Türkische Justiz schont IS-Kämpfer

Süleymaniye-Moschee in Istanbul. Bild: Quantum666/gemeinfrei

Während die Opposition verfolgt wird, rückt die AKP näher an radikalislamische Organisationen, IS-Kämpfer werden aus der Haft entlassen.

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Es wird viel demonstriert in der Türkei. Zahlreiche oppositionelle Gruppen stellen sich der regierenden AKP zunehmend mutiger in den Weg. Nach dem von der CHP initiierten Gerechtigkeitsmarsch ist nun auch die HDP auf den Straßen, doch ihre Demos und Kundgebungen werden von der Polizei massiv behindert. Ein Park in Ankara, in dem Abgeordnete der Partei sprechen wollten, wurde abgeriegelt, so dass es kein Publikum gab.

Aber auch innerhalb der Partei von Recep Tayyip Erdogan rumort es. Ex-Präsident Abdullah Gül rückte zuletzt vom Kurs des Staatschefs ab. Pro Woche werden durchschnittlich 900 bis 1000 Menschen festgenommen, gegen fast alle wird Anklage erhoben, gut ein Drittel landet in Untersuchungshaft. Es sind Journalisten, Akademiker, Gewerkschaftler, echte oder vermeintliche Gülen-Anhänger.

In der vergangenen Woche wurden mehrere Personen festgenommen, weil sie ein weißes T-Shirt mit der Aufschrift "Hero" trugen. Das Shirt ist Massenware, zigtausendfach verkauft. Ein wegen Verdacht auf Beihilfe zum Putschversuch angeklagter Mann trug es während seiner Festnahme. Seither wird das Tragen dieses Kleidungsstücks als Unterstützung für die Putschisten ausgelegt. Der Hersteller, die Textilkette DeFacto, hat es inzwischen vom Markt genommen. Kein Grund ist mehr zu absurd, um Menschen zu Opfern des Willkürsystems zu machen.

Am Samstag zogen tausende Frauen durch die Istanbuler Innenstadt. Sie demonstrierten gegen die zunehmende Gewalt gegen Frauen und die Versuche des konservativen Lagers, rigide Kleiderregeln durchzusetzen. Offiziell soll in der Hinsicht nichts passieren. Aber im Alltag erhöht sich der Druck. Mehrfach wurden Frauen angegriffen, weil sie zu kurze Röcke oder zu freizügige Oberteile trugen. Noch während die Demo stattfand, wurden zwei junge Frauen mit dieser Begründung von privaten Sicherheitsmännern aus dem zentrumsnahen Macka Park vertrieben. Sie erstatteten Anzeige. Ob das etwas bringt, ist aber fraglich.

Lange Zeit war Istanbul vor allem als eine sichere und liberal-offene Stadt bekannt. Eine Stadt, in der die meisten Menschen so sein konnten, wie sie wollten und wo der vielzitierte plakative Clash of Cultures friedlich funktionierte. Religiöse lebten mit Säkularen Tür an Tür, und man kam weitgehend gut miteinander zurecht, auch weil die Grenzen der jeweils anderen Gruppe respektiert wurden. Doch die Stimmung kippt zusehends.

NachlässigerUmgang mit religiösen Fundamentalisten

Während heute jeder, der nicht auf AKP-Linie ist, seine Freiheit riskiert, geht die türkische Regierung mit religiösen Fundamentalisten betont nachlässig um. Im Syrienkrieg kooperiert die Türkei gar offen mit extremistischen Gruppen. Und die Nähe der AKP zu radikalislamischen Akteuren ist unübersehbar.

Die Evolutionstheorie wurde aus den Lehrplänen der Schulen gestrichen, stattdessen soll es fortan Dschihad-Unterricht geben. Öffentliche Schulen werden den religiösen Imam-Hatip-Schulen angeglichen. Das türkische Bildungsministerium hat nun einen neuen Vertrag mit der Ensar-Stiftung geschlossen. Sie soll zukünftig für außerschulische und sportliche Aktivitäten mit den Schulen kooperieren.

Ensar ist eine der mächtigsten religiösen Stiftungen der Türkei und eng mit der AKP verflochten. Im Laufe des letzten Jahres wurden ihr zahlreiche vom Staat enteignete Gülen-Schulen übergeben, so dass sie ihr Netz noch weiter ausbauen konnte. Dabei war die Stiftung im vergangenen Jahr in einen Pädophilie-Skandal verwickelt, bei dem es um vielfachen schweren Kindesmissbrauch ging. Zwar wurde der Haupttäter inzwischen zu mehr als 500 Jahren Haft verurteilt. Für die Stiftung selbst gab es aber keine Konsequenzen und auch keine weiteren Untersuchungen - weil die AKP intervenierte.

Wer sich offen gegen radikalislamische Gruppierungen wendet, riskiert derweil, ins Fadenkreuz der Staatsmacht zu geraten. So soll Hidayet Karaca, ehemaliger Manager des Gülen-nahen, inzwischen verbotenen Fernsehsenders Samanyolu TV, für 40 Jahre ins Gefängnis. Und zwar weil er zusammen mit anderen Journalisten negativ über die Gruppe Tahşiyeciler berichtet haben soll. Die Berichterstattung wird ihm und seinen Kollegen als konspirativer Akt ausgelegt. Tahşiyeciler selbst gilt als terroristische Gruppierung, die Al-Qaida nahestehen soll.

IS-Verdächtige werden oft schnell und geräuschlos wieder freigelassen

Interessant ist das angesichts der Tatsache, dass die AKP offiziell eine harte Linie gegen jegliche terroristische Organisation führt und regelmäßig den IS, die PKK und die Gülen-Bewegung (unter dem Propagandabegriff FETÖ) in eine Reihe stellt. Es gebe zwischen diesen Gruppen keinen Unterschied, verkündete Erdogan mehrfach. In der Behandlung allerdings gibt es gewaltige Unterschiede.

Zwar finden immer wieder öffentlichkeitswirksam durchgeführte Festnahmen von IS-Kämpfern und -Anhängern statt. Oft werden diese aber schon nach kurzer Zeit geräuschlos wieder freigelassen. So zum Beispiel Ende Juni in Antep. Vor Gericht standen dort 60 Personen, die maßgeblich an den verheerenden Anschlägen in Suruc und Ankara im Jahr 2015 beteiligt gewesen sein sollen, bei denen mehr als 100 Menschen starben und unzählige teils schwer verletzt wurden. Geplant und durchgeführt wurden die Anschläge von Yunus Durmaz, der sich im Mai 2016 selbst in die Luft gesprengt hatte. 39 der Angeklagten wurden, teils unter Auflagen, freigelassen. Es war nicht der erste derartige Fall.

Erkan Capkin soll maßgeblich an dem Attentat im Istanbuler Zentrum beteiligt gewesen sein, bei dem am 19. März 2016 vier Menschen getötet wurden. Im März 2017 wurde er mit Hinweis auf seinen Gesundheitszustand aus der Haft entlassen. Solche Milde gibt es bei Häftlingen, die der Opposition angehören, nicht. Immer wieder gibt es Berichte über schwer kranke Gefangene, denen medizinische Hilfe verweigert wird und die vergeblich mit Verweis auf ihren Zustand eine Freilassung zu erwirken versuchen.

Ein anderer IS-Kämpfer wurde in Istanbul erst verhaftet und dann wieder freigelassen. Die abenteuerliche Begründung des Gerichts: Er habe einen "festen Wohnsitz" in Istanbul. Darüber zeigte sich laut Hürriyet sogar der Anwalt des Angeklagten erstaunt. Die entlassenen IS-Verdächtigen in Antep können sich derweil mit Dschihad-Literatur eindecken und beim Bücher-Shoppen ihre Gesinnungsgenossen unterstützen. Wie BirGün berichtet, betreibt der IS in der türkischen Stadt einen Buchladen, der zugleich als logistisches Zentrum der Organisation innerhalb der Türkei dienen soll.