Türkei annulliert Missbrauchsgesetz
Ehen mit Minderjährigen werden legalisiert
Bereits im Juli hat das türkische Verfassungsgericht eine Bestimmung aufgehoben, die alle sexuellen Handlungen an Kindern unter 15 Jahren als sexuellen Missbrauch unter Strafe stellte. Die Zeitung Hürriyet Daily News berichtete darüber am 14. Juli.
Durch den Putschversuch am 15. Juli ist dieses Thema mit seinen weitreichenden Folgen für die Kinder untergegangen. Die Annullierung des Missbrauchsgesetzes beschloss das Verfassungsgericht mit sieben gegen sechs Stimmen. Die Änderung tritt am 13. Januar 2017 in Kraft.
Das Verfassungsgericht befasste sich mit dem Thema, weil ein Bezirksgericht einen entsprechenden Antrag gestellt hatte. Darin wurde bemängelt, dass das geltende Gesetz bei sexuellem Missbrauch keinen Unterschied zwischen Altersgruppen mache und 14-Jährige darin wie 4-Jährige behandelt würden. Schließlich würden Personen zwischen 12 und 15 Jahren die Bedeutung des sexuellen Aktes verstehen. Man müsse ein mögliches Einverständnis solcher Personen bei der strafrechtlichen Verfolgung mit in Betracht ziehen.
Damit wirft die Türkei ein weiteres Gesetz zum Schutz von Minderjährige über Bord. Vor Kurzem annullierte das türkische Verfassungsgericht ein Gesetz, das bei Vergewaltigung von Minderjährigen mindestens 16 Jahre Haft vorsah. Die Begründung ähnelte der jetzigen Begründung für den Antrag. Diese Aufhebung tritt am 23. Dezember 2016 in Kraft. Mit der neuen Änderung können Täter, die Minderjährige missbraucht haben, ähnlich wie bei Sex-Vergehen gegen Erwachsene behandelt werden - d.h. sie können mit geringeren Strafen oder Freispruch rechnen. Denn für Minderjährige ist es kaum möglich, sich gegen die Erwachsenen zu verteidigen. Schon gar nicht bei dem Tabuthema sexueller Missbrauch.
Mit Eiltempo zurück ins letzte Jahrhundert
Zwangsheiraten, Minderjährigenehen und sexueller Missbrauch von Abhängigen, wird die Tür wieder geöffnet. Es dürfen wieder Verhältnisse wie im letzten Jahrhundert Einzug halten: Da werden Mädchen schon im Kindesalter älteren Männern versprochen. Kinderbräute seien schon jetzt ein Problem in der Türkei, berichtet die Koordinatorin der Istanbuler Frauenvereine, Nazan Moroğlu. Schon jetzt gäbe es 3,5 Millionen "Kinderbräute", so berichtet die Juristin der Hürriyet Daily News.
Eine Studie der Sabancı-Universität kommt zu dem Ergebnis, dass es in der Türkei 37% Kinderehen gibt. Davon sind allerdings auch alle Ehen mit Jugendlichen erfasst. Von einer "Kinderehe" spricht die Studie nämlich schon dann, "wenn mindestens ein Partner die Volljährigkeit noch nicht erreicht hat und die Zustimmung der Eltern braucht". Prominentes Beispiel dafür ist der ehemalige türkische Staatspräsident Abdullah Gül (2007-2014), der seine Frau Hayrünissa zwei Tage nach deren 15. Geburtstag heiratete.
In der Türkei werden Ehen oft nicht auf der Basis freier Partnerwahl geschlossen, sondern es sind ökonomische oder machtpolitische Bündnisse der Patriarchen. Die Mädchen und jungen Frauen verlassen mit der Verheiratung, die oft schon im Kleinkindalter von der Großfamilie festgelegt wurde, die elterliche Familie und kommen in den Haushalt des Ehemanns. Dort müssen sie sich den Gegebenheiten unterordnen, was oft auch mit Gewalt erzwungen wird, da sich die Ehepartner zum Teil bis kurz vor der Hochzeit nicht kennen. In vielen Fällen geht die Heirat einher mit Schulabbrüchen der Mädchen.
Auch der sexuelle Missbrauch von Minderjährigen fällt unter die Annullierung des Missbrauchsgesetzes. Im April dieses Jahres wurde in der zentralanatolischen Provinz Karaman ein Lehrer der ENSAR Stiftung wegen Missbrauch verhaftet. Die Stiftung steht in enger Beziehung zur Regierungspartei AKP. Offiziellen Verlautbarungen nach soll es 8 Fälle gegeben haben, es wird aber angenommen, dass es mehr als 45 Schüler betrifft.
Die Provinzzweigstelle der ENSAR-Stiftung in Karaman mietete eigens Wohnungen an, in denen der Lehrer "Privatunterricht" gab. Die Stiftung lehnte jede Verantwortung ab, obwohl die Unterbringung der Schüler in den Wohnungen illegal war.
Im Juni 2016 ist ein 29-jähriger Türke zu 108 Jahren Gefängnis wegen sexuellen Missbrauchs von syrischen Flüchtlingen verurteilt worden. Er soll in einem Flüchtlingslager in Nizip in der südlichen Provinz Gaziantep auf den Toiletten acht syrische Minderjährige sexuell missbraucht haben. Im Gegenzug habe er ihnen anderthalb bis fünf türkische Lira (0,45 bis 1,50 Euro) gezahlt.
Ein Reporter der Zeitung Birgün recherchierte zu den Vorwürfen und fand heraus, dass mindestens 22 weitere Opfer betroffen seien. Er deckte mit seinen Recherchen auch den Missbrauchsskandal bei der ENSAR Stiftung in Karaman auf.
Das Flüchtlingslager in Nizip gilt als Vorzeigeeinrichtung. Bundeskanzlerin Angela Merkel besuchte es im April mit dem damaligen türkischen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoglu. Das Flüchtlingslager untersteht der staatlichen Katastrophenschutzbehörde Afad. Schon vor dem Vorfall gab es Vorwürfe, in Einrichtungen von Afad würden Frauen vergewaltigt oder zur Prostitution gezwungen. Die der AKP nahestehende Behörde schweigt beharrlich dazu. Unklar ist, ob das Gesetz, wenn es im Januar 2017 in Kraft tritt, auch rückwirkend für die noch zu verhandelnden Missbrauchsklagen gilt. Wenn ja, können sich so einige Täter freuen. Und sich ermutigt fühlen.