Türkei: Kein Platz an der Sonne

Seite 2: Bella Ciao, Group Yorum

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Am 8. Mai starb Ibrahim Gökçek, der Bassist der beliebten türkischen Folk-Band Group Yorum, an den Folgen seines Hungerstreiks gegen das 2016 verhängte Auftrittsverbot und gegen die Inhaftierung mehrerer Bandmitglieder.

Kurz davor war Helin Bölek, die Sängerin der Band, nach 288 Tagen Hungerstreik gestorben. Die 1985 in Istanbul gegründete Folk-Band war für ihre regierungskritischen Texte bekannt und hatte weltweit Millionen von Fans.

In Izmir gelang es letzte Woche einer Hacker-Gruppe, im Andenken an die verstorbenen Bandmitglieder deren Version des italienischen Partisanenlieds 'Bella Ciao' über die Minarett-Lautsprecher an mehreren Moscheen in Izmir abzuspielen. Was bei uns wahrscheinlich zum Schmunzeln geführt hätte, würden solche Töne aus den Kirchtürmen erklingen, ist in der Türkei "Terrorunterstützung".

Schon ermitteln die Behörden gegen diejenigen, die diese Szenen mitgeschnitten und über die Sozialen Netzwerke verbreitet haben Aber auch Social Media Nutzer, die die Videos 'geliked' haben, werden kriminalisiert: Die ehemalige stellvertretende Vorsitzende der kemalistischen Partei CHP in Izmir teilte ein Video kommentarlos auf Twitter. Sie wurde festgenommen und in Untersuchungshaft gebracht.

Generalstaatsanwaltschaft lässt Leichen von PKK-Kämpfern unter Gehweg begraben

Als "unvereinbar mit der Menschenwürde" und als Verstoß gegen jegliche Bestattungsbestimmungen bezeichnete die Juristenvereinigung ÖHD (Özgürlük için Hukukçular Derneği) die jüngsten Enthüllungen der Nachrichtenagentur Mezopotamya (MA): Auf dem Friedhof von Kilyos in der Nähe von Istanbul wurden unter einem Gehweg in Plastikboxen die Überreste von 267 Mitgliedern der Arbeiterpartei PKK gefunden.

Sie stammen ursprünglich vom Friedhof Garzan in Bitlis/Südosttürkei Der Friedhof wurde 2017 von der türkischen Armee zerstört und die Leichen ohne Wissen der Hinterbliebenen exhumiert und konfisziert. Danach wurde der Friedhof dem Erdboden gleichgemacht. Nun liegen die Überreste hunderte Kilometer entfernt bei Istanbul drei Meter unter der Erde in Plastikboxen, versehen mit roten Nummern, aufeinandergestapelt - in manchen Boxen sind die Knochen mehrerer Toter verstaut. Seit Jahren verlangen die Hinterbliebenen die Herausgabe der Leichen - ohne Erfolg.

Angeordnet wurde die Exhumierung und der Abtransport der Leichen von der Istanbuler Generalstaatsanwaltschaft, die Gerichtsmedizin gab die Leichen zur Bestattung auf dem Friedhof Kilyos frei, die Friedhofsverwaltung gestattete die unwürdige Verscharrung der Boxen unter einem Gehweg.

Diese Demütigung der hinterbliebenen Familien ist nur ein Beispiel für die seit Jahrzehnten andauernden Schikanen, die die kurdische Bevölkerung in diesem innertürkischen bewaffneten Konflikt zwischen dem türkischen Militär und der PKK erleiden muss. (Anm. d. Verf.: Im Januar 2020 urteilte der Brüsseler Kassationshof letztinstanzlich, dass die PKK keine Terrororganisation sei, sondern eine Partei in einem innertürkischen, bewaffneten Konflikt.)

Seit Jahrzehnten hat dieser militärisch nicht zu gewinnende Krieg Zigtausende Tote unter Zivilisten, Soldaten und Guerillakämpfern gekostet. Jeder Tote auf allen Seiten ist einer zu viel. Es kann nicht oft genug gesagt werden: Dieser Konflikt kann nur durch Verhandlungen und die Einsicht der türkischen Regierung, dass die Türkei ein Vielvölkerstaat ist, deren Minderheiten mit Rechten geschützt werden müssen, gelöst werden.

Es sei zu guter Letzt jedem potentiellen Türkei-Urlauber empfohlen, sich über die Situation in der Türkei genau zu informieren und zu überdenken, ob man mit gutem Gewissen an türkischen Stränden in der Sonne schmoren kann, wenn wenige Kilometer entfernt nahezu täglich Menschenrechtsverletzungen begangen werden. Denn diese finden nicht nur in den kurdischen Siedlungsgebieten statt, sondern überall in der Türkei.