Türkische Proxy-Truppen: "Das übelste Gesindel"
Milizen der "Nationalen Syrischen Armee" machen mit Greueltaten auf Gangstertum in ihren Reihen aufmerksam. Früher wurden sie als FSA noch von Golfstaaten und westlichen Ländern unterstützt
Es gibt viele Fragen, große und nebensächliche, die durch die türkische Offensive in Nordsyrien aufgeworfen werden. Zu den Fragen am Rand des Geschehens gehört, was eigentlich die White Helmets jetzt so machen, da eine syrische Zivilbevölkerung erneut Bombardements ausgesetzt ist?
Immerhin tragen die Weißhelme ja einen großen nationalen Anspruch in ihrem Titel. Sie nennen sich "Syria Civil Defence" und nicht etwa "Idlib Civil Defence". Mit ihrem Anspruch, dass ihre heroischen Hilfsaktivitäten für das ganze unterdrückte Syrien stehen, haben sie große Sympathien in den westlichen Medien und in Hollywood (George Clooney) gewonnen, finanzielle Unterstützung von der britischen und der französischen Regierung bekommen, gute Presse allenthalben und Prestige, wie etwa bei den Empfängen im französischen Präsidentenpalast. Sie standen für das "bessere Syrien", das sich gegen den brutalen Diktator, dessen Fassbomben und die russischen Helfer wehrt.
Wer sie weiter als unabhängige zivile Hilfsorganisation begreifen will, der an der Linderung der Leiden im "vom Krieg gebeutelten Syrien" liegt, könnte sich anhand ihres Einsatzschwerpunktes in Idlib und im Gebiet bei Aleppo die Frage stellen, wie es kommt, dass die Truppe ihre PR-Bilder immer nur in Herrschaftsgebieten oppositioneller, islamistischer Milizen macht?
Ist das tatsächlich diese unabhängige und neutrale Organisation, auf deren Zeugenaussagen sich die von westlichen Regierungen erhobenen Giftgas-Angriffsklagen gegen die syrische Armee wesentlich stützten? Könnte sich der Chor der westlichen Verteidiger zivilisatorischer Werte (Spiegel, Zeit, SZ, Tagesschau) bei seinem Blick auf die Situation in Syrien etwa in ein paar Punkten getäuscht haben?
Die Nationale Syrische Armee
Auch zur neuen "Nationalen Syrischen Armee", die als Infanterie für den türkischen Militäreinsatz in Nordsyrien dient, gibt es ein paar Fragen. Die ganz große lautet, ob sie im Erfolgsfall mit den Syrern auf der Seite Baschar al-Assads so umgegangen wäre, wie die Ahrar al-Sharkiya mit drei Kurden, die sie auf der Schnellstraße M4 festgehalten und "standrechtlich" getötet hat?
Die Grausamkeiten, an denen auch der Chef der Gruppe beteiligt war, wurden von der Miliz auf Videos dokumentiert und verbreitet (die Videos dazu kursieren im Netz, werden aber hier nicht verlinkt). Wir hatten schon berichtet: Türkei bombardiert gezielt IS-Gefängnisse).
In der UN bewertet man dies als Kriegsverbrechen.
Welche Kontrolle ist möglich?
Ahrar al-Sharkiya (im Deutschen korrekt mit Ahrar asch-Scharkija transkribiert) wird auch das Massaker an der kurdischen Politikerin Hevrin Khalaf angelastet, auch dieser Gewaltakt soll einer "Hinrichtung" gleichgekommen sein. Zum Chef der Gruppe, Abu Hatem Shakra (auch: Abu Hatem Shakra), der gerne vor den Kameras postiert, liefert ein englisch-sprachiger Hintergrund von Euphrates Post reichlich Informationsmaterial.
Man könnte das Porträt des ehemaligen al-Qaida-Miglieds, das sehr viele Details enthält, so zusammenfassen: Es handelt sich um einen brutalen, skrupellosen, betrügerischen, geldgierigen Gangster und Mörder, der große Summen von Golfstaaten erhielt, über weitgespannte Beziehungen verfügt (auch nach Deutschland) und dessen Miliz bei türkischen Militäroperationen eine größere Rolle spielt. Man hatte ihr diesmal Zurückhaltung auferlegt - ganz offensichtlich vergeblich, was zur Frage führt, welche Kontrolle die türkische Militärführung über solche Gruppen hat?
Dazu kommt, dass man der türkischen Militärführung unterstellen muss, dass sie mit Gewalttaten dieser Miliz rechnen konnte, da sie diese gut von der Operation "Ölzweig" in Afrin kennt, wo Ahrar al-Sharkiya mit Plünderungen und anderen Verbrechen bereits mehrfach aufgefallen ist. Der Terror der Miliz mit Verbindungen zur al-Qaida dürfte demnach ins türkische Kalkül passen.
Angesichts dessen, dass Ahrar al-Sharkiya zur "Nationalen Syrischen Armee" gehört, die auf Initiative der Türkei als Nachfolgerin der "Freien Syrischen Armee" (FSA) ins Leben gerufen wurde, kann man an die oben gestellte größere Frage anknüpfen. Was wäre geschehen, wenn die von Golfstaaten, von den USA und europäischen Ländern über Jahre hinweg mit Geld, Waffen und sympathisierender Berichterstattung unterstützten FSA-Milizen tatsächlich die Oberhand gewonnen und die Regierung in Damaskus abgelöst hätten?
Operation Friedensquelle: Offene Rechnungen sind zu begleichen
Vieles spricht dafür, dass es zu mörderischen und grausamen Racheaktionen in großem Ausmaß gekommen wäre und zur Installierung eines harten islamistischen Herrschaftssystems, in dem Gruppen unterschiedlicher Radikalität einander bekämpfen.
Für die ersten beiden Momente liefert eine aktuelle Analyse der syrischen "Hilfstruppen" Erdogans, erschienen in der französischen Zeitung Le Figaro ("Wer sind die syrischen Rebellen, die für die Türkei kämpfen", leider nur in einer französischen Version) Anhaltspunkte, für die blutige Konkurrenz der Milizen untereinander der Krieg in Syrien seit 2012.
Aus der Analyse des Autors Alexis Feertchak, der sich zentral auf die beiden bekannten Syrienkenner Wassim Nasr und Fabrice Balanche stützt, also keine Verteidiger der Baschar al-Assad-Regierung - und auch nicht der kurdischen SDF -, geht hervor, dass sich die mit der Türkei verbündeten Milizen zu größeren Teilen aus Kämpfern zusammensetzen, die aus der Gegend stammen und eine "Rechnung" mit der YPG offen haben. Eine größere Anzahl von ihnen stand beim Kampf der YPG gegen den IS wie auch gegen andere radikal-islamische Milizen auf der Gegenseite.
Nicht nur der oben genannte Chef der Ahrar al-Sharkiya hat Verbindungen zum IS. Das trifft laut Fabrice Balanche auch für ein "sehr großes Kontingent der lokalen Mitglieder der Nationalen Syrischen Armee zu, namentlich für diejenigen, die zum Stamm der Jays (möglicherweise gemeint: Schaitat, Anm. d. A.) gehören, der notorisch für seine Zusammenarbeit mit dem IS bekannt ist und 2014 aufseiten der Dschihadisten beim Kampf um Kobane teilgenommen hat".
Wassim Nasr ordnet die Milizenkämpfer aufseiten der Türkei dagegen auch unter den Gegnern des IS ein: "Die Speerspitze der Nationalen Syrischen Armee bei dieser Operation bilden Syrer, die aus dieser Region kommen, die das Territorium aber verlassen haben, als der IS dort stark wurde und später die YPG."
"Viele Mitglieder des IS"
Während Balanche herausstreicht, dass von den pro-türkischen Milizen "viele Mitglieder des IS" waren, bemüht sich Nasr ein gemischteres Bild zu zeichnen, kommt aber auch nicht darum herum, eine islamistische Prägung einzuräumen. Er erwähnt die Zugehörigkeit der Milizionäre zu den Muslimbrüdern, für die Erdogan seit einiger Zeit eine Führungsfigur darstellt. Tatsächlich aber will Nasr aber weniger eine religiöse Ideologie als Triebkraft oder Mobilisierungsfaktor sehen als handfest die Bezahlung der islamistischen Söldner durch Erdogan.
Nasr ist Spezialist für die Unterscheidung zwischen Dschihadisten, al-Qaida-Anhängern, Salafisten und Islamisten. Da er über gute Kontakte in dschihadistische Kreisen verfügt, geht er hier sehr sorgfältig vor. Balanche schaut weniger auf die Buchstabentreue und die Positionen bei religiös-ideologischen Disputen auf höheren Ebenen als auf die Wanderbewegungen der Milizenkämpfer, die wenig Skrupel haben, auch unter einem dschihadistischen Label gegen Assad zu "rebellieren". Aber er weiß auch um die Frage der Bezahlung.
Angeblich erhalten Mitglieder von Erdogans islamistischen Proxy-Truppen 400 US-Dollar im Monat, so Balanche, der die Summe mit dem Sold der kurdischen YPG in Vergleich setzt: Der beträgt nach seinen Informationen 200 US-Dollar.
Beide Experten sind sich offenbar darin einig, dass neben den Kämpfern mit lokalen Bezug, worunter laut Nasr auch Kurden zu finden sind ("zu islamistisch und zu wenig kommunistisch für die YPG", Nasr) - und die für die Militäroperation wegen der Ortskenntnisse von Vorteil sind - auch Milizen aus Idlib dabei sind, die der dort übermächtigen Konkurrenz von Hayat Tahrir al-Sham (früher al-Nusra-Front und Teil der al-Qaida) entflohen sind, so zum Beispiel Ahrar al-Scham, die man als salafistisch einstuft. Wirklich gemäßigt ist diese Miliz, die lange Zeit Kampfgenossin der al-Nusra-Front war, nicht.
Schreckensherrschaft schon unter der FSA
Laut dem Bericht über die Milizenallianz, die als bewaffner Arm der "syrischen Gegenregierung" dargestellt wird, die in der Türkei aufgebaut wurde, könnte die Nationale Syrische Armee bis zu 80.000 Kämpfer mobilisieren, es seien aber lediglich 14.000 bei der Operation "Friedensquelle" aktiv dabei.
Offensichtlich, so Balanche, kommen diese Kämpfer zum großen Teil aus Gruppen, die die westlichen Länder jahrelang unterstützt haben. Zunächst hätten ihnen die USA viel Unterstützung zukommen lassen, als diese Geld- und Waffenlieferungen versiegten, sei dies von der Türkei übernommen worden. Erdogan hätte "kein schlimmeres Gesindel" mobilisieren können. Die lokale Bevölkerung fürchte die Islamisten sehr, da man sich daran erinnert, wie die Milizen noch unter dem Namen "Nationale Befreiungsfront" mit Unterstützung des Westens eine Schreckensherrschaft in der Region errichtet hatte.
Die Frage, die sich in diesem Zusammenhang stellt, wäre, wie es in Idlib weitergehen wird. Erste Antworten darauf dürfte es am 22. Oktober in Sotchi geben. Da treffen sich Putin und Erdogan.