Tunesien: Das politische Kräftespiel und der Auswanderungsdruck

Graffiti in Tunis. Bild: Alwin Nagel/CC BY-SA 4.0

Demokraten und Progressive sehen sich Islamisten gegenüber sowie autoritären, polizeistaatlichen Reaktionären, die vordergründig laizistisch sind

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Tunesien bleibt das Land, das - was den Zustand der dortigen Demokratie betrifft - bisher die besten Ergebnisse unter denjenigen Ländern erzielt, die an der Welle von Revolten und politischen Umwälzungen des Jahres 2011 beteiligt waren. In anderen Ländern wie Ägypten und Syrien muss der Aufbruch, der damals in Europa unter dem Sammelbegriff des "Arabischen Frühlings" behandelt wurde, als gescheitert gelten.

Unterdessen darf nicht vergessen werden, dass im Jahr 2019 eine zweite Welle von Revolten begann, vor allem in Algerien, im Sudan, im Libanon und im Irak. Während dabei in Algerien bislang noch das alte Regime an der Macht blieb und die Entwicklung insbesondere im Libanon derzeit offen ist, scheint sich die Situation im Sudan unter der dortigen Übergangsregierung weitgehend zum Positiven zu entwickeln.

Die rechtliche Stellung von Frauen wurden gegenüber der Situation unter dem alten Regime, einer durch Islamisten unterstützten Militärdiktatur, radikal verbessert, und am 31. August wurde nun auch noch ein Friedensabkommen für den langjährigen Konfliktschauplatz in Gestalt der Provinz Darfur unterzeichnet. Die bisherige Entwicklung verlief also keineswegs überall nur negativ.

Was die Länder des Umbruchs von 2011 betrifft, kann, wie eingangs festgestellt, vor allem Tunesien als Beispiel einer gelungenen Demokratisierung gelten. Dies verhinderte in den letzten Monaten und Jahren nicht eine gewisse politische Instabilität, welche sich allerdings nicht in Gewalt niederschlug (zwar gibt es dschihadistische Anschläge, diese kommen jedoch ebenfalls in Europa vor und werden auch in Tunesien keineswegs durch die Bevölkerung unterstützte), sondern etwa im Absturz von politischen Parteien bei Wahlen sowie in sozialen Protesten.

Radikal abgestürzt ist etwa die Sammelsuriums- und Karrieristenpartei Nidaa Tounès (ungefähr "Appell Tunesiens"), die 2012 gegründet wurde, 2014 die Regierungsgeschäfte übernahm, seitdem in mehrere Bruchstücke zerfiel und bei den Parlamentswahlen im Oktober 2019 von der Bühne gefegt wurde.

Das Hauptproblem Tunesiens bleibt die ökonomische Lage, weil viele Investitionen nach dem Umbruch von 2011 abgezogen wurden - einige Kapitalanleger zog es etwa ins "stabilere", nach wie vor durch eine Monarchie regierte Marokko -, weil infolge der anfänglichen Verunsicherung und infolge jihadistischer Attentate im Jahr 2015 sowie aktuell der Corona-Pandemie der Massentourismus zurückging. Und weil die dominierenden politischen Parteien nach dem Umbruch von 2011 es sträflicherweise unterließen, auch an einer ökonomischen Alternative zum Bestehenden zu arbeiten, womit Tunesien allerdings nicht allein steht.

Nun hat Tunesien, mal wieder, eine neue Regierung. Am 02. September gewann sie die Vertrauensabstimmung im Parlament und erhielt 134 von insgesamt 217 möglichen Stimmen. Ihr steht als Premierminister der 46jährige, bisherige hohe Beamte Hichem Mechichi vor; ihn hatte Staatspräsident Kaïes Saïed (62) am 25. Juli dieses Jahres mit der Regierungsbildung beauftragt.

Dieses Ergebnis hatte im Vorfeld als ungesichert gegolten, zumal sich auf der Zielgerade Staatspräsident und künftiger Premierminister in die Quere zu kommen schienen, ja allem Anschein nach im Konflikt miteinander lagen. Auch für die nähere Zukunft werden mögliche Reibereien zwischen dem Regierungssitz in der Kasbah (Altstadt von Tunis) und dem "Palast von Karthago", wo das Staatsoberhaupt residiert, erwartet.

Die Ernennung von Mechichi zum Anwärter auf den Posten des Regierungschefs - unter der Bedingung, eine parlamentarische Mehrheit zusammenstellen zu können - durch den Präsidenten folgte auf den am 15. Juli erfolgten Rücktritt des bisherigen Premierministers Elyes Fakhfakh. Jener demissionierte auf den Tag genau fünf Monate nach der Vorstellung seines Kabinetts. Genauer gesagt, nach dem ersten Versuch dazu. Denn zwar publizierte Fakhfakh am 15. Februar eine Minister-Liste.

Doch drohte daraufhin die islamistisch orientierte Partei En-Nahdha ("Wiedergeburt, Renaissance") - diese stellt seit den Parlamentswahlen vom Oktober 2019 die stärkste Einzelfraktion, erhielt jedoch damals mit 19,6 Prozent weniger als ein Fünftel der abgegeben Stimmen, ein Ausdruck der allgemeinen parteipolitischen Zersplitterung - ihm damit, seiner Regierung ihr Vertrauen zu verweigern.

Rückblick auf die Regierung Fakhfakh

In ihr war En-Nahdha von vornherein mit sechs Ministern vertreten, jedoch wollte die Partei erzwingen, dass die von Ex-Präsidentschaftskandidat Nabil Karoui angeführte Partei Qalb Tounès ("Im Herzen Tunesiens", vormals "Tunesische Partei für den soziale Frieden") ebenfalls an der Regierung beteiligt werde. In Ermangelung eines besseren Begriffs können Karoui und Qalb Tounès mit einer zwar unscharfen und abgenutzten, doch häufig für sie benutzten Bezeichnung als "populistisch" bezeichnet werden.

Im Vorjahr war Karoui vor allem dadurch bekannt geworden, dass er einen Gutteil seiner Kampagne zur Präsidentschaftswahl, bei der er dann als Zweiter abschnitt, vom Gefängnis aus betrieb. Dorthin hatten ihn Vorwürfe finanzieller Unregelmäßigkeiten gebracht.

Letztendlich musste das damalige Kabinett doch ohne die Herzens-Truppe auskommen, und En-Nahdha fügte sich in der zweiten Februarhälfte dieses Jahres in diese Entscheidung, um eine sonst drohende Auflösung des Parlaments zu verhindern. Die parteipolitische Basis der Regierung fußte - neben En-Nahdha - auf mehreren Kleinparteien, die in zwei Koalitionen aus je einem halben Dutzend Formationen zusammengeschlossen sind, dem "Demokratischen Block" sowie La Réforme. Hinzu kommt die gerne "konstruktiv", doch inhaltsleer auftretende Partei Tahya Tounès ("Es lebe Tunesien" oder "Tunesien lebt") unter Youssef Chahed, der selbst von 2016 bis Anfang 2020 als Premierminister amtierte, doch dann scheiterte.

Am 15. Juli 20 jedoch stolperte Regierungschef Fakhfakh über den Vorwurf von "Interessenkonflikten". Der ausgebildete Ingenieur, der neben der tunesischen auch die französische Staatsbürgerschaft innehat, besitzt Anteile - laut der Publikation Middle East Eye im Wert von fünfzehn Millionen Dollar - in Firmen, die wirtschaftliche Verträge mit dem Staat unterhalten.

Ihm wurde aber aus den Reihen des Parlaments auch mangelnde Transparenz bei der Verwendung der für die Bewältigung der Corona-Krise im Staatshaushalt eingeplanten Millionensummen vorgeworfen. Ab dem 04. April konnte Fakhfakh zwei Monate lang mit Sondervollmachten regieren, um Tunesien durch die Krise zu bringen, und eine Woche nach Beginn dieser Periode wurde ein Kredit über 750 Millionen Dollar beim IWF aufgenommen. Abgeordnete warfen ihm Unklarheit über den Verbleib von Geldern sowie eine Gefährdung der Zukunft des Landes durch die Neuverschuldung vor.

Elyes Fakhfakh kam seiner drohenden Absetzung jedoch durch seinen Rücktritt zuvor. Darum kam es zu einer mit verfassungsgerichtlich geführten, im Kern jedoch politisch motivierten Auseinandersetzung: Jene Parteien, die einen Misstrauensantrag ins Parlament einbrachten, vertreten die Auffassung, sei ein solcher Antrag gestellt, blockiere dies die Rücktrittsprozedur, und der Regierungschef könne nicht wirksam sein Amt von selbst aufgeben. Auf dem Spiel steht dabei die Befähigung dazu, durch Herausbildung einer parlamentarischen Koalition Einfluss auf die Ernennung seines Nachfolgers zu nehmen. Artikel 97 und 98 der seit 2014 geltenden Verfassung, oder ihre jeweilige Interpretation durch die politischen Parteien, stehen einander dabei entgegen.

Nach herrschender Auslegung behält der Staatspräsident, also derzeit Kaïs Saïed, im Falle eines Rücktritts seines Premierministers das Initiativrecht zur Ernennung eines designierten Nachfolgers oder einer Nachfolgerin, der oder die sich dann eine parlamentarische Mehrheit suchen kann und dies innerhalb der gesetzten Frist zusammenstellen muss. Dies entfällt im Falle eines Sturzes durch eine Parlamentsmehrheit, in einem solchen Szenario behält Letztere selbst das Heft in der Hand. Kaïs Saïed machte also von seinem Recht Gebrauch und designierte am 25. Juli mit Mechichi den als Technokrat geltenden und parteilosen, bisherigen Innenminister.

Darüber hinaus steht auch ein allgemeinerer Konflikt im Hintergrund: Saïed strebt erklärtermaßen nach einer Präsidialisierung der Regierung, einer Überwindung des Parteiensystems und seiner Ersetzung durch per Mehrheitswahlrecht gewählte lokale Repräsentanten, die ein neues Regierungssystem außerhalb der Parteien errichten sollen.

En-Nahdha, die vor allem auf parlamentarischer Ebene über Machtpositionen verfügt und diese gefährdet sieht, will diesen Bestrebungen widerstehen. Bei der Präsidentschaftswahl 2019 hatte En-Nahdha aufgrund dessen konservativer gesellschaftspolitischer Auffassungen Saïed gegen Karoui unterstützt, baut nun jedoch auf eine Allianz mit Qalb Tounès, um den amtierenden Präsidenten in seine Grenzen zu weisen.

Koalition aus moderaten Islamisten, Radikalislamisten und Glücksritterpartei?

Letzterem gegenüber steht im Parlament derzeit eine faktische Koalition aus den drei Parteien En-Nahdha mit 54 Abgeordneten, der "Koalition Karama" oder "Al-Karama" (der Name bedeutet im Arabischen "Würde") mit 19 und Qalb Tounès mit 38 Abgeordneten. Diese drei sprachen sich bei allen sonstigen Unterschieden zusammen für einen, aufgrund des Rückzugs Fakhfaks dann gescheiterten, Misstrauensantrag gegen die Regierung aus, wobei En-Nahdha und Qalb Tounès formal getrennt vorgingen.

Dabei zeichnet sich ein jedoch faktisches Bündnis ab, das allein noch auf keine absolute Mehrheit an Sitzen - das Parlament zählt ihrer 217 - kommt, jedoch möglichen künftigen Koalitionsbildungen den Weg ebnen soll.

Eine solche "Achse zu dritt" - in deren Zentrum die Partei stünde - explizit zu vertreten, fällt En-Nahdha jedoch schwer, erhebt die Partei doch seit einem Kongress im Mai 2016 den Anspruch, nicht mehr als islamistisch, sondern als von islamischen Ideen inspirierte, demokratisch-staatstragende Partei zu gelten. Tatsächlich existieren mehrere, strategisch mal mehr, mal weniger auseinanderstrebende Flügel in ihrem Inneren.

Bündnisse mit Al-Karama widersprechen jedoch jedem offiziellen Mäßigungsanspruch. Handelt es sich doch bei der letztgenannten Formation unter Führung des Anwalts Seifeddine Makhlouf um eine radikalislamistische, explizit salafistischen Ideen nahe stehende Organisation. Auch wenn einige im Juli in der tunesischen Presse erschienene Artikel nahelegen, Makhlouf seit unter dem alten Regime (1987 bis 2011) unter Langzeitpräsident Zine el-Abidine Ben Ali mutmaßlich Polizeispitzel an der juristischen Fakultät sowie Mitglied einer von einem Mitglied der Schwiegerfamilie Ben Alis geführten, offiziell zugelassenen Pseudo-Oppositionspartei - des PUP - gewesen.

Konnten Koalitionsparteien sich durchsetzen?

Was ist nun letztendlich passiert, wer hat sich durchsetzen können? Darauf gibt es keine Schwarz-Weiß-Antwort, sondern das Kräftemessen zwischen Präsident, designiertem Premierminister und Parlament liefert notwendig differenziert einzuschätzende Ergebnisse.

In der Gesamtschau scheinen sich jedoch, im Großen und Ganzen, die im Parlament vertretenden politischen Parteien - die dominierenden unter ihnen - insofern durchgesetzt zu haben, als der Staatspräsident sich bei der Auswahl einzelner Minister nicht gegen den Willen seines Premierministers durchsetzen konnte. Und dies, auch wenn die Regierung entgegen dem Willen der betreffenden Parteien zunächst als "Fachleute"- oder Technokraten-Kabinett mit einem vor allem von Wirtschaftsthemen geprägten Fahrplan angekündigt wurde. Doch die Parteien luden sich dann doch wieder an den Diskussionstisch ein.

Hinzu kommt, dass die oben erwähnte Partei Qalb Tounès - die Herzenspartei - am Tag der Abstimmung im Parlament über das Vertrauen für die neue Regierung, dem 02. September, zunächst von der Konstituierung einer "parlamentarischen Unterstützungsfront" für dieselbe sprach. In ähnlicher Weise präzisierte die Partei kurz zuvor, Qalb Tounès einen werde "politischen (Schutz-)Gürtel für den Regierungschef", und zwar gemeinsam mit En-Nahdha, bilden.

Letztendlich hat auch ein Teil der radikalislamistischen Partei Al-Karama, die zuvor ihre scharfe Ablehnung einer "Fachleute-Regierung" bekundet hatte, für die Einsetzung der Regierung unter Premierminister Mechichi votierte. Ein Drittel ihrer Parlamentsfraktion stimmte für ihn, ebenso wie die geschlossenen Parlamentsfraktionen von En-Nahdha, Qalb Tounès sowie der bürgerlichen "Reform"fraktion.

Dem Vernehmen nach rief dies innerhalb von Al-Karama jedoch Verwerfungen hervor. Am heutigen Sonntag wurde bekannt, dass ein Abgeordneter der Radikalislamisten ihre Fraktion nun verlässt, weil er gegen das angekündigte engere Paktieren mit Qalb Tounès im Parlament opponiere.

Al-Karama und En-Nahdha werden nicht allein eine (islamistisch inspirierte) Parlamentsmehrheit bilden können, da ihnen dafür Sitze fehlen, dürften jedoch erheblichen Einfluss nehmen können, wenn ihre taktischen Verbündeten ihnen dafür Raum gewähren. Al-Karama leitet seit Ende 2019 etwa den Verteidigungsauschuss im Parlament, En-Nahdha den für Innere Sicherheit. Dadurch üben sie einen politischen Einfluss auf die bewaffneten Staatsorgane aus.

Einen Streitpunkt mit Staatspräsident Saïd Kaïes bildet derzeit auch die Unabhängigkeit der JustizEn-Nahdha wird eine wachsende Einflussnahme auf selbige vorgeworfen - und auf die Auswahl des Justizministers im neuen Kabinett. Das ist nicht ganz ohne Brisanz, unter anderem weil Personen, zu denen Rached Ghannouchi in der Vergangenheit Kontakt hatte, in Ermittlungen wegen zweier 2013 begangener politischer Morde involviert sind.

Radikalislamisten im Parlament

Besonders umstritten ist der Einfluss der, rund neun Prozent der Abgeordneten stellenden, radikalislamistischen Partei Al-Karama. Deren Chef Makhlouf hatte am 10. Juli d.J. versucht, einen Mann, der als dschihadistischer Gefährder gilt und unter Ausreiseverbot steht, Harfedh Barhoumi, in die Räumlichkeiten des Parlaments zu bringen. Daraufhin protestierte eine Polizeigewerkschaft offiziell gegen ihn, forderte die Aufhebung seiner parlamentarischen Immunität und organisierte zehn Tage später eine Demonstration im Zentrum von Tunis.

Makhlouf ging dabei mit Zustimmung von Habib Khedher, also des Büroleiters (directeur de cabinet) und Neffen von Parlamentspräsident Rached Ghannouchi, vor. Letzterer ist wiederum der langjährige Chef der Partei En-Nahdha.1

Diese hässliche Szene bot aber auch der bis dahin eher isolierten Oppositionspartei PDL ("Freie destourische Partei", vom Arabischen al-destour = die Verfassung) unter der Anwältin Abir Moussa einen willkommenen Anlass zur Profilierung. Ihre Partei ging daraufhin flugs das Büro des oben erwähnten Habib Khedher besetzen.

Letzterer erklärte kurz darauf seinen Rücktritt und Rached Ghannouchi akzeptierte dies. In Wirklichkeit stellt sich die Situation allerdings eher so dar, dass er aufgrund des sich aufbauenden Drucks aus dem Amt flog. Zu seinem Nachfolger wurde Ahmed Mechergui bestimmt.

Doch auch der in dieser Angelegenheit besonders aktive PDL handelte dabei keineswegs als über alle Zweifel erhabene Verteidigerin der Demokratie. Um eine solche handelt es sich beim PDL gewiss nicht. Diese 2013 gegründete Partei ist weitgehend ein Sammelbank von ehemaligen Funktionären und Anhängern der bis im Januar 2011 herrschenden Diktatur unter Ben Ali. In deren letztem Jahr war die heute 45jährige Abir Moussa stellvertretende Generalsekretärin der Staatspartei RCD ("Verfassungsmäßige demokratische Sammlung"), die im Januar 2011 aufgelöst und deren Vermögen einzogen wurde - Moussa trat als Verteidigerin vor Gericht auf - und in dem Amt für Frauenpolitik zuständig.

Zwei Gesichter der Reaktion: islamistisch versus polizeistaatlich

Dabei ist Abir Moussa selbst keineswegs Frauenrechtlerin und in vielen Fragen gesellschaftspolitisch eher reaktionär:. So tritt die Dame vehement gegen eine Entkriminalisierung von Homosexualität ein, befürwortet Anal-Untersuchungen durch die Polizei, die in Tunesien vorkommen, und sie verwirft eine Rechtsgleichheit für eheliche und außerehelich geborene Kinder.

Moussa hasst jedoch die Islamisten aller Couleur und wirft ihnen eine Gefährdung des modernisme vor, also des Modernisierungsanspruchs, den die tunesische Staatsmacht seit dem ersten Präsidenten nach der Unabhängigkeit - Habib Bourguiba, er regierte von 1957 bis 1987 - erhebt.

Bourguiba, selbst Autokrat, hat tatsächlich einige Modernisierungsleistungen besonders auch auf dem Gebiet der Frauenrechte durchgesetzt, was man von seinen Nachlassverwaltern und besonders seinem Amtsnachfolger Ben Ali nicht behaupten kann. Zu Legitimationszwecken bezeichnete Ben Ali sich jedoch mitunter als Garanten dieser historischen Fortschritte, während er den Status quo verwaltete. Abir Moussa und ihre Partei beziehen sich faktisch auf Bourguiba wie auch Ben ’Ali gleichermaßen und wollen deren Kontinuität fortsetzen, vor allem unter dem Gesichtspunkt eines starken Staates.

Bisweilen wird die Partei unter Amir Moussi deswegen sogar als die tunesische Ausgabe der extremen Rechten dargestellt. Dies ist allerdings zumindest stark vergröbernd, denn die ihr - zumindest im vordergründigen politischen Spiel - als Gegenpol entgegenstehenden Kräfte wie die Radikalislamisten von Karama sind keineswegs linker oder progressiver als sie selbst. Auch die Art und Weise, in welcher Karama-Chef Seifeddine Makhlouf die politische Auseinandersetzung mit der politischen Gegenspielerin Abir Moussi suchte - Makhlouf bezeichnete sie unverblümt als "Mikrobe" - spricht nicht dafür, dass Karama & Co. eine demokratisch-humanistische Alternative zu Moussi & Co. darstellen würden.

Insofern kann auch nicht von einer Links-Rechts-Polarisierung zwischen beiden Kräften gesprochen werden. Richtig wäre es vielmehr, festzustellen, dass es in Tunesien wie in anderen arabischsprachigen Ländern, aber auch der Türkei, je zwei Gesichter der Reaktion gibt: eine islamistische Version und eine autoritäre, polizeistaatliche oder militärische, vordergründig laizistische. Die demokratischen oder progressiven Kräfte müssen sich ihren Weg irgendwo zwischen ihnen suchen.

Infolge der Auseinandersetzungen um die Umtriebe Makhloufs führten die PDL-Abgeordneten, deren Partei 16 Sitze zählt, eine Sitzblockade im Parlament durch. Das war übrigens keine Premiere, denn Abir Moussa und ihre Leute hatten schon im Dezember ein Sit-in durchgeführt, damals auch im Plenarsaal übernachtet und die Verabschiedung des Haushaltsgesetzes behindert.

Die PDL-Fraktion hat den Ruf, Sitzungen mitunter zu chaotisieren und mit skrupellosen Aktionen die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Durch die Provokationen von Karama schaffte die Partei der Ben Ali-Nostalgiker dies nun auf der ganzen Linie, und indem sie sich zum Gegenpol zu den Islamisten aufschwang, gewann sie erheblichen Auftrieb.

In einer Meinungsumfrage vom 14. Juli bei Kapitalis sollen 29 % die Absicht bekundet haben, künftig für den PDL zu stimmen - diese Internetzeitung ergreift jedoch deutlich Partei für die innenpolitischen Gegner der Islamisten, was sie am 21. Juli in einem Leitartikel auf die Idee zuspitzte, falls man "zwischen Erdogan und Al-Sisi wählen" müsse, sei der ägyptische Präsident dem türkischen vorzuziehen, so dass eine Objektivität nicht unbedingt gewährleistet ist. Bei der Wahl im Oktober hatte die Partei gut sechs Prozent erzielt, dürfte sich jedoch tatsächlich derzeit im Aufwind befinden.

En-Nahdha angeknackst

Einen Erfolg konnte der PDL feiern, indem er ein Misstrauensvotum gegen Rached Ghannouchi auf seinem Posten als Parlamentspräsident organisierte, über das am 30. Juli abgestimmt wurde. Dabei ging es vor allem darum, ihm zu vorzuwerfen, eine eigene aktive Nebenaußenpolitik zu entwickeln, vor allem in Bezug auf den Kriegsschauplatz im Nachbarland Libyen.

Dort begünstige er, lautete der Vorwurf, die "Achse" aus der Türkei und Qatar sowie der in Tripolis amtierenden "Regierung der nationalen Übereinkunft" mit islamistischer Beteiligung. Diese bekämpft in Libyen eine entgegengesetzte "Achse" aus Saudi-Arabien, dem ägyptischen Regime und dem ostlibyschen Machthaber Marschall Khalifa Haftar - unterstützt auch durch Wladimir Putin und Emmanuel Macron.

Rached Ghannouchi dementierte in der Sitzung, dabei eine ideologisch orientierte Außenpolitik zu verfolgen, während die mehr oder minder verbündete Partei Karama sich sehr affirmativ in der Richtung äußerte, es gebe die Seite der Guten und die der Bösen in Libyen. Letztlich stimmten 97 Abgeordnete für den Antrag, das waren 81 mehr, als die PDL-Fraktion an Abgeordneten zählt.

Die Unterstützung kam vor allem aus den Reihen des "demokratischen Blocks", von Tahya Tounès, aber in dieser Frage auch von Qalb Tounès. Die Partei von Ex-Präsidentschaftskandidat Karoui - die mit dem Herzen - kündigte an, den Fraktionszwang für diese Abstimmung aufzuheben. 18 ihrer 27 Abgeordneten scheinen jedoch ungültig gestimmt zu haben, wohl aus Rücksicht auf En-Nahdha, da mit ihr ansonsten Bündnisgespräche laufen.

Da zwölf Stimmen für die erforderliche absolute Mehrheit - diese beginnt bei 109 Mandaten - fehlten, kam Ghannouchi als Parlamentspräsident nochmals davon. Durch den Aufmerksamkeitserfolg des Misstrauensantrags ist er dennoch politisch ziemlich angeschlagen. Dennoch, oder deswegen, kann En-Nahdha sich derzeit eher keine Auflösung der ARP leisten und ist auf Bündnismöglichkeiten angewesen.

Ökonomische und soziale Nöte: Verstärkter Auswanderungsdruck

Auf ökonomischer und sozialer Ebene wird die nächste Regierung sich auf starke Anforderungen einstellen müssen. Denn die Situation ist für viele Tunesierinnen und Tunesier schwierig. Und keineswegs nur für die Landarbeiterinnen in den vom Mittelmeer entfernt gelegenen Regionen, deren Lage besonders dramatisch ist und erst jüngst wieder durch tragische Unfälle, die durch die Transportbedingungen ausgelöst werden, ins Licht der Öffentlichkeit rückte.

Auch arbeitslose Hochschulabgänger/innen bis hin zu Inhabern von Doktortiteln machen immer wieder auf ihre Lage aufmerksam. Vor diesem Hintergrund wächst, vor allem in der jungen Generation, verstärkt der Auswanderungsdruck. Unter dem wachsenden Druck des Nachbarlands Italien versuchen die tunesischen Behörden, solche Versuche zum "illegalen" Verlassen des Landes zu unterbinden. Dazu werden sie jedoch, neben repressiven Mitteln, den jüngeren Generationen verstärkt Perspektiven bieten müssen.

Wirtschaftlich ist Tunesien seit dem Umbruch von 2011, in dessen Gefolge manche Investitionen ausblieben oder nach Marokko umgelenkt wurden und der Massentourismus zurückging - zunächst infolge einer Verunsicherung bei europäischen Touristen, ab 2015 auch infolge dschihadistischer Terroranschläge in Tunis im März und in Sousse im Juni jenes Jahres - notorisch angeschlagen.

Am 23. Juli d.J. verkündete allerdings eine Tagung des Wirtschaftsverbands TAA in Tunis, man mache sich Hoffnungen darauf, beim Wettbewerb um das Anlocken ausländischer Investitionen könnte sich die Stellung Tunesien verbessern: Im Zuge der Veränderung der internationalen Arbeitsteilung würden manche Produktionszweige wieder nach Europa zurückverlagert statt weitgehend in China konzentriert. Und falls die Autoindustrie wieder verstärkt in Europa produziere, dann werde auch für Tunesien etwas dabei abfallen, da in dem Land viele Automobilzulieferbetriebe konzentriert sind und etwa Autositzbezüge oder Zündkerzen herstellen. Bis sich diese Hoffnung vielleicht erfüllt, bleibt es bei einer Krisensituation.

Auch die Corona-Pandemie ist nicht überwunden, zumal Tunesien aufgrund seiner spürbaren Abhängigkeit von der Tourismusindustrie am 27. Juni 2020 die Grenzen und Flughäfen wieder öffnete. Erstmals nach mehreren Wochen verzeichnete Tunesien daraufhin Anfang August erneut einen Corona-Toten, wobei deren Gesamtzahl mit 51 zum damaligen Zeitpunkt noch vergleichsweise niedrig lag; einen Monat später beträgt sie nun 84 - wobei diese Begrenzung aber wohl just der frühzeitigen Grenzschließung im März 2020 zu verdanken war.

Am 17./18. Juli d.J. begannen Einwohner im südtunesischen El-Kamour im Bezirk Tataouine eine Pipeline zu blockieren, durch die die Hälfte der Ölproduktion des Landes - das hauptsächlich für den Eigenbedarf Erdöl und Erdgas fördert, diese Rohstoff aber zum Teil auch importiert - läuft.

Die Protestierenden fordern die Einhaltung eines Abkommens mit der Regierung zur Einstellung lokaler Arbeitskräfte aus dem Jahr 2017, und konkret die Beschäftigung von 1.500 Menschen im Erdölsektor sowie von 500 weiteren in den öffentlichen Unternehmen, die den öffentlichen Raum in dieser staubtrockenen Zone bepflanzen und begrünen. Voraus gingen eine Sitzblockade zwischen dem 20. und 23. Juni, die durch die Polizei aufgelöst wurde, und öffentliche Selbstmorddrohungen in der zweiten Juliwoche.

Der Unmut im äußersten Süden Tunesiens ist Ausdruck des ökonomischen Abgehängtbleibens der peripheren Regionen des Landes. Ende Juli hatten sich die Proteste dermaßen ausgedehnt, dass das Energieministerium in einem als "dringlich" eingestuften Kommuniqué vom 30. Juli mitteilte, nunmehr drohe die Energieversorgung des Landes gefährdet zu werden. Aber das dauerte auch den Monat August hindurch weiterhin an, Verhandlungen mit der - damals kommissarisch die Amtsgeschäfte weiterführenden - Regierungen scheiterte, zunächst.

Ölfirmen drohten daraufhin Ende August, ihre Aktivität im Land aufgrund "höherer Gewalt" vorerst einzustellen. Alarmistische Presseberichten, gewiss in wirtschaftsfreundlichen Medien publiziert, warnten vor fatalen ökonomischen Auswirkungen. Die künftige neue Regierung wird hier alsbald eine Ausgleichslösung finden müssen.

In diesem konkreten Falle klagte allerdings der nach wie vor mitgliederstarke Gewerkschaftsdachverband UGTT die Partei En-Nahdha an, die Proteste anzufachen und die Ölversorgung zu "sabotieren". Dahinter steckt die Tatsache, dass diese sozialen Basisproteste außerhalb der Gewerkschaften verlaufen und von diesen nicht kontrolliert werden, aber auch, dass im sozial konservativen und unterentwickelten Süden des Landes stärker für die Islamisten gestimmt wird als in den urbanen Zentren.

Die UGTT - die durchaus auch als politischer Akteur zu betrachten ist - bleibt ferner aber auch mehrheitlich einem innenpolitischen Stabilitätsdenken verankert, das sie als Teil ihrer "Verantwortung" für die tunesische Demokratie aufgrund ihrer historischen Rolle betrachtet. Ihr linker Flügel, den es lange Zeit nicht zu vernachlässigen galt, steckt strategisch in der Defensive oder hat keine Antworten auf die Situation.

Am 14. Mai traf der amtierende UGTT-Generalsekretär Noureddine Taboubi mit Staatspräsident Kaïs Saïed zusammen. Beobachter kommentierten etwa in Jeune Afrique, beide strebten ein strategisches Bündnis an. Dabei geht es auch darum, En-Nahdha einzudämmen.

Daneben soll die "Koalition Karama" in Schach gehalten zu werden. Zwischen ihr und der UGTT dürfte kein Kompromiss möglich sein: Die radikalislamistische Partei brachte im April dieses Jahres einen Gesetzesvorschlag ins Parlament ein, um Verbote von Gewerkschaften zu ermöglichen. Einige Woche später kam es zu Zwischenfällen zwischen Gewerkschaftsmitgliedern und einem Karama-Abgeordneten, infolge derer drei Gewerkschaftler festgenommen wurden.

Journalist in Haft

Auch gegen das Wiederaufleben politischer Repression, für die das Ben ‘Ali-Regime vor 2011 berüchtigt war, führt zu Protesten. Menschenrechtsvereinigungen in Tunesien, Frankreich und Belgien äußerten sich besorgt über die Verurteilung der Vorsitzenden der Kleinpartei Parti tunisien, Maryam Mnaouar, die infolge einer Untersuchung ihrer Anhänger über Folter auf Polizeiwachen und über die Verfolgung der Urheber kritischer Texte bei Facebook geschrieben hatte. Dafür erhielt sie erstinstanzlich zehn Monate Haft ohne Bewährung, ihr Berufungsverfahren begann am 30. Juli in Tunis.

Wesentlich prominenter ist der Journalist und Schriftsteller Taoufik Ben Brik, der auch international dadurch bekannt wurde, dass er im Jahr 2000 einen Hungerstreik und Tunis und später in Paris gegen das Ben Ali-Regime durchführte. Er erfuhr am 23. Juli dieses Jahres überraschend, dass er im April 2020 in Abwesenheit zu zwei Jahren Haft verurteilt worden war. Der Grund war, dass er zuvor öffentlich die "politische Instrumentalisierung der Justiz" kritisiert hatte - im Zusammenhang mit der Inhaftierung des damaligen Präsidentschaftskandidaten Karoui, den er unterstützt hatte, im Jahr 2019.

Ben Briks plötzliche Inhaftierung führte zu Protesten u.a. auch aus Algerien, Marokko und Frankreich. Der Journalist forderte einen neuen Prozess, der dann auch am 23. Juli durchgeführt wurde; in dessen Verlauf wurde die Strafe dann auf ein Jahr ohne Bewährung reduziert, für dieses wurde jedoch sofortiger Haftantritt angeordnet. Am 04. August wurde jedoch, mutmaßlich infolge der Proteste, seine Freilassung angeordnet. Es bleibt eine Warnung an alle, die aufgebehren könnten, im Raum stehen.