Türkei: Transitland zum IS

Seite 2: Geschichte einer Entführung

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Am 11. Juni 2014 besetzte der IS das türkische Konsulat in Mosul und nahm den Generalkonsul Öztürk Yılmaz sowie 49 Personen als Geiseln. Drei Monate später, am 15. September 2014, begann der IS mit dem Überfall auf Kobane. Zwei Tage später lieferte die Türkei nach den Angaben von ANF dem IS Munition für schwere Waffen und Panzer über das Dorf Sleib Qaran zwischen Girê Spî und Kobane.

Drei Tage später übergab der IS die Konsulatsmitarbeiter der türkischen Regierung, die im Gegenzug 200 inhaftierte Islamisten an den IS übergab. Darunter auch Madrakhimov. Erdogan nannte dies eine "Geheimdienstoperation", der IS aber schickte seine "Gäste" ganz offiziell über den damaligen gemeinsamen Grenzübergang bei Girê Spî offiziell zurück in die Türkei.

Zurück zur Geschichte von Adil Restam Madrakhimov. Eigentlich sollte er nach zwei Monaten Haft nach Usbekistan abgeschoben werden. Aber er trat eine ganz andere Reise an: "Der MIT sperrte mich und meine Tochter in ein Auto. Wir wussten nicht, wo es hingehen sollte. Dann erreichten wir Tell Abyad [Girê Spî], das damals unter der Kontrolle des IS stand. Der MIT übergab uns dem IS. Da begriff ich, dass es ein Abkommen zwischen dem IS und der Türkei gegeben hatte (...) Der türkische Staat hat gegen die 49 Personen, die im Konsulat in Mosul festgehalten wurden, dem IS 200 Ausländer übergeben." Sie wurden in ein "Gästehaus" des IS gebracht.

Da der Usbeke mit seiner sechsjährigen Tochter allein war, wollte er seine Frau nachholen. Ihm wurde gesagt, sie solle nach Istanbul reisen, wo der IS Büros und Unterkünfte für nachreisende IS-Frauen unterhielt. Dort angekommen, musste seine Frau entsetzt feststellen, dass in der Unterkunft viele ausländische Frauen untergebracht waren. Sie entschloss sich zur Rückkehr nach Usbekistan. Madrakhimov wurde nach Rakka, später nach Mayadin und Hajin gebracht. Ende 2018 ergab er sich den SDF.

Der schon erwähnte schwedische Dschihadist Mohamed berichtete den SDF, wie er 2013 von Schweden nach Istanbul reiste, wie er dort zu einem Kontaktmann im Hatay vermittelt wurde. Mit dem Bus fährt er von Istanbul nach Reyhanli im Hatay, wo er dann problemlos die Grenze passieren und nach Idlib reisen konnte. Mohamed schließt sich in Idlib der mehrheitlich aus Türken bestehenden FSA-Miliz al-Muhadschirun al-Ansar an, die 2014 nach Rakka geht und sich dem IS anschließt.

Abrar Mohamed berichtet auch, dass 2012 ein Bündnis zwischen den islamistischen Milizen Ahrar al-Sham, Faylaq al-Sham und dem IS das kurdische Dorf Basufanê in Afrin angriff. In Schweden war der Mann Krankenwagenfahrer, daher wurde er beim IS mit dieser Aufgabe ebenfalls betraut. Er berichtete, dass viele IS-Kommandanten zur Behandlung in türkische Krankenhäuser gebracht wurden, bei besonders hohen Tieren des IS kümmerte sich nach seinen Angaben der türkische Geheimdienst selbst darum.

Der türkische Geheimdienst und der "Islamische Staat"

Nach Informationen der kurdischen Nachrichtenagentur ANF gibt es Indizien über syrische IS-Mitglieder, die direkt beim türkischen Geheimdienst MIT arbeiten. Dabei soll es sich um die Brüder Ismail und Abdulbasit al-Ido vom Stamm der al-Ilemat, Musiab al-Bedir al-Maruf (bekannt als Abu Teyir) und Brahim al-Shoia handeln. Sie kommen alle aus Gîre Spî (arab.: Tell Abiyad) und hatten beim IS verschiedene Ämter.

Birahim Elzarkir (bekannt als Abu Muhammed) aus der Region Deir ez-Zor ging in die türkisch besetzten Gebiete der Sheba-Region, als er durch die SDF-Offensive "Gewittersturm Cizîrê" (die von der internationalen Anti-IS-Koalition unterstützt wurde) in Bedrängnis geriet und schloss sich dort den türkischen Proxytruppen im Rahmen des "Schutzschild Euphrat" an.

Er soll damit beauftragt worden sein, in Bedrängnis geratene IS-Mitglieder und Emire von Syrien in die Türkei zu bringen, damit der MIT die kampfbereiten IS-Kämpfer in Camps in der Türkei für neue Angriffe in Syrien reorganisieren kann - so vermutet es das kurdische Medium ANF.

Die Vermutung hat nach Auffassung der Autorin einige Plausibilität, denn wenn man sich mal die Orte der vielen IS-Anschläge in Nordsyrien auf der Karte ansieht, wird deutlich, dass diese alle auf dem Gebiet der Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) passierten. Als die Türkei beispielsweise Dscharablus besetzte, wurde die Stadt vom IS kampflos an die sogenannte "Freie syrische Armee" (FSA) übergeben, die Dschihadisten tauschten lediglich ihre Uniformen gegen die der FSA aus und rasierten sich die Bärte.

Auch die IS-Anschläge in der Türkei richteten sich ausschließlich gegen die Opposition in der Türkei: im Mai 2015 gegen die HDP-Zentralen in Adana und Mersin, im Juni 2015 gegen eine HDP-Kundgebung in Diyarbakir, in Suruc am 20. Juli 2015 gegen ein Solidaritäts-Jugendcamp für die Kinder in Kobane und in Gaziantep im August 2016 gegen eine kurdische Hochzeit.

Damals wie heute werden solche Nachrichten ignoriert, denunziert oder in die Ecke von Verschwörungstheorien gestellt. Gerade bei der Bundesregierung müssten die Alarmglocken angesichts solcher Nachrichten klingeln. Denn es ist nicht ausgeschlossen, dass über die Türkei auch Schläfer nach Deutschland geschleust und vom MIT gezielt eingesetzt werden. Es ist ja noch nicht so lange her, dass bekannt wurde, dass auch die deutschen Sicherheitsdienste vom MIT infiltriert sind.