Türkei: Hat die Demokratie noch eine Chance?

Seite 2: Das Scheitern des islamischen Liberalismus

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Es ist kein Zufall, wenn Erdogan wenige Tage vor dem Referendum ein Foto von sich in legerer Kleidung verbreiten lässt, das ihn zeigt, wie er seinem Enkel Koranunterricht erteilt. Die Message ist klar: So ein lieber, fürsorglicher Großvater kann nie und nimmer ein Diktator sein. Und um das Narrativ abzurunden, ließ er verkünden, die Aufnahme sei in der Putschnacht des 15. Juli 2016 entstanden. Das muss man ihm lassen: PR hat er drauf.

Der Sozialwissenschaftler Cihan Tugal aus Berkeley bringt in seinem unlängst auch auf Deutsch erschienenen Buch "Das Scheitern des türkischen Modells" eine weitere Lesart ins Spiel. Während er selbst davon ausgeht, dass Erdogan stets der Despot war, als der er heute vor der Weltöffentlichkeit steht, sieht er die Umwälzungen des Arabischen Frühlings als mitursächlich für den "Fall des islamischen Liberalismus" an. Denn dieser, so Tugal, sei ein Erfolgskonzept gewesen, das zum Exportschlager hätte werden können.

Tatsächlich wurde die AKP-Türkei der Nullerjahre oft als leuchtendes Vorbild für viele Länder des Nahen Ostens vorgeführt, mitunter mit der Ergänzung, das Land beweise, dass Islam und Demokratie kompatibel seien. Nur ging es darum nie. Sondern um die Frage, wie sich das rasante Wachstum, das aus einer Kombination von billigem ausländischen Geld und geschickter Vetternwirtschaft prosperierte, auch dann zu halten wäre, wenn sich die ökonomischen Vorzeichen verändern.

Erdogan wusste, dass er nicht ewig auf die EU-Hilfen würde setzen können, und die Finanzkrise von 2008 führte ihm vor Augen, dass der Zufluss in Dollar ebenfalls ein Verfallsdatum hatte. Also mussten neue Allianzen her. Zudem würde er mit wachsendem wirtschaftlichen Einfluss im Osten eine hegemoniale Rolle übernehmen können. Doch dieser Traum platzte ab 2011. Auch ein zweiter Anlauf, bei dem Allianzen mit der ägyptischen Muslimbruderschaft neue Märkte erschließen sollten, scheiterte bekanntermaßen. Und spätestens mit dem Gezi-Aufstand von 2013, so schließt Tugal, war das Modell auch innerhalb der Türkei endgültig gescheitert.

Da zeigte sich, dass ein beträchtlicher Teil der Bürger quer durch alle gesellschaftlichen Schichten eben nicht mehr bereit war, den Kurs der Regierung mitzutragen. Dass die junge gebildete Mittelschicht Eingriffe in ihre private Lebensplanung nicht weiter toleriert; und dass die Arbeiter längst nicht so ruhiggestellt waren, wie die AKP angenommen hatte. Die Tatsache, dass es in keinem anderen europäischen Land mehr tödliche Arbeitsunfälle gibt als in der Türkei, drängte spätestens mit dem Minenunglück von Soma ins Bewusstsein. Dabei starben im Mai 2014 mehr als 300 Bergleute. Viele solidarisierten sich mit ihnen und machten die Regierung für mangelnde Sicherheitsstandards verantwortlich. Als Erdogan auch diese Proteste mit harter Hand niederschlagen ließ, dürfte vielen seiner Stammwähler bewusst geworden sein, dass sie im Grunde kaum mehr als machtpolitische Verfügungsmasse sind.

Statt mit Zugeständnissen reagierte Erdogan mit Gewalt auf Gezi. Und als im selben Jahr Teile seiner Familie und seines engsten Kreises in den Ermittlungsfokus eines riesigen Korruptionsskandals gerieten, während ihm zugleich die Gülen-Bewegung endgültig die Unterstützung aufkündigte, muss er gewusst haben, dass seine Tage gezählt sind, wenn er nun klein beigibt. Also wich die Diplomatie der Repression. Sie war schlicht und ergreifend der einzige Ausweg, den Erdogan noch hatte, um sich weiter an der Macht zu halten. Selbst die feste Basis seiner Anhänger hätte ihn nicht mehr gerettet, wenn sich die unterschiedlichen oppositionellen Parteien und Gruppen organisiert und wenigstens vorübergehend ihre Differenzen beigelegt hätten.

Und trotzdem wackelte sein Stuhl im Sommer 2015 erneut, als die AKP bei den Parlamentswahlen abstürzte. Erdogan reagierte, indem er Neuwahlen erzwang und den repressiven Kurs weiter intensivierte. Das Ergebnis sind bis heute neue Eskalationsstufen im Wochentakt. "Erdogan betreibt eine Eskalationspolitik aus purem Machtanspruch und aus Verzweiflung", konstatierte auch der EU-Abgeordnete Elmar Brok (CDU) kurz vor dem Referendum, das Erdogan trotz massiver Manipulation vor und während der Abstimmung nur mit einem winzigen Vorsprung gewann.