Türkei: Militärputsch offiziell beendet

Obwohl die türkische Regierung Tausende von Verdächtigen präsentiert, bleiben viele Fragen offen

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In einer öffentlichen Ansprache erklärte Ministerpräsident Binalı Yıldırım am Samstagmittag in Ankara den Putschversuch für gescheitert. Die Regierung habe die Lage wieder unter Kontrolle. Trotz dieser klaren Ansage gibt es keine Antworten auf die drängendsten Fragen, z.B. nach den Urhebern des Putsches, nach den Ursachen desselben, wie es möglich sein konnte, den Putsch so schnell zu beenden, wieso die Regierungspartei AKP (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung) so gut vorbereitet schien, und schon gar nicht nach den Folgen dieser blutigen Nacht. Nicht einmal die Frage, ob es überhaupt jemals Antworten auf all diese Fragen geben wird, kann derzeit mit Sicherheit beantwortet werden.

Also bleiben die Fragezeichen im Kopf, die auch die Medien nicht auflösen können, die Eindrücke einer atemberaubenden Nacht - und der Konjunktiv. Vieles scheint möglich, nur sichere Gewissheit haben wir nicht. Alle Erklärungsversuche beruhen auf Vermutungen und Spekulationen. Sicher ist zur Stunde nur eins: Viel Blut ist geflossen, viele Köpfe werden rollen, aber geschadet hat der Putschversuch Präsident Recep Tayyip Erdoğan nicht.

Der Mob tobte sich an den Soldaten auf der Bosporus-Brücke aus

Erdoğan und wie er die Welt sieht

Schon in der Nacht präsentierte Erdoğan sich als der große Feuerlöscher - der allerdings nie in die Nähe des Feuers gekommen ist. Der Sultan hat sein Tayyipistan (Deniz Yücel, Welt) fest im Griff. Nach dessen Lesart haben Teile der Streitkräfte einen Putschversuch gestartet - angestiftet von seinem politischen Widersacher Fethullah Gülen, der seit 1999, nach dem Bruch mit Erdoğan, in den USA lebt. Der putschende Teil sei aber nur eine Minderheit gewesen. Diesem Umstand und der unermesslichen Weisheit und Besonnenheit des Sultans und seiner Gefolgschaft sei es zu verdanken, dass der Putsch binnen weniger Stunden niedergeschlagen werden konnte.

Die kurzzeitig entmachtete Armeeführung ist wieder in Amt und Würden, knapp 1.600 Militärangehörige wurden inzwischen verhaftet sowie ca. 3.000 Richter, u.a. der obersten Gerichte der Türkei, aus dem Dienst entlassen.

Die am Putsch beteiligten Angehörigen der Streitkräfte müssten entsprechend hart bestraft werden, erklärte Yıldırım. Weshalb über die Wiedereinführung der Todesstrafe nachgedacht werden müsse. Diese war im August 2002 vom türkischen Parlament aufgrund des internationalen Drucks nach der Verhaftung des PKK-Führers Abdullah Öcalan am 15. Februar 1999 und wegen der Aufnahmekriterien der EU abgeschafft worden. Seitdem werden Todesurteile aufgrund terroristischer Straftaten in lebenslange Haftstrafen umgewandelt. Wie u.a. im Falle Öcalan, der seitdem auf der Gefängnisinsel Imralı inhaftiert ist. Allerdings gilt der Beschluss des Parlaments "in Friedenszeiten". Und es ist vermutlich keine große Kunst, einem Putschversuch friedliche Absichten abzusprechen. Doch da sind wir wieder beim Konjunktiv und im Reich der Spekulationen.

Was in der Nacht geschah

Gegen 22h am Freitagabend gab es erste Hinweise auf einen Militärputsch in der Türkei. Zunächst wurde spekuliert, ob es sich eventuell um einen Putsch innerhalb des Militärs handele. Als eine der ersten deutschsprachigen Zeitungen berichtete Bild.

Es hieß, die Brücken über den Bosporus seien gesperrt. Es folgte die Information, dass über Ankara Militärjets kreisen und von einem Hubschrauber aus auf ein Stadtviertel geschossen werde. Nach und nach berichteten verschiedene Medien. Allerdings sehr unkonkret. Um kurz vor 23h bestätigte die ARD-Tagesthemen den Militärputsch. Aber auch der aus Istanbul zugeschaltete Korrespondent konnte keine genauen Angaben machen.

Aber damit war der Putsch gewissermaßen amtlich. Von da an überschlugen sich die Nachrichten. Deutsch-, türkisch- und englischsprachige Medien berichteten zeitgleich - leider zum Teil sehr unterschiedliche Informationen zu demselben Ereignis. Verschiedene Medien richteten Liveticker ein. In den sozialen Medien fand sich diese Berichterstattung wieder, z.T. gespickt mit Berichten von Bekannten und Verwandten direkt aus der Türkei.

Ministerpräsident Binali Yildirim sprach von einem Putschversuch eines Teils des Militärs. Die Sicherheitskräfte täten alles Notwendige, um die Situation zu entschärfen. Die Regierung sei weiter im Amt. Die Putschisten würden keinen Erfolg haben. Erdoğan befand sich zu dem Zeitpunkt seit knapp einer Woche im Urlaub. Sein Büro ließ vermelden, er sei in Sicherheit.

Dann hieß es, auch der Flughäfen in Istanbul sei gesperrt, Panzer seien davor aufgefahren. Das Militär entwaffne Polizeibeamte, die auf Seiten der Regierungspartei AKP stehen. Im ganzen Land gebe es Ausschreitungen zwischen dem Militär und der Polizei. Militär-Kampfhubschrauber hätten die Geheimdienstzentrale angegriffen. In allen großen Städten an zentralen Plätzen seien Panzer und Soldaten postiert.

Der staatliche türkische TV-Sender TRT wurde von Soldaten besetzt, die Moderatorin gezwungen, eine Erklärung der Putschisten zu verlesen. Diese erklärten darin, die Streitkräfte hätten die Kontrolle über die gesamte Türkei übernommen.

In sozialen Netzwerken wurde berichtet, Verwandte und Bekannte versuchten sich für die nächsten Tage mit Lebensmitteln einzudecken, Geld an Automaten abzuheben und nach Möglichkeit Flüge ins Ausland zu buchen. Aus Angst vor Verhaftungen. Die Erfahrung zeigt, dass in Folge eines Putsches als erstes Linke inhaftiert werden. Die Ausreise scheiterte indes daran, dass inzwischen alle Flughäfen gesperrt seien.

Während der staatliche Sender TRT besetzt war, konnten die privaten Medien weiter senden. Hektisch wurden alle möglichen Leute interviewt. U.a. auch Erdoğan, der seine Landsleute aufforderte, auf die Straße zu gehen und sich den Putschisten in den Weg zu stellen. Sowie der ehemalige Ministerpräsident Abdullah Gül. Der sich gegen einen Putsch aussprach.

Es hieß, in der Türkei seien sowohl Facebook als auch Twitter abgeschaltet. Dafür spricht, dass alle meine persönlichen Bekannten aus der Türkei und Kurdistan, Kriegsdienstverweigerer, Journalisten und Politiker nicht online waren. Schwer vorstellbar, dass z.B. die Initiative der KriegsdienstverweigererInnen in der Türkei sich zu einem Militärputsch nicht zu Wort meldet. Andere schrieben wiederum, sie seien gerade in Istanbul. Zwar nicht am Ort des Geschehens, aber in Istanbul.

Eine Flut von Informationen

Da deutete sich schon an, was die Nacht fortan prägen würde: eine Flut von Informationen, zeitgleich und nicht selten gegensätzlich. Die einen posteten, es werde keine Gewalt gegen die Zivilbevölkerung angewendet, andere sprachen von Toten in den Straßen von Ankara. Die einen schrieben, auch Medien, Erdoğan sei auf der Flucht. Einige glaubten gar zu wissen, dass er ausgerechnet auf dem Weg nach Deutschland sei, um Asyl zu beantragen.

So ging das die ganze Zeit bis in die frühen Morgenstunden. Und noch immer gibt es Meldungen, die zu verifizieren schwierig ist. Heute Vormittag wurde gepostet, dass Militärs eine Fregatte gekapert und die alte Mannschaft festgesetzt hätten. Und dass ein Hubschrauber mit 8 Militärs in Griechenland gelandet sei, die dort Asyl beantragen wollten.

Im Parlamentsgebäude, so hieß es bei CNN-Türk, feiere die AKP den Sieg über den Putsch. Während eines Handy-Interviews mit einer Abgeordneten im Parlamentsgebäude waren Schüsse und eine Explosion zu hören. Das war bereits die zweite Detonation. Später war von Verletzten die Rede. Und davon, dass im Parlament Abgeordnete aller Parteien zusammengekommen seien, und sich alle Parteien gegen den Putsch ausgesprochen hätten. Auch der Arbeitgeberverband TÜSIAD sprach sich in der Nacht gegen den Putsch aus.

CNN-Türk wurde dann zeitweilig von Soldaten okkupiert. Diese Besetzung dauerte ca. 45 Minuten. Eine Kamera lief die ganze Zeit, das leere Studio war zu sehen. Allerdings war die konkrete Räumung nicht zu sehen. Nur danach das leere Studio. Und zwar live. Und ein Mikro lief, offensichtlich draußen. Laute Männerstimmen waren zu hören, dazwischen Frauenstimmen. Männer fingen an zu brüllen, die Frauenstimmen wurden schriller. Dann kippte die Stimmung hörbar. Es klang nach Gejohle. Und dann wurde der Sendebetrieb wieder aufgenommen. Pünktlich zur Pressekonferenz von Erdoğan war der Sender wieder on air.

Erdoğan tauchte dann mitten in der Nacht auf dem angeblich belagerten Flughafen in Istanbul auf. Dort hielt er eine Pressekonferenz, auf der er wiederum Gülen der Urheberschaft des Putschversuchs bezichtigte und dazu aufrief, überall im Land möchten die Muezzin jede Stunde ein Gebet verkünden.

Der Mob tobte sich an den Soldaten auf der Bosporus-Brücke aus.

Auf verschiedenen Kanälen wurden immer wieder Menschenmengen gezeigt. Die meisten davon vermutlich AKP-Anhänger, die dem Aufruf Erdoğans gefolgt waren. Ein Panzer war zu sehen, auf den Zivilisten geklettert waren.

Auf der Bosporusbrücke soll ein Soldat nach IS-Manier von der aufgebrachten Menge geköpft worden seien. Angeblich gibt es Fotos davon. Andere sollen über die Brücke in die Tiefe gestürzt worden seien. In den sozialen Medien wurden heute Fotos verbreitet, auf denen zusehen war, wie aufgebrachte Demonstranten am Putsch beteiligte Soldaten mit einem Hosengürtel züchtigten. Außerdem wurden Aufnahmen gepostet, auf denen zusehen war, wie AKP- Anhänger bereits mitten in der Nacht Schildtafeln mit Siegessprüchen anbrachten.

Die Folgen dieser Nacht

Insgesamt ist von bislang 245 Toten und mehr als 1.400 Verletzten die Rede. Während Yıldırım von 104 Putschisten und 164 regierungstreuen Sicherheitskräften sprach, ist andernorts von mindestens 47 getöteten Zivilpersonen die Rede. Unter den Toten ist auch der Fotograf Mustafa Cambaz, der in der Nacht während seiner Berichterstattung erschossen wurde.

Bereits in der Nacht kursierten Listen mit Namen von 600 an dem Putsch beteiligten Generälen. Bislang wurden knapp 1.600 Angehörige der Streitkräfte festgenommen. Sowie knapp 3000 Richter ihres Amtes enthoben.

Laut der Zeit wurde "der Luftwaffenstützpunkt Incirlik in der südlichen Provinz Adana abgeriegelt. Wie das US-Konsulat mitteilte, ist die Energieversorgung unterbrochen, der Zugang zur Basis und das Verlassen des Stützpunktes sind aus Sicherheitsgründen untersagt.

In Incirlik haben mehrere Länder Verbände, die sich am Kampf gegen den "Islamischen Staat" in Syrien beteiligen. Deutschland hat dort 240 Soldaten stationiert". Im ZDF hieß es, der Teil, in dem die internationalen Streitkräfte stationiert seien, sei von dem Areal der türkischen Luftwaffe abgeriegelt. Von Incirlik aus sollen Helikopter und Flugzeuge, die vom putschenden Teil des Militärs eingesetzt wurden, gestartet sein.

Erdoğans Präsidentenpalast. Bild: Ex13/CC BY-SA 4.0

Gerade die schnelle Reaktion des türkischen Staates wirft viele Fragen auf - und bietet Anlass für Spekulationen. Dass sie sehr schnell sehr viele Menschen hinter Schloss und Riegel bringen können, haben sowohl vorherige als auch die gegenwärtige türkisch Regierung mehrfach unter Beweis gestellt. Ungewöhnlich indes ist, dass Erdoğans Rachefeldzug sich nicht gegen Linke oder die kurdische Bevölkerung richtet.

ZDF-Reporter Luc Walpot, der von Istanbul aus berichtet, mutmaßte in einem ZDF-Special, die Geschwindigkeit, mit der die Verhaftungen um sich greifen, weise daraufhin, dass die Regierung "mit Rückenwind dieses Putsches" die Situation nutze, um "massiv gegen politische Gegner vorzugehen". Auch Walpot fand insbesondere die Amtsenthebung von Tausenden von Richtern als Folge eines Militärputsches erklärungsbedürftig.

Unterstützung aus Europa und den USA

Die drängendste Frage aber ist, wie es jetzt weiter geht. Sowohl Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) als auch EU-Ratspräsident Donald Tusk stellten sich hinter die türkische Regierung. Merkel verurteilte den Putschversuch "auf das schärfste". Das Blutvergießen in der Türkei müsse jetzt beendet werden, so die Kanzlerin. Tusk sagte, die Türkei sei ein "key-partner" der EU.

An der Rolle der Türkei als "key-partner", als wichtigster Partner in Hinblick auf die Lösung der durch die massenhafte Flucht aus dem Nahen Osten entstehenden Probleme, wird sich vermutlich nichts ändern. Wenn die EU wollte, dann könnte sie den Vorfall zum Anlass nehmen, ihre Strategie gründlich zu überdenken. Und statt weitere Milliardenbeträge in die türkische Regierung direkt in die Flüchtlinge, z.B. durch Schaffung sicherer Fluchtrouten, und in eine menschenwürdige Unterbringung, Betreuung und Verpflegung investieren. Denn eins ist auch klar: Die politische Situation im EU-Partnerland Türkei ist alles andere als stabil.

Doch da sind wir wieder beim Konjunktiv und im Reich der Spekulationen. Aber die Hoffnung stirbt ja bekanntlich zuletzt.