Türkei: Militärputsch offiziell beendet

Seite 2: Was in der Nacht geschah

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Gegen 22h am Freitagabend gab es erste Hinweise auf einen Militärputsch in der Türkei. Zunächst wurde spekuliert, ob es sich eventuell um einen Putsch innerhalb des Militärs handele. Als eine der ersten deutschsprachigen Zeitungen berichtete Bild.

Es hieß, die Brücken über den Bosporus seien gesperrt. Es folgte die Information, dass über Ankara Militärjets kreisen und von einem Hubschrauber aus auf ein Stadtviertel geschossen werde. Nach und nach berichteten verschiedene Medien. Allerdings sehr unkonkret. Um kurz vor 23h bestätigte die ARD-Tagesthemen den Militärputsch. Aber auch der aus Istanbul zugeschaltete Korrespondent konnte keine genauen Angaben machen.

Aber damit war der Putsch gewissermaßen amtlich. Von da an überschlugen sich die Nachrichten. Deutsch-, türkisch- und englischsprachige Medien berichteten zeitgleich - leider zum Teil sehr unterschiedliche Informationen zu demselben Ereignis. Verschiedene Medien richteten Liveticker ein. In den sozialen Medien fand sich diese Berichterstattung wieder, z.T. gespickt mit Berichten von Bekannten und Verwandten direkt aus der Türkei.

Ministerpräsident Binali Yildirim sprach von einem Putschversuch eines Teils des Militärs. Die Sicherheitskräfte täten alles Notwendige, um die Situation zu entschärfen. Die Regierung sei weiter im Amt. Die Putschisten würden keinen Erfolg haben. Erdoğan befand sich zu dem Zeitpunkt seit knapp einer Woche im Urlaub. Sein Büro ließ vermelden, er sei in Sicherheit.

Dann hieß es, auch der Flughäfen in Istanbul sei gesperrt, Panzer seien davor aufgefahren. Das Militär entwaffne Polizeibeamte, die auf Seiten der Regierungspartei AKP stehen. Im ganzen Land gebe es Ausschreitungen zwischen dem Militär und der Polizei. Militär-Kampfhubschrauber hätten die Geheimdienstzentrale angegriffen. In allen großen Städten an zentralen Plätzen seien Panzer und Soldaten postiert.

Der staatliche türkische TV-Sender TRT wurde von Soldaten besetzt, die Moderatorin gezwungen, eine Erklärung der Putschisten zu verlesen. Diese erklärten darin, die Streitkräfte hätten die Kontrolle über die gesamte Türkei übernommen.

In sozialen Netzwerken wurde berichtet, Verwandte und Bekannte versuchten sich für die nächsten Tage mit Lebensmitteln einzudecken, Geld an Automaten abzuheben und nach Möglichkeit Flüge ins Ausland zu buchen. Aus Angst vor Verhaftungen. Die Erfahrung zeigt, dass in Folge eines Putsches als erstes Linke inhaftiert werden. Die Ausreise scheiterte indes daran, dass inzwischen alle Flughäfen gesperrt seien.

Während der staatliche Sender TRT besetzt war, konnten die privaten Medien weiter senden. Hektisch wurden alle möglichen Leute interviewt. U.a. auch Erdoğan, der seine Landsleute aufforderte, auf die Straße zu gehen und sich den Putschisten in den Weg zu stellen. Sowie der ehemalige Ministerpräsident Abdullah Gül. Der sich gegen einen Putsch aussprach.

Es hieß, in der Türkei seien sowohl Facebook als auch Twitter abgeschaltet. Dafür spricht, dass alle meine persönlichen Bekannten aus der Türkei und Kurdistan, Kriegsdienstverweigerer, Journalisten und Politiker nicht online waren. Schwer vorstellbar, dass z.B. die Initiative der KriegsdienstverweigererInnen in der Türkei sich zu einem Militärputsch nicht zu Wort meldet. Andere schrieben wiederum, sie seien gerade in Istanbul. Zwar nicht am Ort des Geschehens, aber in Istanbul.

Eine Flut von Informationen

Da deutete sich schon an, was die Nacht fortan prägen würde: eine Flut von Informationen, zeitgleich und nicht selten gegensätzlich. Die einen posteten, es werde keine Gewalt gegen die Zivilbevölkerung angewendet, andere sprachen von Toten in den Straßen von Ankara. Die einen schrieben, auch Medien, Erdoğan sei auf der Flucht. Einige glaubten gar zu wissen, dass er ausgerechnet auf dem Weg nach Deutschland sei, um Asyl zu beantragen.

So ging das die ganze Zeit bis in die frühen Morgenstunden. Und noch immer gibt es Meldungen, die zu verifizieren schwierig ist. Heute Vormittag wurde gepostet, dass Militärs eine Fregatte gekapert und die alte Mannschaft festgesetzt hätten. Und dass ein Hubschrauber mit 8 Militärs in Griechenland gelandet sei, die dort Asyl beantragen wollten.

Im Parlamentsgebäude, so hieß es bei CNN-Türk, feiere die AKP den Sieg über den Putsch. Während eines Handy-Interviews mit einer Abgeordneten im Parlamentsgebäude waren Schüsse und eine Explosion zu hören. Das war bereits die zweite Detonation. Später war von Verletzten die Rede. Und davon, dass im Parlament Abgeordnete aller Parteien zusammengekommen seien, und sich alle Parteien gegen den Putsch ausgesprochen hätten. Auch der Arbeitgeberverband TÜSIAD sprach sich in der Nacht gegen den Putsch aus.

CNN-Türk wurde dann zeitweilig von Soldaten okkupiert. Diese Besetzung dauerte ca. 45 Minuten. Eine Kamera lief die ganze Zeit, das leere Studio war zu sehen. Allerdings war die konkrete Räumung nicht zu sehen. Nur danach das leere Studio. Und zwar live. Und ein Mikro lief, offensichtlich draußen. Laute Männerstimmen waren zu hören, dazwischen Frauenstimmen. Männer fingen an zu brüllen, die Frauenstimmen wurden schriller. Dann kippte die Stimmung hörbar. Es klang nach Gejohle. Und dann wurde der Sendebetrieb wieder aufgenommen. Pünktlich zur Pressekonferenz von Erdoğan war der Sender wieder on air.

Erdoğan tauchte dann mitten in der Nacht auf dem angeblich belagerten Flughafen in Istanbul auf. Dort hielt er eine Pressekonferenz, auf der er wiederum Gülen der Urheberschaft des Putschversuchs bezichtigte und dazu aufrief, überall im Land möchten die Muezzin jede Stunde ein Gebet verkünden.

Der Mob tobte sich an den Soldaten auf der Bosporus-Brücke aus.

Auf verschiedenen Kanälen wurden immer wieder Menschenmengen gezeigt. Die meisten davon vermutlich AKP-Anhänger, die dem Aufruf Erdoğans gefolgt waren. Ein Panzer war zu sehen, auf den Zivilisten geklettert waren.

Auf der Bosporusbrücke soll ein Soldat nach IS-Manier von der aufgebrachten Menge geköpft worden seien. Angeblich gibt es Fotos davon. Andere sollen über die Brücke in die Tiefe gestürzt worden seien. In den sozialen Medien wurden heute Fotos verbreitet, auf denen zusehen war, wie aufgebrachte Demonstranten am Putsch beteiligte Soldaten mit einem Hosengürtel züchtigten. Außerdem wurden Aufnahmen gepostet, auf denen zusehen war, wie AKP- Anhänger bereits mitten in der Nacht Schildtafeln mit Siegessprüchen anbrachten.