Türkei: Lost in der Ukraine-Krise?
Seite 2: Türkei am Katzentisch
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Andererseits kann die Türkei nach dem Meerengen-Abkommen von 1936 im Kriegsfall wie jetzt aktuell den Bosporus und die Dardanellen für ausländische Kriegsschiffe - auch für solche aus Russland - sperren. Erdogan, der sonst für sein ausfälliges, polterndes Auftreten bekannt ist, verhält sich seit Beginn des Ukraine-Krieges auffällig leise.
Einerseits erklärt er, sein Land stehe solidarisch an der Seite der Ukraine, andererseits ist ihm bewusst, dass sein Land von russischem Erdgas, von russischer Nukleartechnologie beim Bau des Atomkraftwerks Akkuyu und vom russischen Tourismus abhängig ist.
Auch seine völkerrechtswidrige Politik in Nordsyrien hängt zum großen Teil vom Wohlwollen Putins ab. Putin wird sich das Verhalten der Türkei genau anschauen. Letztendlich wird Erdogan heute auf seine Rolle als Maus gegen den Elefanten Putin zurückgestutzt.
Der selbsternannte Aufsteiger in die Liga der Großmächte und führende Person der islamischen Welt muss am Katzentisch Platz nehmen. Der Traum, eine eigene Agenda mit Russland, der USA und der EU zu spielen, scheint vorerst vorbei zu sein. Am 24.2.2022 ist auch die Türkei in einer neuen Welt aufgewacht.
Wirtschaftliche Probleme
Große wirtschaftliche Probleme wird der Türkei Russlands Ausschluss vom Swift- Zahlungsverkehr-Abkommen bereiten. Es wird vor allem wieder einen Einbruch in der Tourismusbranche geben, wenn die russischen Touristen ausbleiben und wenn türkische Firmen keine Geschäfte mit Russland mehr machen können.
Rational wäre es, sich jetzt auf die Konsolidierung der türkischen Wirtschaft zu konzentrieren und von weiteren teuren Scharmützeln in Nordsyrien und dem Nordirak abzusehen. Der Bevölkerung in der Türkei geht es schlecht, die Regierung trägt die Verantwortung dafür.
Wir dürfen gespannt sein, wie sich dieser Krieg in der Türkei und anderen Regionen des Nahen Ostens auswirkt.
Geflüchtete 1. und 2. Klasse
Während es in Deutschland und Polen eine große Solidaritätswelle für die ukrainischen Geflüchteten gibt und große Spendenaktionen gestartet werden, werden die Flüchtlinge an der belarussisch-polnischen Grenze vergessen. Dort harren seit Monaten ebenfalls Frauen und Kinder in Eiseskälte in den Wäldern aus. Polnische Soldaten verweigern ihnen die Einreise. Im Januar meldete die Organisation Ärzte ohne Grenzen (MSF) schon 21 Kältetote.
Polnische Behörden verweigerten MSF den Zutritt in die Grenzregion, um die Geflüchteten medizinisch zu versorgen. MSF wies auf zahlreiche Berichte über Gewalt gegenüber den Geflüchteten hin, von Diebstahl und Zerstörung des Eigentums und Einschüchterungen bis hin zu körperlichen Übergriffen. Die meisten Geflüchteten kamen aus dem Nahen Osten, darunter viele Eziden aus dem Nordirak, die vor Erdogans Bombardierungen im Shengal-Gebiet, ihrem angestammten Siedlungsgebiet, flüchteten.
2014 wurde die religiöse Minderheit Opfer eines Völkermords durch den sogen. Islamischen Staat. Seitdem leben viele Eziden noch immer unter ärmlichsten Verhältnissen in Flüchtlingscamps und sind in der Region den türkischen Drohnenangriffen schutzlos ausgeliefert, weil sich weder die Türkei – treue, konservative kurdische Regierung des Nordiraks noch die irakische Regierung mit den Eziden über einen Status zur Verwaltung dieser Region mit den seit 2014 entstandenen Selbstverwaltungsstrukturen einigen können.
Seit 2015 weigert sich die polnische Regierung, Geflüchtete aus dem Nahen Osten aufzunehmen, als massenhaft Flüchtlinge aus Syrien und dem Irak nach Europa kamen. Appelle des Europarats oder der ehemaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel wurden ignoriert.
Daher ist es sehr zu begrüßen, dass nun Polen seine Grenze für ukrainische Geflüchtete öffnet. Zu kritisieren ist allerdings, dass Geflüchtete aus der Ukraine ohne ukrainischen Pass oftmals an der Einreise gehindert werden.
Die Begründung: fehlende Visa. Dabei handelt es sich meist um Staatsangehörige aus afrikanischen und asiatischen Staaten, die sich z.B. zu Studienzwecken in der Ukraine aufhielten. Wie soll man sich im Krieg bitte ein Visum für Polen verschaffen?
Dies zeigt einmal mehr, wie ungleich Menschen behandelt werden, die aus gleichen Motiven vor Krieg und Menschenrechtsverletzungen Zuflucht in Europa suchen. Wenn der Westen beim völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine mit Sanktionen reagiert, aber bei anderen völkerrechtswidrigen Angriffen aus geopolitischen Gründen schweigt, macht er sich unglaubwürdig und erscheint zynisch.
Die Politik sollte sich fragen: Gibt es zweierlei Völkerrecht und zweierlei Menschenrecht? Gibt es Geflüchtete 1. und 2. Klasse?