen und Vereinen. Im Ernstfall könnte auch die Bundeswehr in den Konflikt hineingezogen werden. Als Nato-Bündnispartner der Türkei, vor allem aber wegen der im kurdischen Kahramanmarasch stationierten Patriot-Raketen und der dazu gehörigen Einheit der Bundeswehr. Der stellvertretende Vorsitzende der Linkspartei, Tobias Pflüger, fordert daher den sofortigen Abzug der Raketen und der Bundeswehr-Einheit aus Kurdistan.

Im Rahmen der am vergangenen Freitag begonnenen und immer noch andauernden Razzien wurden mehr als 600 Personen festgenommen (Stand 26. Juli), davon 100, die dem Islamischen Staat (IS) zugeordnet werden, und 500 Personen aus dem linken und kurdischen Spektrum. Darunter auch hohe Funktionäre des kurdisch-linken Wahlbündnisses HDP, das bei den Parlamentswahlen am 8. Juni 2015 13% der abgegebenen Stimmen auf sich vereinigen konnte. Die anderen Festnahmen sind Zufallstreffer, die wegen nicht politischer Delikte verhaftet wurden. Eine junge Frau wurde bei dieser Operation erschossen (Schlag gegen die linke Opposition in der Türkei).

Laut offiziellen Angaben aus Ankara von heute wurden insgesamt 900 Menschen festgenommen. Diese seien aus dem Umfeld des IS, der kurdischen Arbeiterpartei PKK oder der linken türkischen Organisation DHKP-C (Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front), beide als terroristische Vereinigungen auf der EU-Liste geführt. Wobei die türkische Regierung sich darüber ausschweigt, in welchem Verhältnis die Festnahme von islamischen Fundamentalisten und Linken steht. Mittlerweile wurden im kurdischen Teil der Türkei offensichtlich Internetzugänge gesperrt, um die Vernetzung zu erschweren, und so den Widerstand zu schwächen.

In verschiedenen Städten wurden und werden Demonstrationen von der Polizei angegriffen. Dabei kam es zu Toten und Verletzten, u.a. ein kurdischer Jugendlicher und zwei Polizisten. Auch im Nordirak gab es Protestaktionen, die von der Regierung Masud Barzanis allerdings nicht gern gesehen und ebenfalls angegriffen wurden.

Im Istanbuler Stadtteil Gazı, einem traditionell linken Viertel mit einem hohen Anteil kurdischer und alevitischer Bevölkerung, herrschen mittlerweile bürgerkriegsähnliche Zustände. Darüber wird hierzulande in allen Medien berichtet. Der ehemalige Landtags-Abgeordnete der Linkspartei Ali Atalan, seit Juni 2015 einer von zwei alevitischen Abgeordneten im türkischen Parlament, berichtet in sozialen Netzwerken von Babys, die schon bei der Geburt im Krankenhaus in Gazı durch die Rauchschwaden von Tränengas und Pfefferspray zu Schaden gekommen seien.

Hintergrund der Auseinandersetzungen ist eine Friedens-Demonstration, zu der für gestern 16h Ortszeit aufgerufen worden war. Es wurde mit mehr als 100.000 Teilnehmenden gerechnet. Auch die beiden linken Bundestagsabgeordneten Sevim Dağdelen und Andrej Hunko machten sich auf den Weg nach Istanbul. Diese Demo wurde indes verboten.

Als Reaktion auf das Verbot wurde eine Pressekonferenz angemeldet. In der Türkei ist es durchaus üblich, öffentliche "Pressekonferenzen" unter freiem Himmel mit einer unter Umständen sehr hohen Teilnehmerzahl abzuhalten, weil Pressekonferenzen nicht so leicht verboten werden können wie Demonstrationen. So ziemlich alle Sit-Ins der berühmten Samstagmütter, die Ende der 1990er Jahre jeden Samstag auf dem Istanbuler Taksim-Platz zusammenkamen, mit Schildern verschwundener Angehöriger in der Hand, und die Aufklärung von deren Verbleib forderten, waren "Pressekonferenzen". An der gestrigen Friedens-"Pressekonferenz" nahmen immerhin noch mehrere tausend Personen teil.

Bekannt ist mittlerweile, dass die türkische Armee Stellungen der PKK im Nordirak bombardiert, und, wie heute von Ankara bestätigt wurde, auch Ziele in Rojava, dem kurdisch kontrollierten Gebiet an der syrischen Grenze zur Türkei. Von kurdischer Seite heißt es, Ziel seien die Volksverteidigungseinheiten PYJ/PYG, der syrische Ableger der PKK, jene Guerilla, die weltweit hohes Ansehen wegen ihres konsequenten und erfolgreichen Kampfes gegen die Terrormiliz IS erlangte. Ankara dementiert indes die Bombardierung der PYG/PYJ-Einheiten und behauptet stattdessen, Ziel seien die Stellungen des IS (Davutoglu bietet PYD Zusammenarbeit an). Pazifistische Organisationen, u.a. die beiden prominenten Totalverweigerer Ercan Aktaş und Halil Savda, rufen zum Desertieren auf.

Bilder von Waldbränden in der Region Diyarbakir, dem Zentrum der kurdischen Gebiete in der Türkei, wurden in sozialen Netzwerken gepostet. Diese seien von der türkischen Armee gelegt worden und die Feuerwehren würden gehindert, sie zu löschen, hieß es. Dazu gibt es keine offiziellen Angaben. Waldbrände in Kurdistan können um diese Jahreszeit aufgrund der Hitze entstehen, aber eben auch durch Militär-Operationen. Schon in den 1990ern betrieb die damalige türkische Regierung unter Ministerpräsidentin Tansu Ciller eine Politik der verbrannten Erde - mit verheerenden Folgen für die Bevölkerung und irreparablen Schäden an der Natur. In Diyarbakir befindet sich auch der Militärstützpunkt, von dem aus die F-16-Bomber in Richtung Nordirak und Syrien starten.

Schon vor Wochen stellte Nihat Durmuş, Chefredakteur der in Iskenderun (Küstenstadt am östlichen Zipfel des Mittelmeeres in der Provinz Hatay, Grenzregion zu Syrien) erscheinenden Tageszeitung Olay Gazetesi (olay = Ereignis), die bange Frage, inwieweit zu befürchten sei, dass der IS über die Grenze auf türkisches Territorium überschwappen könne. Und ob in der Grenzregion auf türkischer Seite Kriegsgefahr bestehe. Die erste Frage wurde spätestens mit dem Anschlag von Suruç beantwortet (Suruc-Anschlag: Verschwörungstheorien und Rachemorde). Und die zweite Frage damit auch.

Wobei der Krieg nie wirklich weg war. Es gab durchgängig auch während des viel gerühmten Friedensprozesses Angriffe des türkischen Militärs auf PKK-Einheiten. Der Hafen von Iskenderun ist Umschlagplatz für Rüstungsgüter aller Art, und von u. a. dort aus wird der Nachschub für die türkische Armee gewährleistet. So dass die Bevölkerung dort in permanenter Kriegsangst lebt. Eine der Ursachen für die erneute Eskalation des Konflikts zwischen der türkischen Armee und der PKK ist die Ermordung zweier türkischer Soldaten an der syrischen Grenze infolge des Anschlags von Suruç, zu der sich eine PKK-Einheit bekannte. Offiziell räumte die kurdische Arbeiterpartei die Verantwortung dafür ein, stellte aber klar, dass es eine unabgesprochene spontane Operation der Täter gewesen sei.