Türkei: Wie man Wähler kauft

Der Ernennung Muharrem İnces (links) zum Kandidaten der CHP, am 4. Mai 2018. Foto: VOA/gemeinfrei

Vor der Wahl verteilt Erdogan Geldgeschenke, die Opposition will die Schulden der Wähler übernehmen

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6. Mai, Istanbul. Die erst vor knapp einem halben Jahr von Aussteigern der rechtsradikalen Partei MHP gegründete rechtskonservative Iyi Parti baut einen Wahlkampfstand auf. Parteimitglieder verteilen Flyer, werben für ihre Präsidentschaftskandidatin, die ehemalige türkische Innenministerin Meral Aksener. Es dauert nicht lange, bis der Stand angegriffen wird.

Anhänger der MHP, die in einer Koalition mit der regierenden AKP in den Wahlkampf zieht, nehmen den Begriff "Kampf" allzu wörtlich und gehen mit Schlägern und Messern auf die Standbetreiber los. Am Ende werden acht Verletzte in ein Krankenhaus eingeliefert.

An sich müsste solch eine Szene schockieren, alarmieren. Doch im türkischen Wahlkampf gehören derartige gewaltsame Übergriffe längst zum Alltag. Auch das Referendum vor einem Jahr war von solchen Angriffen auf Wahlkämpfer der Opposition geprägt.

Die Polizei schaute immer wieder weg - oder nahm die Oppositionellen gleich fest. Aksener verurteilte den Angriff, ebenso CHP-Kandidat Muharrem Ince, der auf Twitter hinzufügte "Wahlkampf ist kein Krieg." Die Frage, ob Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan das ebenso sieht, darf bezweifelt werden.

Taktisch klug? Alle Parteien mit eigenen Kandidaten

Er hat starke Gegner. Nachdem es ihm gelungen war, auf den Wunschkandidaten der Opposition, Ex-Präsident Abdullah Gül, genug Druck auszuüben, um diesen zum Kandidaturverzicht zu bewegen, hat die CHP mit Ince einen langjährigen Erdogan-Kritiker aufgestellt, der zudem ein versierter Redner ist und es rhetorisch durchaus mit Erdogan aufnehmen kann. Dasselbe gilt für Aksener.

Die linksliberale HDP zieht mit ihrem ehemaligen Parteichef Selahattin Demirtas in die Schlacht - aus dem Gefängnis heraus. Demirtas, der bereits bei der letzten Präsidentschaftswahl gegen Erdogan angetreten war, sitzt seit November 2016 in Haft - und gilt dennoch als Hoffnungsträger. Obwohl die HDP nicht der Oppositionskoalition angehört, könnte Demirtas' Kandidatur dem Anti-AKP-Lager dennoch helfen.

Im Gegensatz zum "Volksbündnis" aus AKP und MHP hat sich die Opposition gegen einen gemeinsamen Kandidaten entschieden. Alle Parteien treten mit eigenen Kandidaten an. Dieser Zug, der aus Uneinigkeit entstand, könnte am Ende taktisch klug sein. Denn die Parteien haben nur eine einzige winzige Chance, das Ruder im letzten Moment herumzureißen, Erdogan von Thron zu stoßen und das Inkrafttreten seiner Verfassungsreform zu verhindern, die ihm lückenlose Macht sichern würde.

CHP, HDP und Iyi Parti müssten insgesamt eine deutliche Wählermehrheit für sich einnehmen. Gelingt es ihnen, sechzig oder mehr Prozent der Stimmen zu holen, wäre der Abstand so gewaltig, dass Manipulationen allzu offensichtlich wären. Und das trotz des neuen Wahlgesetzes, das Manipulationen faktisch legalisiert.

CHP-Kandidat Ince kündigt neuen Friedensprozess mit Kurden an

Ob das gelingt ist höchst ungewiss. Allerdings springt nun auch CHP-Kandidat Ince auf den Zug auf. Unlängst forderte er, Demirtas solle vor der Wahl aus der Haft entlassen werden. In einem Interview mit BBC Türk kündigte er an, Demirtas im Gefängnis zu besuchen. Sollte er gewählt werden, wolle er die Kurdenfrage lösen, die seit vierzig Jahren eines der größten Probleme des Landes sei. Und so wie es aussieht, will er das mit einem neuen Friedensprozess erreichen.

Das sind große Worte, die auf Unterstützung der kurdischen Wähler zielen. Fragt sich, wie glaubwürdig Ince ist. Denn sowohl seine Partei CHP als auch der Koalitionspartner Iyi Parti unterstützen Erdogans völkerrechtswidrigen Krieg gegen die Kurden in Syrien.

Ince läuft Gefahr, abgestraft zu werden, weil der Schritt auf die Kurden zu als hohles Wahlkampfmanöver verstanden werden könnte. Außerdem riskiert er damit, die nationalistisch gesinnten Wähler zu vergrätzen, die er aber unbedingt braucht, um Erdogan Stimmen streitig zu machen.

Laut einer Umfrage von Ende April würde die AKP-MHP-Koalition aktuell 42,5 Prozent der Stimmen holen. Die CHP (die zu diesem Zeitpunkt noch keinen Kandidaten hatte) käme auf 22,9 Prozent, die Iyi Parti auf 17,1 Prozent und die HDP auf 13,2 Prozent.

Das heißt: Erdogan ist von seiner benötigten Mehrheit von 51 Prozent noch sehr weit entfernt, während die Opposition sie locker erreichen könnte, würde sie sich überwinden und die HDP ins Boot holen. Es zeigt aber auch, dass die Präsenz der HDP, die mit Demirtas' Kandidatur noch zulegen dürfte, Erdogan in eine Stichwahl zwingen könnte. Möglicherweise ist auch das ein Ziel von Ince und Aksener.