Türkei: Reizwort Frieden

Bombenattentat als Antwort auf einseitigen Waffenstillstand der PKK

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Laut der türkischen Ärztekammer hat der Bombenanschlag auf die von Gewerkschaften organisierte Friedensdemonstration in Ankara am frühen Samstagmorgen 97 Menschenleben gekostet. Etwa 400 Menschen sind verletzt, etliche davon so schwer, dass sie auf der Intensivstation um ihr Leben kämpfen. Die Rede ist von dem Attentat mit der höchsten Anzahl von Toten in der Geschichte der Türkei.

Unterdessen wurden Listen mit den bis jetzt bekannten Namen der Toten veröffentlicht. Die Betroffenen gehörten alle der pro-kurdischen HDP (Demokratische Volkspartei) und anderen linken Organisationen an. Unter den Toten befindet sich z.B. Kübra Meltem Mollaoğlu, Kandidatin der HDP in Istanbul für die Parlamentswahlen am 1. November 2015. Mindestens einer der Toten hielt ein Pappschild mit der Aufschrift "Frieden jetzt" in der Hand.

Politiker aller Parteien zeigen sich entsetzt. Als Reaktion auf das Attentat kondolierten auch Politikerinnen und Politiker aus dem Ausland, u.a. die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU). Weltweit kam es zu spontanen Solidaritätsbekundungen mit den Opfern, auch an mehreren Orten in der BRD.

Die HDP hat ihre Wahlkampfaktivitäten eingestellt. "Alle Wahlkampfveranstaltungen und Aktivitäten der HDP sind gestoppt worden. Wir sind keine reine Wahlpartei, unser Ziel ist die Freiheit der Gesellschaft, diese erreichen wir auch ohne Wahlkampfaktivitäten", verkündete der Co-Vorsitzende der Partei, Selahattin Demirtaş.

Mehrere Gewerkschaften kündigen für kommenden Montag und Dienstag einen landesweiten Generalstreik an. Darunter die DISK (Konföderation der Revolutionären Arbeitergewerkschaften der Türkei), der Dachverband KESK (Dachverband von Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes in der Türkei) sowie die TMMOB (Türkische Gewerkschaft der Architekten und Ingenieure).

"Wie kann der Geheimdienst nichts von solchen Anschlagsplanungen wissen?"

Über die Hintergründe und die Täter kann bis dato nur spekuliert werden. Lediglich der türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu (AKP/Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) nannte mögliche Tätergruppen: die Terrormiliz Islamischer Staat (IS), die auch für den Anschlag von Suruç am 20. Juni 2015 verantwortlich gemacht wird, die kurdische Guerilla PKK oder die linke DHKP-C (Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front). Diese Schuldzuweisungen sind wenig originell, wo doch alle Opfer aus linken Organisationen stammen. Aber es wirkt: Weltweit wird in Nachrichtensendungen unreflektiert verbreitet, dass möglicherweise die PKK die Anschläge zu verantworten haben könnte.

"Diese Bomben erinnern an Diyarbakir und an Suruç. Die Verantwortlichen werden dafür vermutlich nicht zur Rechenschaft gezogen", mutmaßt hingegen der Co-Vorsitzende der HDP, Selahattin Demirtaş.

Denn wie kann der so starke türkische Geheimdienst nichts von solchen Anschlagsplanungen wissen?

Feststeht jedenfalls, dass an beiden Eingängen des Hauptbahnhofs von Ankara so gegen 9 Uhr (Ortszeit) jeweils eine Bombe zündete. Augenzeugen zufolge soll eine dritte rechtzeitig entschärft worden sein. Feststeht auch, dass das Attentat auf einer Demonstration verübt wurde, die sich ausdrücklich sowohl an die türkische Regierung als auch die PKK mit der Forderung richtete, die Waffen niederzulegen und an den Verhandlungstisch zurückzukehren.

Ausschnitt aus einem Augenzeugenvideo

Feststeht ebenso, dass die PKK diese Forderung schon im Vorfeld der Demonstration erfüllte: Die kurdische Guerilla hatte einen einseitigen Waffenstillstand bis zum 1. November, dem Tag der Parlamentswahlen, ausgerufen. Das war bereits vor dem Attentat publik geworden, sollte aber am Sonntag offiziell verkündet werden:

Unsere Guerillaeinheiten werden in dieser Phase von geplanten Aktionen Abstand nehmen (...), sie wird sich von allen Aktionen fernhalten, die einen gleichen und gerechten Ablauf der Wahlen gefährden oder behindern könnten.

Unterdessen werden erste Stimmen laut, die das Verschieben der Wahlen vom 1. November auf unbestimmte Zeit prognostizieren.

Eine neue Eskalationsstufe

"Bariş" (Frieden) scheint ein Reizwort zu sein in der Türkei. Die PKK (PKK: (K)eine Erfolgsgeschichte) hat in dieser mehr als 30 Jahre währenden militärischen Auseinandersetzung mehrfach einseitig die Waffen schweigen lassen. Zum ersten Mal am 20. März 1993. Die Gegenseite ignorierte die Angebote schlichtweg, und der Konflikt fand in den darauffolgenden Monaten seinen vorläufigen Höhepunkt.

Am 1. September 1998 rief PKK-Chef Abdullah Öcalan erneut einen einseitigen Waffenstillstand aus. Dieser wurde beantwortet, indem die Türkei Panzer an der syrischen Grenze auffahren ließ, und die Auslieferung Öcalans forderte. Um einen Krieg zwischen Syrien und der Türkei zu vermeiden, begab dieser sich auf seine berühmte Odyssee, die am 15. Februar 1999 in Kenia endete. Er wurde zum Tode verurteilt und wird seither auf der Gefängnisinsel Imralı in Isolationshaft gehalten. Aufgrund internationalen Drucks wurde die Todesstrafe inzwischen in lebenslange Haft umgewandelt.

Der einseitige Waffenstillstand von 1998 wurde 2004 endgültig beendet, seitdem wechselten sich Zeiten des Friedens und des Kampfes ab. Seit 2012 gibt es Friedensverhandlungen seitens der türkischen Regierung unter Erdoğan. Diese waren allerdings mit dem Attentat vom 20. Juli auf ein linkes Kulturzentrum an der Grenze zu Syrien, bei dem 34 junge Menschen ums Leben kamen, beendet.

Als Vergeltung für das Attentat verübte die PKK Anschläge auf Polizei- und Armeeeinrichtungen, bzw. Angehörige von Polizei und Armee. Offiziellen Erklärungen zufolge waren diese Übergriffe nicht im Sinne der Organisation, sondern wurden von außer Kontrolle geratenen lokalen Einheiten durchgeführt.

Wie dem auch sei, in der Folge begann jedenfalls Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan seinen blutigen Rachefeldzug als Vergeltung für das schlechte Ergebnis für seine Partei AKP und das überdurchschnittlich gute Wahlergebnis für die HDP. Im Südosten der Türkei herrschen seit Monaten bürgerkriegsähnliche Zustände. Erst kürzlich gingen Bilder des von Uniformierten ermordeten jungen kurdischen Filmemachers und Friedensaktivisten Haci Lokman Birlik um die Welt, dessen toter Körper mit einem Seil an ein Militärfahrzeug gebunden und durch seinen Heimatort gezerrt wurde.

Der Anschlag von Ankara indes stellt selbst angesichts dessen eine neue Eskalationsstufe dar. Doch selbst in dieser Situation kannte die Staatsmacht keine Gnade: "Die Polizei lässt die Krankenwagen nicht durch, sie wirft Gasgranaten auf die Verletzten und Toten", schilderte Demirtaş.

Das ist wie auf unserer Demonstration in Diyarbakir Anfang Juni, als ebenfalls eine Bombe explodierte. Menschen die für den Krieg und die Gewalt auf die Straße gehen, können dies ohne Probleme und Polizeigewalt tun. Menschen, die für den Frieden auf die Straße gehen, werden ermordet.

Binnen Wochen bombte Erdoğan im vergangenen Sommer das Land zurück in die 1990er Jahre. Einher mit den militärischen Operationen geht eine Pogromstimmung gegen Angehörige der kurdischen, alevitischen und armenischen Minderheiten. Auch das ist ein altbekanntes Muster.

Die Wiederholung

Am 17. April 1995 fand etwas bislang in der TV-Geschichte Einmaliges statt: Der staatliche türkische Fernseh-Sender TRT-INT brachte eine 56stündige Sondersendung mit dem Titel "Los Türkei! Hand in Hand mit den tapferen Soldaten! Unterstützen wir voller Freude unsere tapferen Soldaten, die sich mit Freude für das Vaterland opfern!". Bei diesem mehr als zweitägigen medialen Spendenmarathon rührten Militärs und Politiker unterstützt von Prominenten die Werbetrommel für Geld und Kanonenfutter für die türkische Armee. Die Sendung wurde von Studios aus Ankara, Istanbul, Izmir und Adana live ausgestrahlt, und war via Satelliten-TV überall auf der Welt zu verfolgen.

Zu dem Zeitpunkt war der Krieg in Kurdistan auf seinem - aus heutiger Sicht vorläufigen - Höhepunkt. Hand in Hand mit der Kriegsverherrlichung ging rassistische Propaganda, die in einer regelrechten Pogromstimmung gegen Personen kurdischer, alevitischer oder armenischer Herkunft, Organisationen, Vereine und Geschäftsleute und gegen Linke ihre Entsprechung fand. Nicht nur in der Türkei, bzw. den kurdischen Gebieten auf türkischem Territorium, sondern auch im Ausland. Derzeit können wir beobachten, wie sich diese Geschichte wiederholt.

Diese Pogromstimmung wird durch Medien noch angeheizt, deren Macht türkische Militärs und Politiker schon lange erkannt haben. Zwei Jahre vor der Ausstrahlung des 56-stündigen Spendenmarathons berief der ehemalige Generalstabschef der türkischen Armee und Vorsitzende des Nationalen Sicherheitsrates (MGK), Doğan Güreş, eine Konferenz mit Verlegern und Chefredakteuren ein, auf der er die Presse aufforderte, "im Kampf gegen die PKK und den Terrorismus an einem Strang mit dem Militär zu ziehen".

Als Folge davon wurden 17 Journalisten oppositioneller Medien von so genannten "unbekannten Tätern" ermordet, 200 Journalistinnen und Journalisten befanden sich vor der neuen Offensive von Erdoğan in Haft. In der vorletzten Woche wurden allein im kurdischen Diyabakir 32 Beschäftigte von kurdischen Medien festgenommen.

In Bezug auf das Attentat von Ankara verhängte die türkische Regierung indes totale Nachrichtensperre. Doch in Zeiten des World Wide Web ist der Nachrichtenfluss allerdings nicht zu stoppen.

Erst Anfang der vergangenen Woche machte Erdoğan in Brüssel Furore (Erdogan treibt den Preis hoch). Dort wurde ihm großer Bahnhof bereitet, weil die EU-PolitikerInnen sich erhoffen, dass er ihnen bei der Lösung der "Flüchtlingskrise" behilflich sein wird. Könnte die Türkei zum sicheren Herkunftsland erklärt werden, dann könnte der größte Teil der hier ankommenden Flüchtlinge aus Syrien und dem Irak umgehend wieder zurückgeschickt werden.

Erdoğan seinerseits nutzte das Treffen im Brüssel, um Unterstützung für den Kampf gegen den Terror, sprich die PKK, einzufordern. Da kommt es doch sehr gelegen, wenn wenige Tage später die PKK als mögliche Verursacherin des Attentats mit der höchsten Anzahl von Toten in der Geschichte der Türkei präsentiert werden kann …