Türkei: Victim Blaming im HDP-Verbotsantrag
Medienbericht: Opfer des IS-Anschlags auf ein linkes Jugendtreffen in Suruç werden im Verbotsantrag gegen die kurdisch-türkische Oppositionspartei als "Terroristen" bezeichnet
Im Verbotsantrag gegen die Oppositionspartei HDP in der Türkei spielt ausgerechnet der dschihadistische Terroranschlag auf ein linkes Jugendtreffen in Suruç, bei dem HDP-Mitglieder Freunde und Angehörige verloren, eine zentrale Rolle. Als "Terroristen" bezeichne Chefankläger Bekir Şahin darin diejenigen, die bei dem Massaker ums Leben gekommen seien, berichtete das regierungskritische Internetportal Artigercek und zitierte aus dem Verbotsantrag.
Am 20. Juli 2015 hatte ein dschihadistischer Selbstmordattentäter in Suruç, etwa zehn Kilometer von der syrischen Grenze entfernt, 32 junge Menschen getötet, die nach dem Treffen der Föderation der sozialistischen Jugendverbände der Türkei in die syrisch-kurdische Grenzstadt Kobanê / Ain al-Arab reisen wollten, um dort beim Wiederaufbau zu helfen. Der IS war zu diesem Zeitpunkt erfolgreich aus der Stadt vertrieben worden, was der türkischen Regierung nicht gefiel, weil sie den IS zumindest als kleineres Übel im Vergleich zur maßgeblich von Kurdinnen und Kurden organisierten Selbstverwaltung in Nordsyrien betrachtete. Bei dem Attentat gab es auch einige Schwerverletzte, so erhöhte sich die Zahl der Toten von Suruç in den Folgewochen auf 34.
Eine Parole und ihre Interpretation
Ein führendes HDP-Mitglied, das bei dem Anschlag verletzt wurde, soll zwei Jahre später beim Hofgang im Gefängnis von Silviri die Parole "Suruç’un hesabı sorulacak" gerufen haben - was in etwa heißt: "Für Suruç wird nach Rechenschaft gefragt" beziehungsweise "Rechenschaft eingefordert" oder auch "die Rechnung präsentiert". Der Chefankläger interpretiert das als Aufruf zu gewaltsamen Racheakten, die Aussage kann aber genauso gut bedeuten, dass sich die Hintermänner vor Gericht verantworten müssen, so bald in der Türkei Rechtsstaatlichkeit hergestellt ist. Letztere ist natürlich nach Meinung des Chefanklägers vorhanden - und den Vorwurf der Kumpanei zwischen der AKP-Regierung und dem "Islamischen Staat" (IS) oder anderen dschihadistischen Hilfstruppen mag er als Verschwörungstheorie zurückweisen.
Die Generalstaatsanwaltschaft Silivri strickte aus der Parole aber den Vorwurf der "Propaganda für eine terroristische Organisation" und leitete ein Ermittlungsverfahren gegen Ali Deniz Esen ein. Dieses Konstrukt soll nun sogar zur Grundlage für das Verbot einer Partei werden, die in zahlreichen Kommunen des Südostens der Türkei die Mehrheit der Wahlberechtigten erreicht.
Die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) hatte sich bereits zwei Tage nach dem Anschlag in Suruç zu einer "Strafaktion" gegen zwei Polizisten bekannt, denen sie Kooperation mit dem IS vorwarf. Die Tötung der Polizeibeamten wurde damals von den Volksverteidigungskräften (HPG), dem bewaffneten Arm der PKK, als "Vergeltung für das Massaker von Suruç" bezeichnet.
451 Politikerinnen und Politikern droht Betätigungsverbot
Daraus einen posthumen Terrorismusvorwurf gegen die Anschlagsopfer von Suruç zu stricken, ist zwar dreist, aber nicht dreist genug, um mit einem Verbotsantrag gegen eine andere Partei, der auf einer solchen "Logik" basiert, vor dem türkischen Verfassungsgericht zu scheitern. Wie die Nachrichtenagentur Anadolu am Montag berichtete, ließ es den Antrag zu.
Die HDP-Abgeordneten Tayyip Temel und Murat Sarısaç erklärten am Dienstag, ihre Partei werde sich weder durch politische Morde - wie zuletzt den an ihrer Aktivistin Deniz Poyraz in Izmir - noch durch das Verbotsverfahren stoppen lassen. Zugleich wiesen sie auf harte Repressionsmaßnahmen hin: Allein am Dienstag habe es mehr als 100 Razzien gegen die kurdische und demokratische Opposition gegeben. Der Verbotsantrag beinhalte auch ein fünfjähriges politisches Betätigungsverbot für 451 Politikerinnen und Politiker der HDP.