Türkei: Wie nahe stehen sich Staat und Mafia?
Seite 2: Der Susurluk-Skandal
Damals wurden diese Verstrickungen durch einen schweren Verkehrsunfall nahe der Stadt Susurluk im Westen der Türkei offenkundig. Bei dem Unfall kamen der stellvertretende Istanbuler Polizeipräsident Hüseyin Kocadag sowie Abdullah Çatli, Führungsmitglied der Grauen Wölfe und Auftragsmörder und seine Geliebte, die Schönheitskönigin Gonca Us ums Leben. Sedat Edip Bucak, Abgeordneter der damaligen Regierungspartei DYP (Partei des Rechten Weges), Großgrundbesitzer und Führer von paramilitärischen "Dorfschutz-Einheiten", überlebte den Unfall.
Im Kofferraum des Unfallfahrzeugs fanden sich Waffen, Drogen, Dollar-Bündel und gefälschte Pässe, ausgestellt von Mehmet Agar. Die Staatsanwälte des Staatssicherheitsgerichtes Istanbul klagten Männer, die Spitzenpositionen im Staatsapparat bekleideten, wegen "Gründung einer kriminellen Organisation" an. Unter den Angeklagten waren Persönlichkeiten wie Ibrahim Sahin, damals Chef der für "Terrorismusbekämpfung" zuständigen Sondereinheiten der Polizei sowie der damals zurückgetretene Innenminister Mehmet Agar und der Abgeordnete Sedat Bucak.
Letztere gehörten der Partei des Rechten Weges an und waren der Parteiführerin und Ministerpräsidentin Tansu Çiller treu ergeben. Agar und sein Gefolgsmann Sahin waren immer wieder beschuldigt worden, Folterteams zu führen und Morde an politischen Oppositionellen anzuordnen, ohne dass es deswegen zu einer Anklageerhebung kam. Agar wurde schließlich wegen seiner Mafia-Verbindungen zu einer Haftstrafe von 5 Jahren verurteilt, jedoch nach nur einem Jahr Haft wieder entlassen.
Tod einer Reporterin nach Anzeige wegen Vergewaltigung
Über Mehmet Agars Sohn, Tolga Agar, der mittlerweile AKP-Abgeordneter ist, berichtet Peker in einem Video im Zusammenhang mit dem mysteriösen Tod der kirgisischen Reporterin Yeldana Kaharman (21) am 28. März 2019. Die Journalistin hatte am Vortag ihres Todes ein Interview mit ihm in seiner Funktion als AKP-Abgeordneter gemacht. Danach zeigte sie ihn wegen Vergewaltigung an. Kurz darauf wurde sie tot aufgefunden, die Staatsanwaltschaft stellte jedoch die Ermittlungen ein.
Im Februar 2020 wurde eine Nachrichtensperre zu dem Fall verhängt. Als Begründung wurde die "Verletzung von Persönlichkeitsrechten" genannt. Tolga Agar soll auch auf einer Kokain-Party in der Istanbuler Villa eines Bauunternehmers anwesend gewesen sein. Unter den "Gästen" soll auch Sezgin Baran Korkmaz (CEO der SBK Finanz-Holding) gewesen sein, der sich derzeit wegen des Vorwurfs der Geldwäsche von 132 Millionen Dollar auf der Flucht im Kongo befindet. Familie Agar verhinderte nach Pekers Aussage Ermittlungen zu dieser Drogenparty.
Schenkt man Pekers Aussagen Glauben, schmuggelt ein Netzwerk der türkischen Mafia über die Häfen in Izmir und Mersin Drogen aus Südamerika in die Türkei. Im Juli 2020 fand man in zur Verladung bereiten Schiffscontainern in Kolumbien 4,9 Tonnen Kokain im Wert von 265 Mio. Dollar. Bestimmungsort war nach Aussagen eines kolumbianischen Ministers die Türkei und Empfänger nach Aussage Pekers der tiefe Staat unter dem ehemaligen Justiz- und Innenminister Mehmet Agar. Abgewickelt wurde das alles über ein Chemieunternehmen in Izmir, welches Agar und anderen Personen aus AKP-Kreisen gehöre.
In der Türkei wurde dazu nicht ermittelt. Der ehemalige Justizminister Cemil Cicek sagte, es wäre eine Katastrophe, wenn Pekers Behauptungen auch nur zu einem Tausendstel wahr seien. Brisant ist auch die Information, dass Agar Besitzer der berühmten Yalikavak-Marina im Ägäis-Badeort Bodrum ist, an der Superyachten aus aller Welt anlegen. Laut Peker soll sie auch eine Anlandestelle für Drogen aus Lateinamerika sein. Agar wies die Vorwürfe zurück, er sei nicht der Besitzer der Marina von Bodrum, er sitze nur im Verwaltungsvorstand.
Nun ja, der Susurluk-Skandal mit Drogen im Kofferraum, sein Sohn auf einer Kokain-Party in Istanbul, da macht der High Society-Hafen bei Bodrum durchaus Sinn - wenn man die klientelistischen Netzwerke der Superreichen in der Türkei betrachtet. Ein kurioser Fall beschäftigte im März die türkischen Medien: Kürşat Ayvatoğlu ein reicher junger AKP-Anhänger, der auf seinen Social-Media-Accounts gerne zusammen mit Erdogan und Soylu posierte. Nun ließ sich dieser AKP-Jungspund in seinem edlem SUV beim Koksen filmen, was prompt ins Netz gestellt wurde. Als er wegen des Verdachts des Verstoßes gegen das Rauschmittelgesetz verhaftet wurde, gab er an, Puderzucker geschnupft zu haben. Erst als diese Ausrede nicht mehr haltbar war, musste er seinen Kokainkonsum zugeben.
Ein weiter Fall ist Veysel Filiz, der 2014 von Erdoğan zum Presseverantwortlichen der türkischen Botschaft in Brüssel ernannt wurde. 2017 wurde ein Ermittlungsverfahren in Belgien gegen Filiz eingeleitet, weil er über Fake-Accounts in Europa lebende Oppositionelle bedrohte. Daraufhin musste er Belgien verlassen. Filiz wurde am 9. Dezember 2020 zufällig an der bulgarischen Grenze mit 100 Kilogramm Heroin im Wert von fünf Millionen Dollar erwischt. Die türkischen Behörden verhängten sofort eine Geheimhaltungsverfügung.
Nach Informationen der Süddeutschen Zeitung ist auch Serhat Albayrak, der Bruder von Erdoğans Schwiegersohn und Ex-Finanzminister Berat Albayrak, in die Geschäfte der Familie Agar verwickelt. Serhat Albayrak hat Einfluss auf einen der größten Medienkonzerne der Türkei, die Turkuaz Media Group. Vor einigen Monaten soll es einen Streit zwischen Peker und dem damaligen Finanzminister Berat Albayrak gegeben haben, berichtet das Deutsch-türkische Journal.
Worum es ging, ist nicht bekannt, aber merkwürdigerweise trat Albayrak kurze Zeit später als Finanzminister zurück und ist seither verschwunden. Mit ihm verschwanden 128 Milliarden Dollar aus den staatlichen Devisenreserven. Seitdem stellt die Opposition in der Türkei die Frage, wo diese 128 Milliarden geblieben sind. Peker scheint davon gewusst zu haben. Aber es scheint ein Agreement zwischen Mafia und Politik zu geben, Stillschweigen darüber zu bewahren. Als Gegenleistung für sein Stillschweigen erhoffte sich Peker die Rückkehr zu seiner Familie in die Türkei. Man darf gespannt sein, ob dazu noch Details ans Licht kommen.
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