Türkei: Hat die Demokratie noch eine Chance?

Seite 3: Die Opposition ist fragmentiert und tief gespalten

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All das zeigt aber auch, dass der Kampf um die Zukunft der Türkei, um Demokratie und Bürgerrechte, noch nicht verloren ist. Erdogan zielt darauf, dass 2019 die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen am selben Tag stattfinden, dass er bis dahin gemeinsam mit seiner Partei AKP als geschlossener Block auftritt, eventuell einmal mehr mit Unterstützung der rechtsnationalistischen MHP, und bis dahin wieder zu absoluten Mehrheiten zurückfindet.

Bislang sieht es aber nicht danach aus, als würde ihm das gelingen. MHP-Chef Devlet Bahceli verkündete bereits, dass er bei einer Umformung der Regierung nicht vorhabe, eine Koalition einzugehen. Er wird erstmal damit beschäftigt sein, seine Basis wieder einzusammeln, die mehrheitlich gegen die Unterstützung des Referendums war, was in den letzten zwei Monaten zu einer Spaltung der Partei führte.

Wenn es hingegen der Opposition gelingt, 2019 die Machtverhältnisse deutlich zu ihren Gunsten zu drehen, dann wären Erdogans Tage gezählt. Can Dündar würde Recht behalten mit der Aussage, das Referendum sei "der Anfang vom Ende der Ära Erdogan" gewesen.

Der Haken daran: Die Opposition ist fragmentiert und tief gespalten, und es wäre eine Fehlannahme, zu glauben, dass all jene, die heute die AKP ablehnen, Musterdemokraten nach europäischem Verständnis sind. Die Schwäche der Opposition war stets eine der größten Stärken Erdogans. Selbst während der Gezi-Proteste fiel der größten Oppositionspartei CHP nichts Besseres ein, als von früh bis spät die Verfehlungen der Regierung zu thematisieren. Ein eigenes Programm, das Lösungen für die bestehenden Probleme beinhaltet und den Bürgern einen Weg in die Zukunft aufgezeigt hätte, brachte sie nicht zustande.

CHP-Chef Kemal Kilicdaroglu blieb im Vergleich zu Erdogan stets eine blasse und uncharismatische Figur. Im Vergleich dazu trat HDP-Chef Selahattin Demirtas als Hoffnungsträger auf, der viele Sympathien gewinnen konnte und dessen kleine kurdische Partei der AKP bei beiden Wahlgängen im Jahr 2015 mit ihrem Parlamentseinzug die erwünschten Mehrheiten verhagelte. Allerdings sitzt Demirtas nun im Gefängnis, seine Partei ist unter Druck. Ob es der HDP in absehbarer Zeit gelingt, sich von den letzten Monaten zu erholen und sich neu zu formieren, ist völlig offen.

Die Unfähigkeit der Opposition, eine gemeinsame Linie zu finden, verhindert auch ihren Aufstieg. Die täglichen Repressionen und Massenverhaftungen sorgen dafür, dass die Ruhe, die für eine Neuausrichtung notwendig wäre, nicht einkehrt. Großen Schaden fügte CHP-Chef Kilicdaroglu ihr unmittelbar nach dem Referendum zu, als er dem Protest auf der Straße die Unterstützung verweigerte und dann noch den Militäreinsatz in Rojava guthieß. Aber die Probleme gehen viel tiefer.

"So wie die Fethullah-Anhänger, werden eines Tages auch die Tayyip-Anhänger vor Gericht stehen", sagte Kamuran Yüksek, Ko-Vorsitzender der kurdischen DBP, im März. Damit sind die Anhänger von Fethullah Gülen und Recep Tayyip Erdogan gemeint.

Das Zitat ist bezeichnend für so Vieles, das in der Türkei schief läuft. Große Teile der kurdischen Bevölkerung haben die AKP jahrelang unterstützt. Spätestens seit Erdogan den Friedensprozess aufgekündigt und den Südosten bombardiert hat, wurde klar, welch ein Fehler das war. Nun hassen sie Erdogan - aber sein Vorgehen gegen die Gülenisten finden sie trotzdem ok, ungeachtet der haarsträubenden Anklagen, der Massenverhaftungen samt Sippenhaft, der Enteignungen und Menschenrechtsverletzungen.

Bei vielen Wählern der CHP ist es ähnlich. Zwar sind sie gegen Erdogan - aber sein Vorgehen gegen die Kurden wird oft stillschweigend akzeptiert wenn nicht gar begrüßt. Die Gülen-Bewegung, die dringend neue Allianzen bräuchte, kann ihre Feindschaft gegenüber den Kemalisten nicht überwinden, während diese wiederum, genau wie Teile kurdischer Gruppen, die Repressionen gegen echte oder vermeintliche Gülen-Anhänger für richtig halten.

Schon dieses kleine Beispiel macht klar, wie schwierig es wird, auch nur einen Minimalkonsens unter Erdogans Gegnern zu ermöglichen - und zugleich, wie das Verhältnis zu demokratischen Grundwerten und rechtsstaatlichen Prinzipien ist, wenn diese stets nur für jene gewünscht sind, die die jeweils eigene Position teilen. Was man nicht vergessen darf: Genau diese Konstellation verursacht in der Türkei seit Jahrzehnten politisch-gesellschaftliche Spannungen, und sie wird noch existieren, wenn Erdogan längst Geschichte ist. Erdogans Achillesverse in den nächsten zwei Jahren ist die Wirtschaft. Nach wie vor danken ihm viele seiner Wähler Aufschwung und Wohlstand. Wenn aber die Touristen ebenso ausbleiben wie ausländische Investitionen, wenn die EU als wichtiger Handelspartner entfällt und sich aus östlicher Richtung keine neuen stabilen Optionen eröffnen, dann ist ein Zusammenbruch der türkischen Wirtschaft nicht mehr auszuschließen. Eine geeinte Opposition mit Konzepten, die echte Alternativen zur AKP aufzeigen, könnte durchaus die Wahlen 2019 gewinnen. Aber bis dahin vergeht noch viel Zeit, die Erdogan nicht ungenutzt verstreichen lassen wird.

Allein in der vergangenen Woche wurden laut türkischem Innenministerium 2331 vermeintliche Gülen-Anhänger festgenommen, am 1. Mai ging die Polizei in Istanbul mit Wasserwerfern und Tränengas gegen Demonstranten vor und nahm 165 Personen fest. Ein neues Dekret verfügte die Entlassung von weiteren 4000 Beamten und Akademikern, darunter auch 200 Richter, die erst kurz nach dem Putschversuch eingesetzt worden waren.

Neben der Sperrung von Wikipedia, die weltweit für Aufsehen gesorgt hatte (Türkei blockiert Wikipedia und verbietet Datingshows), hat die türkische Nationalbibliothek außerdem den Archivzugang eingeschränkt. Betroffen sind laut Cumhuriyet 29 inzwischen verbotene Tageszeitungen und Magazine. Das ist eine weitere Einschränkung der Presse- und Informationsfreiheit von gewaltigem Ausmaß.

Am Dienstagabend meldete die Tageszeitung Cumhuriyet, dass die Immunität von CHP-Chef Kemal Kilicdaroglu sowie mehrerer Abgeordneter der größten türkischen Oppositionspartei aufgehoben werden soll. Mit diesem Schritt begann im vergangenen Jahr der offene Kampf gegen die HDP. Die Parteichefs Demirtas und Yüksekdag sowie elf Abgeordnete und rund 2000 Parteimitglieder wurden seither verhaftet.