Türkei vertreibt die letzten Eziden aus Syrien

Ezidische YBS-Kämpfer in Shingal. Bild: ANF

Die religiöse Minderheit der Eziden ist im Kanton Afrin akut bedroht. Die Organisation "Eziden weltweit" hat sich in einem dringenden Appell an die UNO, die EU und auch an die Bundesrepublik gewandt

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Seit dem Einmarsch der türkischen Armee wird das letzte zusammenhängende Siedlungsgebiet von 20 ezidischen Dörfern in Syrien systematisch geplündert und zerstört, die Bewohner vertrieben. Videos und Fotos aus Afrin zeigen, wie die dschihadistischen Kämpfer unter der Regie der türkischen Armee Denkmäler und Häuser in Afrin plündern.

Eine besondere Demütigung stellte die Zerstörung der kurdischen Statue des Schmiedes Kawa auf dem zentralen Platz in Afrin Stadt dar. Fotos zeigen triumphierende Islamisten bei der Zerstörung, im Hintergrund ein deutscher Panzer der türkischen Armee. Der Schmied Kawa hat in der kurdischen Mythologie und auch bei den Eziden eine besondere Bedeutung, besonders am kurdischen Newrozfest, das letzte Woche, am 21. März international gefeiert wurde.

Afrin war die Heimat von vielen Minderheiten. Assyrer, Suroyer, Kurden, Aleviten und Eziden lebten in der bislang vom Krieg verschonten Region friedlich zusammen. Aktuell sind besonders die Eziden von der kulturellen Vernichtung betroffen. Aus dem Siedlungsgebiet der Eziden in der Türkei wurden sie schon beim Genozid der Armenier 1915 und dann in den 1990er Jahren vertrieben. Die meisten Eziden aus der Türkei leben mittlerweile in Deutschland und Schweden. Der nächste Genozid ereignete sich 2014 im Shengal im Nordirak.

"Zeigt uns die Häuser der Eziden!"

Melav Bari, eine aus Syrien stammende Medizinerin von der "Gesellschaft ezidischer AkademikerInnen" (GEA) berichtete auf der Landespressekonferenz Brandenburg, dass die von der Türkei unterstützten Islamisten, wie der IS auch, die Eziden als "Ungläubige" betrachtet. Videos belegen, wie die in den Dörfern verbliebenen Bewohner, überwiegend alte Menschen, nach IS-Manier verhört werden. Ezidische Heiligtümer werden zerstört, ein heiliger Baum wurde geschändet.

Es mehren sich Berichte, nachdem mehrere Menschen spurlos verschwunden und ezidische Frauen verschleppt worden seien. Der Zentralrat der Eziden (ZÊD) berichtete, dass verbliebene Menschen in den Dörfern eine "Überprüfung" über sich ergehen lassen müssten, ob sie Muslime seien, indem sie genötigt werden, ein rezitiertes islamisches Gebet um weggelassene Wortinhalte zu ergänzen.

Ezidische Dörfer werden gleich niedergebrannt. So geschehen im Dorf Xezêwiyê Ezidipress berichtete von einer regelrechten Jagd auf Eziden. Das Dorf Qibare (arab. al-Hawa) im Nordosten der Afrin-Region mit ca. 6000 Einwohnern wurde zur Hälfte von Eziden bewohnt. Das Dorf verfügte über drei ezidische heilige Pilgerstätten. Die Dschihadisten durchforsteten nach der Einnahme jedes Haus und befragten verbliebene Muslime nach den ezidischen Häusern. Ein Dorfbewohner zeigte ihnen die Häuser der Eziden, die daraufhin bereits verlassenen Häuser und Höfe der Êzîden stürmten und das zurückgelassene Hab und Gut plünderten.

Seit der Eroberung des Dorfes Qastel Jindo werden drei ältere Eziden vermisst. Zuvor soll der türkische Staatssender TRT Haber die Greise zu Propagandazwecken interviewt haben, berichtet der Zentralrat der Eziden.

Die GEA und der Ezidische Frauenrat e.V. fordern, neutrale Beobachter in die Region zu schicken, um die Lage zu beobachten und zu dokumentieren. Der Minderheitenschutz müsse besonders nachdrücklich eingefordert werden, insbesondere für die Eziden, die nunmehr schutzlos seien.

Die GEA kritisiert darüber hinaus, dass die Asylanträge von mittlerweile mehr als 1000 Eziden vom Bundesministerium für Migration und Flüchtlinge (BAMF) abgelehnt worden seien. Durch die erneute Vertreibung der ezidischen Bevölkerung ist davon auszugehen, dass vermehrt Eziden in Deutschland um Asyl ersuchen. Holger Geisler, Herausgeber der Zeitschrift Lalish-Dialog, betonte, die Bundesregierung müsse ihrem Versprechen, dass nie wieder ein Genozid an den Eziden wie 2014 in Shengal zugelassen werden dürfe, endlich Taten folgen lassen.

Wie gegensätzlich Landes- und Bundespolitik bisweilen sein können, zeigt sich an folgendem Beispiel: Während die Bundesregierung weitere Waffenlieferungen an die Türkei in Aussicht stellt und der Zerstörung und Vertreibung der Eziden aus Afrin tatenlos zusah, kündigte der Brandenburger Staatssekretär Martin Gorholt (SPD) im Rahmen des Brandenburger Aufnahmeprogramms an, dass es nun sehr schnell zwei Projekte im Nordirak geben werde. In den ezidischen Siedlungsgebieten im Nordirak solle eine Schutzzone für Frauen und Kinder eingerichtet werden, in der sie betreut werden. Eventuell könnten sie dann später in Brandenburg Asyl zu erhalten. Mit dem UNHCR wurde die Aufnahme von bis zu 60 Personen in Brandenburg vereinbart. Das Land Brandenburg wolle insgesamt eine Million Euro für diese Projekte einsetzen, so Gorholt. In Rom wurde eine Delegation der ezidischen Akademiker vom Papst empfangen. Papst Franziskus habe sich sehr betroffen über die Situation der Eziden gezeigt,berichtet die Lokalzeitung aus Löhne. Dort entsteht in einem Wasserschloss ein Zentrum, das Eziden eine kulturelle Heimat geben soll. Eine Heimat, die es im Nahen Osten nicht mehr gibt.

Das Nachrichtenportal Ezidipress vertritt daher die Ansicht, die Eziden "sollten sich angesichts dieser Realität eingestehen, dass für sie die Zukunft im Nahen Osten vorüber ist. Nach der Türkei wird nun auch Syrien praktisch Eziden-frei werden. Mehr als die Hälfte der weltweit nur rund 800.000 Eziden lebt bis heute als Flüchtlinge in Zelten. Über 200.000 der rund 500.000 Eziden im Irak sind bereits geflüchtet; zurückkehren will so gut wie niemand."

Eziden im Shengal (Nordirak) beunruhigt über Abzug der PKK

Nachdem der türkische Präsident Erdogan mehrmals angekündigt hat, türkische Truppen könnten eines nachts ins Shengal-Gebiet eindringen und dieses von den dortigen PKK-Mitgliedern säubern, sind die dort verbliebenen Eziden beunruhigt. Sie betrachten das Shengal-Gebirge als Wiege der Eziden und ältestes Siedlungsgebiet.

Die Beunruhigung stieg, nachdem die im Shengal verbliebenen PKK-Einheiten letzten Freitag ihren Rückzug erklärten. Dies erfolgte offenbar vor dem Hintergrund der erneuten Drohungen der türkischen Regierung, militärisch gegen die PKK im Shengal - auch mit Bodentruppen- vorgehen zu wollen. Dem vorangegangen waren Verhandlungen zwischen Vertretern des irakischen Militärs und des Verteidigungsministeriums und PKK-Funktionären. Die irakische Regierung protestierte, im Gegensatz zu der Barzani-Partei KDP, scharf gegen die Militäroperationen der Türkei im Nordirak Richtung Kandil-Gebirge, wo die PKK ihren Hauptsitz hat, und insistierte daher offenbar, dass es besser wäre, die PKK zöge sich aus Shengal zurück, um die Eziden dort nicht ein weiteres Mal zu gefährden.

Seit 2014, nach dem Überfall des IS im August 2014, befanden sich zum Schutz der Eziden Einheiten der PKK im Shengal, nachdem sie mit der YPG/YPJ einen Korridor nach Rojava für die ezidischen Flüchtlinge erkämpft hatten. Monatelang lieferte sich die PKK einen blutigen Häuserkampf gegen den IS in Shengal-Stadt. Darüber hinaus bildete sie die ezidische Selbstverteidigungseinheit YBŞ aus, die heute aus etwa 1.500 Kämpfern besteht.

Da die Peschmerga die Eziden beim Überfall des IS sich selbst überlassen hatten und flohen, sowie in der folgenden Zeit nicht für den Schutz dieser extrem bedrohten Bevölkerungsgruppe sorgen konnte, sollte die ezidische Bevölkerung in die Lage versetzt werden, sich selbst verteidigen zu können. Die irakische Regierung sieht durch die Drohungen der Türkei ihre territoriale Souveränität bedroht und will keinen Krieg zwischen dem Irak und der Türkei riskieren. Erdogan wird mittlerweile überall zugetraut, zu zündeln.

Während der Verhandlungen in Khanasor haben sich PKK und irakische Regierung darauf verständigt, dass die PKK die von ihr kontrollierten Gebiete an die irakische Regierung übergibt. Damit sind die Peschmergas von Barzanis KDP, die den Shengal immer als ihr Herrschaftsgebiet verstand, draußen. Obwohl Teile der Eziden, die sich als Kurden mit dem kurdischen Autonomiegebiet verbunden fühlten, die Peschmerga unterstützten, sieht die Mehrheit der verbliebenen Eziden ihre Zukunft, wenn auch mit Misstrauen, eher in einer Autonomieregion unter irakischer Herrschaft.

Enttäuschung bei den arabisch-sunnitischen Stämmen

Die arabisch-sunnitischen Stämme setzten hingegen große Hoffnungen auf Erdogans neo-osmanische Großmacht-Phantasien. Die Türkei hat in den letzten Jahren auf ihrem Militärstützpunkt Bashiqa im Norden des Irak gezielt Mitglieder dieser Stämme ausgebildet. Diese hofften nun, bei einer möglichen Offensive der Türkei in Shengal, ähnlich wie gerade in Afrin, von der Türkei unterstützt zu werden und die Shengal-Region sowie Tal Afar und Baaj erobern zu können.

Das könnte schwierig werden, weil der Türkei nach dem Rückzug der PKK die Argumentationsgrundlage fehlt. Allerdings ist damit zu rechnen, dass die türkische Regierung, wie sie das mit den Oppositionellen in der Türkei auch macht, die ezidische Selbstverteidigungseinheit YBŞ als PKK-Organisation oder Terrorunterstützer erklärt, um einen Vorwand für den Einmarsch zu haben.

Aber anders als in Syrien sind die YBŞ von der irakischen Zentralregierung als ezidische Einheit anerkannt. In den Verhandlungen wurde vereinbart, dass die YBŞ in die irakischen Sicherheitskräfte integriert werden. Damit unterstehen sie künftig irakischem Kommando, dürfen aber die bisher von ihr kontrollierten Gebiete im Westen der Region als irakische Polizei und Sicherheitskräfte weiterhin bewachen. Es wird keine Entwaffnung der verschiedenen ezidischen Einheiten geben, wie dies bei den KDP-Peschmerga 2014 beim Überfall des IS der Fall war.

Ob dieses neue Vertragskonstrukt langfristig im Irak Bestand hat und die Eziden tatsächlich als religiöse und ethnische Minderheit mit ihren Interessen partizipieren können, bleibt abzuwarten.

Viel hängt auch davon ab, wie sich der Westen positioniert. Wenn die Bundeswehr nun das irakische Militär stärken will, begibt sie sich (mal wieder) in Opposition zu Erdogans Interessen, der ja bekanntlich sein Reich bis nach Kirkuk ausweiten will. Damit dies im Einklang mit bundesdeutschen Ambitionen bleibt, sollte sich Erdogan vielleicht Sigmar Gabriel als neuen Außenminister ins Amt holen. Im Tagesspiegel am Sonntag hat er sich schon beworben.