Türkei: Kein Platz an der Sonne
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Das beliebte Urlaubsland der Deutschen und die menschenunwürdigen politischen Verhältnisse. Kommentar
Während sich die europäischen Länder langsam auf die Öffnung ihrer Grenzen vorbereiten, um ihren Bürgern und Bürgerinnen einen Urlaub im europäischen Ausland zu ermöglichen, ist eine Öffnung der Türkei für Urlauber aus Europa nicht wirklich in Sicht.
Das ist nicht nur der Corona-Pandemie geschuldet, sondern auch den politischen Verhältnissen. Indes die türkische Tourismusindustrie für 'Corona-sichere' Hotelanlagen an der Ägäis wirbt, führt Ankara das Land immer mehr in eine Diktatur. Touristen sollen sich nach Wunsch der Hoteliers einen Platz an der türkischen Sonne sichern. Aber im Hinterland tobt die Pandemie, die Opposition wird gnadenlos verfolgt und kriminalisiert und viele Minderheiten werden diskriminiert.
Noch gibt es eine Reisewarnung des Auswärtigen Amtes für die Türkei, in der ausdrücklich auf die Einschränkung der Meinungsfreiheit und die Gefahr von Inhaftierung bei harmlosen kritischen Posts oder auch nur Likes in den sozialen Medien gewarnt wird.
Es ist auch nicht geklärt, ob deutsche Urlauber nach ihrem Türkeiurlaub in Quarantäne müssen.
Die Türkei ist keine Demokratie
Die Bertelsmann Stiftung kommt in ihrem jüngsten Transformationsindex zum Ergebnis, das beliebte Urlaubsland der Deutschen sei aufgrund massiver Einschränkungen der Pressefreiheit, grober Missachtung von Bürgerrechten und Aushebelung der Gewaltenteilung eine Autokratie, also de facto eine Diktatur.
Nun, immerhin kommt diese Botschaft nach Jahren langsam auch in Deutschland an. Kritische Journalisten beobachten seit Jahren diese Entwicklung und raten der Bundesregierung zu konsequentem Handeln gegenüber dem Autokraten Erdogan. Außer zu verbalen Noten wie "Wir sind besorgt", konnte sich die Bundesregierung jedoch nicht durchringen. Stattdessen gibt es weiter Waffen und Finanzspritzen für die Türkei.
Wer trotz allem noch mit dem Gedanken spielt, den Sommerurlaub an der türkischen Küste zu verbringen, sollte sich vor einer Buchung informieren, was sich wenige Kilometer hinter den Touristenhochburgen abspielt. Zu empfehlen ist der regelmäßig in der FAZ erscheinende "Brief aus Istanbul" von Bülent Mumay. In seiner letzten Kolumne listet er eine Auswahl von Ereignissen der letzten zwei Wochen auf, die zeigen, dass in der Türkei von Demokratie keine Rede mehr sein kann.
Umgang mit der Corona-Pandemie
Während Erdogan der Bevölkerung Ausgangssperren und Maskenpflicht auferlegt, geht er selbst mit gutem Beispiel voran, so wie es sich für einen "Landesvater" gehört: Haber Turk berichtet von der Eröffnung eines japanischen Krankenhauses in der Türkei, bei der Erdogan im Gegensatz zu allen anderen keine Maske trug.
Die Zahl der Infizierten hatte von Freitag auf Samstag um 1.186 Infizierte zugenommen. Am Montagabend wurde gemeldet, dass die Neuinfektionen mit Covid-19 wieder unter 1000 gefallen sind. Gesundheitsminister Fahrettin Koca berichtete am 25.Mai von 4.369 Todesopfern und 157.814 bestätigten Fallen von Infizierten.
Eine kritische Auseinandersetzung mit den Maßnahmen der Regierung im Umgang mit der Pandemie ist ausdrücklich nicht erwünscht: In den letzten zwei Monaten wurden in der Türkei 510 Menschen wegen kritischer Corona-Posts in Polizeigewahrsam genommen. Mehr als 10.100 Social Media-Profile wurden wegen kritischer Inhalte überprüft und Ermittlungen gegen mehr als 1000 Menschen aufgenommen.
Stattdessen versuchen regierungsnahe Medien wie die Zeitung 'Star Gazete' mit Titelzeilen wie "Europäer beantragen Asyl in der Türkei, weil europäische Gesundheitssysteme zusammengebrochen sind", der Bevölkerung ein positives Bild zu zeichnen.
Im Hochsicherheitsgefängnis Silivri gibt es den ersten Covid-19-Todesfall in einer Haftanstalt. Die Staatsanwaltschaft von Bakirköy berichtete am vergangenen Freitag in einer Stellungnahme von weiteren 82 Insassen, die positiv auf das neuartige Coronavirus getestet wurden. Der Gefängniskomplex in Silivri gilt als größtes Gefängnis in Europa. Dort sind vor allem politische Gefangene wie der ehemalige HDP-Vorsitzende Selahattin Demirtas, der Bürgerrechtler Osman Kavala, Journalisten, kritische Anwälte und Regierungskritiker wegen "Terrorvorwürfen" inhaftiert.
Justizminister Abdulhamit Gül berichtete Ende April von 120 infizierten Häftlingen in vier Gefängnissen. Zivilgesellschaftliche Organisationen gehen davon aus, dass die Dunkelziffer um einiges höher liegt, da die Zellen überbelegt sind und nicht einmal Mittel für die einfachsten hygienischen Vorkehrungen gegen das Coronavirus zur Verfügung gestellt werden.
Militärische Ablenkungsmanöver von der Wirtschaftskrise
Dass die Türkei kurz vor dem wirtschaftlichen Kollaps steht, ist hinreichend bekannt und dokumentiert, da nützen die ständigen Senkungen des Leitzinses auch nichts mehr. Für den außenpolitischen Sprecher der SPD, Nils Schmidt, ist der neueste Versuch der türkischen Regierung, mittels Beschränkungen des Handels mit Türkischer Lira die Wirtschaft zu stabilisieren, "ein weiteres Zeichen für die inkompetente und intransparente türkische Finanzpolitik".
Die türkische Bevölkerung bekommt die negativen Auswirkungen immer mehr zu spüren und zunehmende Teile wenden sich von Erdogan und der Regierungspartei AKP ab. Da ist es hilfreich, an den 'Nationalstolz' der Türken mit Fahne und Soldatenuniform zu appellieren, zum Beispiel über Werbung für Babywindeln mit Babys als Soldaten.
Gut kommen auch militärische Provokationen u.a. gegenüber dem Erzfeind Griechenland an: Ende letzter Woche besetzten 35 türkische Soldaten eine griechische Insel im Grenzfluss Evros, türkische Kampfflugzeuge kreisten über den griechischen Inseln Lesbos, Chios und Limnos. Der griechische Verteidigungsminister Nikos Panagiotopoulos berichtete im Staatsfernsehen (ERT), sie hätten die Nato über den erneuten Zwischenfall informiert. Ankara hätte auf ihre Anfrage nach einer Stellungnahme nicht reagiert.
Seit Jahrzehnten streiten sich die Türkei und Griechenland über die Hoheitsrechte in der Ägäis. Immer wieder werden von den regierungsnahen türkischen Medien Karten des Osmanischen Reiches präsentiert, dessen Teil Griechenland einst war. Erdogan und die Nationalisten leiten daraus die türkischen Gebietsansprüche in Griechenland, Syrien, Irak und die Anbindung des Balkan an die Türkei statt an die EU ab.
Innerhalb der Türkei geht der Krieg gegen die oppositionelle, demokratische Partei HDP und linke Kulturschaffende unvermindert weiter.
Kritik an der AKP-Regierung gilt als ein Verbrechen
Die HDP hatte am 31. März 2019 trotz massiver Wahlbehinderungen in 65 Gemeinden und Städten die Kommunalwahl gewonnen und stellte dort die Bürgermeister bzw. die Bürgermeisterinnen. Sechs auf den Wahllisten zugelassenen und gewählten Kandidaten wurde die Amtseinführung durch die AKP-Regierung verweigert.
44 HDP-Bürgermeister und Bürgermeisterinnen wurden bisher mit fadenscheinigen Anschuldigungen und ohne gerichtsfeste Beweise abgesetzt und inhaftiert. Die 15 verbliebenen Bürgermeister wird vermutlich in nächster Zeit das gleiche Schicksal ereilen.
In Ankara wurden letzte Woche mehrere HDP-Vorstandsmitglieder verhaftet, weil sie eine Pressekonferenz gegen die Einsetzung der AKP-Zwangsverwalter in von ihnen bei den Kommunalwahlen gewonnenen Gemeinden abhalten wollten. Dabei wurde der HDP-Vorsitzende von Ankara, Vezir Coşkun Parlak, blutig geschlagen und inhaftiert.
Mitte Mai wurden im Osten der Türkei die Bürgermeister von Siirt, Iğdır, Kurtalan Baykan und Altınova in der Provinz Muş abgesetzt und durch Zwangsverwalter ersetzt. In Siirt war die erste Amtshandlung des Zwangsverwalters die Entlassung von 10 städtischen Mitarbeitern - trotz eines temporären Kündigungsschutzes, der im April im Rahmen der Corona-Pandemiegesetze verabschiedet wurde.
In Van gewannen 250 entlassene Mitarbeiter der Stadtverwaltung vor Gericht und forderten ihre Wiederanstellung. Der schon 2016 eingesetzte Zwangsverwalter Mustafa Yalçın entließ damals "mit Freude" Hunderte städtische Mitarbeiter:
Ja, die (Arbeitsverträge, Anm. d. Verf.) werden alle annulliert. Es waren 653 Personen, die wir mit meiner Unterschrift entlassen haben. Ebenso viele wurden über Notstandsdekrete entlassen. Aber ich möchte eines feststellen: Es war mir eine große Freude, das zu tun, ich hatte wirklich Spaß daran.
Mustafa Yalçın
Angesichts zweier Gerichtsbeschlüsse, wonach Entlassungen nicht rechtmäßig seien, ordnete Innenminister Süleyman Soylu höchstpersönlich an, die Gerichtsbeschlüsse zu ignorieren.
Zur Bedeutungslosigkeit der Judikative, der grenzenlosen Macht der Exekutive und den Zwangsverwaltungen erklärte der renommierte Jurist Turgut Kazan, die Zwangsverwaltungen hätten nichts mit einem demokratischen Rechtsstaat gemein, nicht einmal nach dem Militärputsch von 1980 seien solche Regelungen umgesetzt worden.
Was jetzt geschieht, hat nichts mit Demokratie oder Rechtsstaatlichkeit zu tun. Ohne Einbeziehung der Justiz werden die Wahlergebnisse annulliert. Der Wählerwille wird ausgeschaltet und ein undemokratischer Prozess eingeleitet.
Turgut Kazan