Türken sind die wahren Bildungsbürger
Arme und Ausländer sind nicht bildungsunwillig - im Gegenteil. Sie sind nur desillusioniert. Teil 1 einer zweiteiligen Serie zu Integration und Bildung
Türken (und Kurden) in Deutschland sind selten Vorstandsvorsitzende, Professoren oder Intendanten, sondern eher Dönerbräter, Bauarbeiter, Putzfrau, Lagerist, Kosmetikerin, Politiker oder arbeitslos. Das sagt nicht nur das Klischee, das sagen auch Statistik und Forschung.
Diese Überrepräsentation in niederqualifizierten Tätigkeiten kommt nicht von ungefähr: Schon im deutschen Bildungssystem schneiden Ausländer, und insbesondere solche aus der Türkei, erheblich schlechter ab als Deutsche. In den verschiedenen IGLU-, TIMSS- und PISA-Studien liegen sie in Lesefähigkeit und mathematischer Kompetenz stets an die 10% unter ihren deutschen Mitschülern. Folglich sind Schüler mit türkischer Herkunft häufiger an Haupt- und Sonderschulen zu finden und seltener an Realschulen und Gymnasien; eine Berufsausbildung beginnen sie seltener und brechen sie häufiger ab.
Woran liegt das? Für Einige scheint das klar zu sein: An einer fremden Kultur, die Anpassung ablehne und muskelbetonte Männlichkeitsvorstellungen bewahre, an einer vormodernen Religion, letztlich am Koran, der das Vorlesen im Paradies 40 Jungfrauen überlasse. Oder so ähnlich.
Es genügt nicht, diese Erklärung als rassistisch abzulehnen, auch wenn sie das zweifellos ist. Dass eine Behauptung moralisch missliebig ist, widerlegt sie nicht. Dazu braucht man Fakten. Es gibt sie.
Die Kluft schließt sich
Wer nur auf Zustände starrt und für Entwicklungen blind ist, sieht die Wirklichkeit nicht. Nicht ohne Grund modellieren Mathematiker die Welt in Differentialgleichungen. Nur die Veränderung ist relevant.
Der Anteil junger Migranten, die eine Bildungseinrichtung besuchen, hat sich seit Jahren erhöht, wie sich den regelmäßigen Bildungsberichten der Bundesregierung entnehmen lässt (s. Abbildung). Zwischen 16 und 19 Jahren gibt es keinen Unterschied mehr zwischen Heranwachsenden deutscher und nicht-deutscher Herkunft. In der nächsthöheren Altersgruppe bis 24 Jahre haben gerade junge Erwachsene aus der Türkei eine bemerkenswerte Aufholjagd hingelegt und die Urdeutschen nahezu erreicht, und auch in der Altersgruppe bis 29 Jahre schließt sich der Spalt.
Nicht nur die Quantität der Ausbildung ausländischer Jugendlicher hat in den letzten Jahrzehnten zugenommen, sondern auch die Qualität. In den Grundschulen verringerte sich der Abstand zwischen Viertklässlern mit und ohne Migrationshintergrund in der Leseleistung mit jeder IGLU-Studie von 2001 (55 Punkte Differenz) bis 2011 (42 Punkte), 2016 stagnierte er, weil sich auch die Deutschen verbesserten. Ähnlich sieht es in den TIMSS-Studien mit mathematischen und naturwissenschaftlichen Fähigkeiten aus.
So kommt es, dass bei einer Untersuchung aus dem Jahr 2009 unter Kölner Grundschülern die Wahrscheinlichkeit für türkische Schüler, anschließend aufs Gymnasium oder die Realschule zu gehen, von der zweiten zur dritten Migrantengeneration zunahm. Das ließ sich auf verbesserte Leistungen zurückführen, blieb aber auch nach Korrektur für die Noten noch erkennbar. Darauf kommen wir unten zurück.
Und in den PISA-Studien, welche den Leistungsstand von 15-Jährigen ermitteln, verdankt Deutschland den Anstieg in der Lesekompetenz zwischen 2000 und 2012 (von 484 auf 508 Punkte) sogar vorwiegend dem Umstand, dass die Schüler mit Migrationshintergrund deutlich verbesserten. In der jüngsten Studie 2018 vergrößerte sich der Abstand zwar wieder, aber das war vorwiegend erstens auf die Verbesserung der urdeutschen Schüler zurückzuführen (zum ersten Mal seit 2009), und zweitens auf die schlechten Leistungen von Einwanderern der ersten Generation - also vermutlich Jugendlichen, die seit 2015 gekommen sind. Auch in den mathematischen Fähigkeiten verringerte sich der Abstand von 81 Punkten 2003 auf noch 54 Punkte im Jahr 2012.
In der Folge gleichen sich auch die Schulformen an, welche urdeutsche und migrantische Jugendliche besuchen. Schon zwischen 2000 und 2006 wanderten 3% der ausländischen Jugendlichen von der Hauptschule hinüber in Realschule und Gymnasium. Dieser Trend hat sich fortgesetzt. Laut PISA-Studie 2018 hat sich der Anteil von Jugendlichen der zweiten Einwanderergeneration, die auf das Gymnasium gehen, seit 2009 um zehn Prozentpunkte erhöht. Dementsprechend verringert sich der Anteil von ausländischen Schülern ohne Abschluss. Von 2000 bis 2012 ist ihr Prozentsatz von 20% auf unter 15% gesunken.
Der Hunger nach Bildung
Wenn von Jahr zu Jahr mehr Jugendliche ausländischer Herkunft gute Schulleistungen erbringen, an die Gymnasien gehen, Abitur machen und studieren, dann ist das Vorurteil, die orientalische Kultur oder wahlweise der Islam verhindere die Integration, offensichtlich widerlegt. Zumal die aufwendigen Bildungsstudien stets noch etwas mehr aussagen: In der statistischen Analyse lassen sich die weiterhin vorhandenen Unterschiede zwischen Kindern und Jugendlichen deutscher und ausländischer Herkunft stets nahezu vollständig durch den sozioökonomischen Hintergrund der Schüler erklären.
Was bedeutet das? Die IGLU-, TIMSS- und PISA-Studien fragen stets auch nach dem höchsten Schulabschluss und dem Einkommen der Eltern, oder auch danach, wie viele Bücher es zu Hause gibt. In diesen Punkten sind Eltern, die vor fünfzig Jahren von einem anatolischen Bauernhof nach Deutschland gekommen sind, verständlicherweise schlechter dran als deutsche Ureinwohner mit ererbter Bibliothek. Zugleich aber sind das Faktoren, die naheliegend den Bildungserfolg der Kinder beeinflussen. Und die Analyse zeigt: Bei gleichem sozioökonomischen Status gibt es zwischen einem urdeutschen und einem türkischstämmigen Kind kaum noch einen Unterschied; der Rest lässt sich durch die daheim gesprochene Sprache und die Anzahl Bücher im Regal erklären.
Das wiederum bedeutet, dass schlechte Bildung in Deutschland kein Migrations-, sondern ein Schichtenproblem ist. Ein Neuköllner Hauptschüler scheitert nicht deshalb am Bildungssystem, weil er Ramazan heißt, sondern weil seine Eltern genauso ungebildete arme Schlucker sind wie die seines Schicksalsgenossen Kevin.
Gerade Ramazans Eltern aber wollen daran etwas ändern: Die hohe Bildungsaspiration von Migranten ist ein bekanntes Phänomen in der Forschung.
Was ist damit gemeint? "Bildungsaspiration" bedeutet so viel wie das Interesse an institutionalisierter Ausbildung. Und das ist bei Menschen mit Migrationshintergrund sogar höher als bei solchen ohne.
Das mag auf den ersten Blick überraschen, sind orientalische Einwanderer doch trotz ihres Aufholens (s.o.) an Gymnasien und Universitäten weiterhin unterrepräsentiert. Das aber lässt sich, wie gesagt, auf ihren sozioökonomischen Status zurückführen. Wenn man diesen sowie die Schulnoten herausrechnet, also urdeutsche und ausländische Schüler mit gleichem Elternhaus und gleichen Noten vergleicht, dann ist die Wahrscheinlichkeit für türkischstämmige Grundschüler, aufs Gymnasium zu gehen, deutlich höher als die von urdeutschen. Weitere Studien haben das bestätigt (S. 56ff), und auch in der Schweiz ist die hohe Bildungsaspiration von Türken bekannt.
Das große Bildungsinteresse setzt sich fort, wenn die Sextaner erwachsen werden. Türkische Abiturienten beginnen häufiger zu studieren als deutsche, und wieder wird der Aufstiegswille noch sichtbarer, wenn man die Abiturnoten und den sozialen Hintergrund herausrechnet: Dann ist es für türkischstämmige Abiturienten ungefähr 3,4 mal so wahrscheinlich, ein Studium aufzunehmen, wie für deutsche. Der Bildungsbericht 2020 (S. 187) bestätigt das für die Gegenwart: Je schlechter die Abiturnote, desto auffallender wird die stärkere Studierwilligkeit der ausländischen Abiturienten.
Und wer den Zug in der Jugend verpasst hat, holt das Versäumte oft später nach. Migranten sind unter Abendschülern überrepräsentiert; auch noch auf Abendgymnasien ist ihr Anteil etwas höher als in der Gesamtbevölkerung. An den Unis haben dann 23% der Studierenden einen Migrationshintergrund, sind also klassische Bildungsaufsteiger und besonders ambitioniert. Zwar fordert die Selbstüberschätzung, die sich in den teils schlechteren Abiturnoten äußert, ihren Tribut; die Abbrecherquote ist unter Studenten mit nicht-deutschen Vorfahren besonders hoch. Trotzdem gehören noch 17% der Absolventen zu dieser Gruppe, davon wiederum 12% Türken.
Diese trockenen Zahlen kann ich aus eigener anekdotischer Anschauung bestätigen. Meine Frau ist als 19-Jährige aus dem türkischen Kurdistan nach Deutschland gekommen. Sie sprach kein Deutsch und hatte kein Abitur. Ersteres lernte sie quasi im Handumdrehen und bemerkenswert akzentfrei. Dann ackerte sie sich verbissen durch Abendhaupt- und Abendrealschule und Abendgymnasium, studierte Bachelor, Master und promovierte schließlich. In diesem Artikel stütze ich mich auf ihre Masterarbeit.
In ihrer Familie wird sie als Vorreiterin gesehen. Ihre Geschwister haben kein Abitur erlangt, sprechen teils nur gebrochen Deutsch, schieben aber ihre Kinder auf Biegen und Brechen aufs Gymnasium. Mehrere Nichten und Neffen haben auf Entscheidung der Eltern "freiwillig" die vierte Klasse wiederholt, damit es im zweiten Anlauf fürs Gymnasium reichte. Die Älteste studiert mittlerweile (natürlich Wirtschaft).
Fazit
Selbstverständlich gibt es auch die Gegenbeispiele: Azzlacks, die Schulschwänzen zum Leistungssport erheben, Rich Kids, die jegliche Anstrengung unter ihrer Würde finden, und einfach nette Leute, bei denen es intellektuell halt hinten und vorne nicht reicht. Dazu kommen wir im zweiten Teil.
Aber wir können hier ein wichtiges und beherzigenswertes Zwischenfazit ziehen: Alle Menschen sind verschieden - auch Ausländer. Im Mittel aber sind Einwanderer, egal woher, nicht bildungsunwillig. Im Gegenteil: Sie lechzen nach einer guten Schulbildung und wünschen sich einen akademischen Abschluss, auch und gerade dann, wenn das völlig unrealistisch ist (45% der Eltern von türkischen Hauptschülern sagen, ihr Kind solle später studieren). Woher diese hohe Bildungsaspiration kommt, und weshalb sie doch oft nicht zum Ziel führt, darum wird es im zweiten Teil dieser Miniserie gehen.
Die Masterarbeit meiner Frau, auf die ich mich mit diesem Artikel beziehe, ist auch veröffentlicht worden:
Devrim Lehmann-Kaya (2015) "Integration: Master oder Mercedes." Bibliotheca Academica, Reihe Soziologie, Band 12, im Ergon-Verlag.
Meine Integrationskomödie "Love love pilav. Ein Sommernachtsmärchen" ist 2019 im Deutschen Theaterverlag (DThV) erschienen. Die ersten Aufführungen sind bisher leider an Corona gescheitert.