Türkei: Hat die Demokratie noch eine Chance?
- Türkei: Hat die Demokratie noch eine Chance?
- Das Scheitern des islamischen Liberalismus
- Die Opposition ist fragmentiert und tief gespalten
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Wie konnte sich die AKP so schnell radikalisieren? Und welche Möglichkeiten bleiben der Opposition, die Wahlen 2019 zu gewinnen?
Rein formal scheint der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan momentan auf der Zielgeraden zu sein. Durch die in einem umstrittenen Referendum beschlossene Verfassungsreform kann er nicht nur alle Macht im Staat in seinen Händen bündeln, sondern auch die Überbleibsel einer geschwächten parlamentarischen Demokratie vom Tisch wischen. Rein rechtlich stehen dem noch die Wahlen im Jahr 2019 entgegen, mit denen die Reform Gültigkeit erlangt.
Doch dieses kleine Detail scheint schon knappe zwei Wochen nach dem Volksentscheid nicht mehr von Bedeutung. Bereits Anfang Mai kehrt Erdogan, der als Staatspräsident eigentlich neutral sein müsste, zu seiner Partei AKP zurück. Am 21. Mai soll er Ministerpräsident Binali Yildirim als Parteichef ersetzen. Das erlaubt die Reform - aber erst in zwei Jahren.
Die Türkei war einst, vor allem aufgrund der Reformen der AKP, ein weltweit bewundertes Beispiel für einen islamischen Liberalismus, der Wohlstand und demokratische Grundprinzipien mit sich brachte. Aber binnen weniger Jahre wurde die Uhr um Jahrzehnte zurückgedreht. Die heutige "Neue Türkei", wie Erdogan sie nennt, ist ein Staat ohne Gewaltenteilung, ohne Presse- und Meinungsfreiheit. Ein repressiver Staat, der seine Kritiker zu Zehntausenden in Gefängnissen verschwinden lässt, in denen wieder gefoltert wird. Ein Staat, dessen einst florierende Wirtschaft am Abgrund steht und der sich international zunehmend isoliert.
Doch wie konnte es so weit kommen? Und welche Optionen bleiben der Opposition noch, wenn sie 2019 das Blatt wenden möchte?
Zu der Frage, wie es nach dem langen Reformkurs zur Radikalisierung der AKP kommen konnte, gibt es unterschiedliche Erklärungsansätze. Weit verbreitet ist die Auffassung, dass Erdogan von Anfang an nie etwas anderes im Sinn hatte als die lückenlose Machtergreifung, die aktuell auf ihren Höhepunkt zusteuert. Unvergessen ist jene Rede Ende 1997 in Siirt, bei der er ein Gedicht von Ziya Gökalp zitierte, in dem es heißt: "Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufsteigen, bis wir am Ziel sind. Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette unsere Bajonette, die Kuppeln unsere Helme und die Gläubigen unsere Soldaten."
Aus heutiger Sicht scheint das programmatisch: Erst fährt Erdogan einen modernistischen Kurs; er behält die laizistische Grundordnung des Kemalismus bei, macht den Religiösen aber immer wieder kleine Zugeständnisse, um sie für sich zu gewinnen. Zugleich öffnet er das Land, profitiert von der guten Weltwirtschaftslage und dem schwachen Dollar, so dass er die Türkei zum Global Player formen kann, während er mit Sozialreformen und Geldgeschenken die zuvor unterrepräsentierten Klassen der Arbeiter und Landbewohner an sich bindet, ohne dabei die bisherige Elite allzu sehr zu verärgern. Als er dann die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich glaubt, setzt er zum Krieg gegen alle an, die ihm noch im Weg stehen.
Hat Erdogan die Abfuhr seitens der EU radikalisiert?
Doch diese Interpretation hat Lücken. Zwar wurzelte der größte Teil der in den Anfangsjahren realisierten Reformen in Forderungen der EU im Rahmen der Beitrittsverhandlungen. Aber, so sagte der für die Beitrittsverhandlungen zuständige EU-Kommissar Günter Verheugen am 5. März 2017 im Polittalk bei Anne Will: "Die Türkei war das Land mit der größten Reformdynamik." Im Jahr 2005 jedoch habe sich in "wichtigen europäischen Ländern" die Politik verändert, und plötzlich habe die Botschaft an die Türkei gelautet: "Ihr könnt machen, was ihr wollt, am Ende wollen wir euch nicht, denn ihr gehört nicht zu Europa. Ihr seid ein anderer Kulturkreis. Hier sehe ich einen kausalen Zusammenhang. Das hat dazu geführt, dass wir als Europäer den Einfluss verloren haben auf die innere Entwicklung der Türkei."
Das Schlagwort war die "privilegierte Partnerschaft". Davor, so Verheugen, habe er mit Erdogan telefonieren und ihn von bestimmten Vorhaben abraten können. Das habe damals funktioniert, weil Erdogan wirklich glaubte, die Türkei habe Chancen, in die EU aufgenommen zu werden. Verheugen kritisiert die Politik der EU gegenüber der Türkei als "unehrlich".
Folgt man dieser Perspektive, so kann man annehmen, dass Erdogan keineswegs nur hinter den Fördermilliarden aus Brüssel her war, sondern tatsächlich auf einen Beitritt als Vollmitglied zielte. Dafür aber hätten die Reformen weitergehen und Bestand haben müssen. Ein repressiver Kurs wie der heutige, gar eine Verfassungsänderung, die das Parlament weitgehend entmachtet oder die gesetzwidrige Verfolgung und Inhaftierung von Andersdenkenden wäre so als EU-Mitglied nicht möglich gewesen. In der Rückschau muss man davon ausgehen, dass die letztlich ablehnende Haltung der EU der Türkei gegenüber viele der aktuellen Missstände erst ermöglicht hat.
Die Frage ist, ob das Gökalp-Zitat jemals Erdogans persönliche Haltung widerspiegelte oder ob er es aus bloßer Taktik anbrachte, um eine gewisse Klientel hinter sich zu versammeln. Letzteres ist durchaus wahrscheinlich. Dass Erdogan so oft als Islamist betitelt wird, hat vor allem mit seiner Selbstinszenierung zu tun. Unterm Strich scheint die Religion bei ihm aber mehr Show als echte Überzeugung zu sein. So konnte er sich in der Frühzeit der AKP zum Laizismus bekennen und heute mit radikalislamischen Gruppen in Syrien kooperieren, wenn er glaubt, dass es ihm einen Nutzen bringt. Dahinter stecken Strategie und Machtpolitik.