Türkei: Lost in der Ukraine-Krise?
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Auch Erdogan ist in einer neuen Welt aufgewacht: Er sitzt jetzt am Katzentisch
Die Welt schaut schockiert auf den russischen Angriffskrieg in der Ukraine. Als Russland in der Nacht zum 24.2.2022 völkerrechtswidrig in die Ukraine einmarschierte, hieß es von der deutschen Außenministerin Annalena Baerbock: "Wir sind heute in einer anderen Welt aufgewacht."
Die EU verhängte harte Sanktionen gegen Russland, unter anderem den Ausschluss großer russischer Banken vom Swift- Abkommen. Die östlichen EU-Länder, aber auch Deutschland, stellen sich auf größere Flüchtlingsströme aus der Ukraine ein. Die internationalen Medien berichteten über das Leid der Bevölkerung, die schon seit Tagen auf gepackten Koffern saß und nun massenhaft die Flucht ergriff. Die Kriegsberichterstattung der staatstreuen russischen Medien wurde als das bezeichnet, was es ist: Propaganda.
Dieser Krieg in Europa wird weltweite Auswirkungen haben. Auch der Nahe Osten wird nicht verschont bleiben.
Manch ein völkerrechtswidriger Einmarsch ist nicht so schlimm
Während die Diplomatie mit dem Ukraine-Krieg beschäftigt ist, könnten sich andere Despoten ermutigt fühlen, ebenfalls völkerrechtswidrig in Nachbarländer einzumarschieren. Ein Kandidat dafür ist Erdogans Türkei, die dies bereits mehrmals in Nordsyrien praktizierte.
Als das Nato-Land Türkei am 20. Januar 2018 völkerrechtswidrig den nordwestsyrischen Kanton Afrin besetzte, übernahmen die meisten internationalen Medien – im Gegensatz zur heutigen russischen Propaganda bezüglich der Ukraine - unreflektiert die türkische Propaganda. Eine Berichterstattung über das Leid der Bevölkerung durch die Bombardierungen der Türkei, die Russland durch die Öffnung des syrischen Luftraums über Afrin möglich gemacht hatte, fand damals nicht statt: Vonseiten der USA, der EU und Deutschlands gab es nur lautes Schweigen.
Als die Türkei im Herbst 2019 erneut völkerrechtswidrig in Nordsyrien einmarschierte und die Gebiete um Serekaniye und Gire Spi besetzte, schwiegen die westlichen Regierungen erneut oder waren lediglich "beunruhigt" oder "besorgt", obwohl in einem UN-Bericht massive Menschenrechtsverletzungen nachgewiesen wurden. Gegen den Nato-Staat Türkei gab es keinerlei Sanktionen wegen eines Verstoßes gegen das Völkerrecht.
Heute ist es im Schatten des Ukraine-Kriegs nicht unwahrscheinlich, dass Erdogan die Gunst der Stunde nutzt, um erneut in Nordsyrien einzumarschieren. Ähnliche Sanktionen, wie sie seit ein paar Tagen Russland treffen, hat er ja nicht zu befürchten.
Es ist Februar 2022 und nicht nur in der Ukraine, sondern auch in Nordsyrien und im Nordirak sitzen wieder viele Menschen auf gepackten Koffern und suchen nach einem Fluchtweg nach Europa. Die andauernden türkischen Drohnen- und Artillerieangriffe zermürben vor allem in Nordsyrien die Zivilbevölkerung. Sie verstehen nicht, warum die dort stationierten amerikanischen und russischen Einheiten der Türkei nicht Einhalt gebieten.
Ein Video von North Press Agency berichtet von den Folgen der Angriffe auf das Dorf Ain Diwar im äußersten Nordosten Syriens und wie die Bevölkerung fassungslos und hilflos vor den Trümmern ihrer Häuser steht. Und sie haben Angst, dass Erdogan die auf Russland und die Ukraine gebündelte Medienaufmerksamkeit ausnutzt, um neue Fakten zu schaffen.
Da er angesichts der Wirtschaftskrise rapide an Wählergunst verliert, muss er wieder Erfolge aufweisen, die in der Bevölkerung ankommen. Da hat es bisher immer gut funktioniert, die nationalistische Karte zu zücken und die Landnahme in Syrien mit dem Kampf gegen den Terrorismus zu begründen. Das versteht die gemeine Bevölkerung.
Allerdings könnte der Ukraine-Krieg auch die Türkei in Mitleidenschaft ziehen.
Selenskyj und Putin – zwei ungleiche Freunde Erdogans
Als Putin im Frühjahr 2018 mit acht Ministern für zwei Tage in die Türkei reiste, sprach der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan von seinem "werten Freund Wladimir Putin". Beide besiegelten den Vertrag zum Bau des umstrittenen ersten türkischen Atomkraftwerkes Akkuyu und den Kauf des Raketen-Abwehrsystems S-400.
Für Russland ist die Türkei wiederum ein willkommener Spielball im geopolitischen Spiel. Die Besetzung und de-facto-Annexion Afrins durch die Türkei in Nordwestsyrien war für Russland ein willkommenes Instrument beim Bestreben, Assad wieder in Nordsyrien ins Spiel zu bringen. Die Öffnung des Luftraums für türkische Kampfbomber sollte die Selbstverwaltung dazu zwingen, sich unter russischen bzw. Regimeschutz zu stellen, was diese aber ablehnte.
Seither interessieren türkische Menschenrechtsverletzungen, Folter oder völkerrechtswidrige Angriffe in Nordsyrien oder im Nordirak den russischen Autokraten Putin ebenso wenig, wie es die westliche Welt interessiert. Schließlich agiert Russland im Falle von Dissidenten und Oppositionellen ähnlich wie die Türkei mit Entführungen, Liquidierungen oder Entführungen im Ausland.
Beim Stichwort "Entführungen" kommen wir zu Erdogans nächstem Freund, dem ukrainischen Präsidenten Selensky. Am 5. Februar berichtete die Deutsche Welle von einem Entführungsfall, bei dem die ukrainische Regierung der Türkei Unterstützung geleistet haben soll: Nuri Bozkir, ein ehemaliger Elitesoldat der türkischen Armee, hatte für die Türkei geheime Waffenlieferungen in syrische Kriegsgebiete organisiert.
Bozkir wollte, wie auch 2015 der im deutschen Exil lebende Journalist Can Dündar oder der Mafia-Pate Peker im Juni 2021, über verdeckte türkische Waffenlieferungen in Kriegsgebiete auspacken. Der Waffenhändler war Teil eines geheimen Netzwerkes, das Waffen nach Syrien und Libyen lieferte und an denen die türkische Regierung nach Aussagen der DW kräftig mitverdiente. Als er begann, über das ukrainische Nachrichtenportal Strana brisante Informationen zu veröffentlichen, wurde er zu einer Gefahr für Erdogan.
Womöglich wären die Verstöße des Nato-Mitglieds Türkei gegen internationale Abmachungen publik geworden. Im Januar 2022 wurde Bozkir vom türkischen Geheimdienst MIT, vermutlich mit Hilfe der ukrainischen Regierung, aus der Ukraine verschleppt. "Unser Geheimdienst hatte herausgefunden, dass diese Person sich in der Ukraine versteckt hielt. Wir haben mit Präsident Selenskyj darüber gesprochen, dass die Person gefasst und zurück in die Türkei gebracht werden soll...Unser Geheimdienst und die gute Zusammenarbeit mit unseren Partnern haben diese Verhaftung erst möglich gemacht", berichtete Erdogan der Presse.
Bozkir hatte zuvor berichtet, wie er im Auftrag der Türkei in verschiedenen osteuropäischen Ländern Waffen im Wert von mehreren hundert Millionen Dollar kaufte. Der türkische Geheimdienst soll diese dann in 50 Transporten an syrische Dschihadisten geliefert haben. Dass Bozkir zum Whistleblower wurde, lag nicht an etwaiger Einsicht oder Reue des Waffenhändlers. Vielmehr war eine Waffenlieferung auf eigene Rechnung nach Syrien aufgeflogen. Bozkir floh daraufhin 2019 in die Ukraine, beantragte politisches Asyl und begann mit der Veröffentlichung von brisanten Dokumenten.
Die türkische Regierung veranlasste daraufhin einen Fahndungsaufruf über Interpol und forderte seine Auslieferung. Dies begründete sie mit der Ermordung eines türkischen Akademikers, an der Bozkir beteiligt gewesen sein soll. Sein ukrainischer Anwalt hält die Vorwürfe jedoch für konstruiert, da es keine direkten Beweise gäbe. Inwieweit ukrainische Behörden an der Verschleppung beteiligt waren, ist unklar.
Anwalt Denysiuk scheint jedoch von einer Mitwirkung überzeugt: "Was die ukrainischen Sicherheitsdienste getan haben, ist nach ukrainischem Gesetz illegal...Sie haben ihre Befugnisse überschritten, dafür können sie strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden."
Illegale Verschleppungen von Oppositionellen durch den türkischen Geheimdienst sind in über 100 Fällen aus den Ländern Malaysia, Pakistan, Kasachstan, dem Kosovo, Moldawien, Aserbaidschan, Gabun und Myanmar bekannt. Im Gegensatz zu den diversen Anschlägen Russlands gegen Dissidenten, muss Erdogan bei derartigen Operationen keine Konsequenzen befürchten.
Anfang Februar besuchte der türkische Präsident den ukrainischen Präsident Wolodymyr Selenskyj, die sich ebenfalls Freunde nennen, und hatte die Zusage für weitere Kampfdrohnen-Lieferungen im Gepäck. Ihre Freundschaft war bereits im April 2021 mit der Lieferung von türkischen Kampfdrohnen des Typs Bayraktar TB-2 besiegelt worden.
"Diese unbemannten Kampfmaschinen hat die Türkei bereits in Syrien und Libyen eingesetzt und zuletzt an die Aserbaidschaner in Bergkarabach geliefert. Die türkischen Drohnen haben diese Kriege mit entschieden", schrieb damals die Zeit. Gegen Russland könnten die Killerdrohnen von der Ukraine wirkungsvoll eingesetzt werden, wird sich Selenskyj vor einem Jahr gedacht haben. Erdogan und Selenskyj vereinbarten denn auch die gemeinsame Entwicklung einer noch größeren Kampfdrohne. Dabei sollte die Türkei das Fluggerät und die Ukraine den Motor entwickeln, da die Türkei Probleme mit dem Bau leistungsfähiger Motoren hat.
Die Ukraine sollte auch einen neuen türkischen Marschflugkörper mit einem Antrieb ausstatten sowie den Motor für den türkischen Kampfpanzer Altay bauen. Deutsche Firmen waren nämlich nach dem gescheiterten Putsch 2016 und den anschließenden Massenverhaftungen von Oppositionellen in der Türkei aus dem Panzerprojekt ausgestiegen.
Aus welchen Gründen auch immer scheint es den ukrainischen Präsidenten nicht zu interessieren, dass Erdogan diese Waffen im Südosten der Türkei gegen die eigene Bevölkerung und in Nordsyrien gegen die demokratische Selbstverwaltung einsetzt.
Selenskyj und Erdogan verbindet vor allem Sorge um gemeinsame strategische Interessen im Schwarzen Meer. Die russische Annexion der Krim stellt nicht nur für die Ukraine, sondern auch für die Türkei eine Bedrohung dar, denn damit hat Russland seine Küstenlinie mehr als verdoppelt.
Da die Südspitze der Krim in der Mitte des Binnenmeeres liegt, kann die russische Marine ganze Teile des Schwarzen Meeres für die internationale Schifffahrt absperren. Schwer zu verstehen, wie man einen kaltblütigen, berechnenden Autokraten wie Putin als "Freund" bezeichnet, wenn man sich gleichzeitig von ihm bedroht fühlt.