Tunnel zur Sehnsucht
Der Eurotunnel wird immer mehr zum Zerrspiegel der europäischen Asylpolitik
Das randvolle Flüchtlingslager des roten Kreuzes im nordfranzösische Dörfchen Sangatte, das nur wenige Kilometer vom Eingangsbereich des Eurotunnels entfernt liegt, sorgt seit seiner Eröffnung 1999 regelmäßig für traurige Schlagzeilen in der französischen und britischen Presse: Seit letztem Jahr sind 12 illegale Einwanderer beim Versuch durch den Tunnel nach England zu gelangen, ums Leben gekommen. Ca. 1300 Afghanen, Kurden und Iraner befinden sich zur Zeit im desolaten Auffanglager und versuchen immer wieder aufs Neue, auf einen Güterzug aufzuspringen oder per pedes in den Genuss der vorläufig noch liberaleren britischen Asylpolitik zu kommen. Manche Lagerinsassen sollen es schon bis zu 60 Mal versucht haben. Da wundert es nicht weiter, dass sowohl die britische Regierung als auch die Betreiberfirma des Eurotunnels und der örtliche Bürgermeister darauf drängen, dass Sangatte geschlossen wird. Was für die Menschenrechtsorganisationen und selbst den ultraliberalen neuen französischen Innenminister auch keine zufriedenstellende Lösung darstellen kann.
Dann würden Hunderte von illegalen Einwanderern, die Nacht für Nacht ihr Glück versuchen, wieder auf den Straßen und Plätzen der umgebenden Städte und Dörfer "herumlungern", wie es vor der Eröffnung des Flüchtlingslagers im September 1999 der Fall gewesen war. Ursprünglich vom Roten Kreuz nur als Provisorium für maximal 700 Flüchtlinge vorgesehen, herrscht im ehemaligen Werkzeughangar des Eurotunnelbetreibers drastische Raumnot: 14 Duschen und 14 Toiletten stehen für die bis zu 1800 Flüchtlinge zur Verfügung und es kommt regelmäßig zu Handgreiflichkeiten zwischen den Lagerinsassen, wie Amnesty International berichtet.
Seit der Eröffnung sind hier 46.000 Menschen notdürftig in Zelten und Baustellenbaracken untergebracht worden. Nur 300 von ihnen haben einen Asylantrag in Frankreich gestellt, wo die Wartezeiten bis zu 8 Monate betragen können. 8 Monate ohne jegliche finanzielle oder soziale Unterstützung. In Großbritannien hingegen, können Asylbewerber bereits nach 6 Monaten rechtmäßig einer Arbeit nachgehen.
Letzte Weihnachten veranstalteten 500 Flüchtlinge einen regelrechten Ansturm auf den Tunnel, um zu Fuß die 40 km, die sie vom Land der scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten trennen, zu überwinden, und legten damit den nächtlichen Güterzugsverkehr stundenlang lahm. Die britisch-französische Betreiberfirma des Eurotunnels berichtet in einer Presseaussendung, dass die Menge der transportierten Tonnage allein während des ersten Trimesters 2002, um 49% abgenommen hat - "auf Grund von Störfällen mit Illegalen". Einnahmeverluste, die man freilich nicht so einfach hinnehmen möchte: Mehrere Millionen Euro wurden in Sicherheitsvorkehrungen wie Videoüberwachung, Stacheldrahtzäune und Hundestaffeln investiert.
Nach mehr Sicherheit sehnt sich auch das 900-Seelendörfchen Sangatte, dessen Bürgermeister nicht müde wird, darauf hinzuweisen, dass das Lager doppelt so viele Flüchtlinge zählt, wie sein Dorf Bewohner hat. Unnötig darauf hinzuweisen, dass sich der "Franzosenfreund" Le Pen, in der Region um Calais/Sangatte überdurchschnittlich hoher Beliebtheit erfreut.
Doch der letztwöchige Blitzbesuch des frischgebackenen Innenministers Nicolas Sarkozy, der erste und einzige französische Minister, der sich bislang vor Ort gewagt hat, wollte weder den überstrapazierten Mitarbeitern des Roten Kreuzes, noch den Anrainern kurzfristige Lösungen in Aussicht stellen: Die Schließung des Auffanglagers sei zwar ein Ziel, aber kein vorrangiges. Viel wichtiger sei es, die europäische Asylpolitik zu harmonisieren und das Sicherheitspersonal innerhalb des Flüchtlingszentrums aufzustocken. Von den schon längstens von humanitären Organisationen verlangten Verbesserungen der Lebensbedingungen war freilich keine Rede.
Das stellt auch die aufgebrachte britische Regierung alles andere als zufrieden. Sie macht Frankreich für den nicht nach lassenden Strom von illegalen Einwanderern, die durch den Tunnel nach Großbritannien zu gelangen versuchen, verantwortlich. Bis zur Legislative im Juni gebe es in Frankreich ohnehin keine Regierung, die man zur Kenntnis nehmen müsse, ließ Premier Blair durch seinen Pressesprecher wissen. Auch die EU-Kommission ruft Frankreich zur Ordnung und droht mit rechtlichen Schritten, falls der Tunnel nicht besser gesichert wird. Laut der britischen Gütertransportfirma English Welsh and Scottish Railways sind in den letzten 6 Monaten ca. 1300 illegale Einwanderer auf Güterzügen nach England gelangt.
Derweilen versucht die britische Regierung, ganz so wie Spanien, künftig die Gewährung von Entwicklungshilfen vom demonstrativen Willen der Ursprungsländer, ihre potenziellen illegalen Immigranten zurückzuhalten, abhängig zu machen. Wie sie das tun, bleibt selbstverständlich gerade jenen Ländern überlassen, deren Bewohner sich offenbar derart in ihrer Existenz bedroht fühlen, dass sie gewillt sind, ihren Familie und ihrer Heimat den Rücken zu kehren und sich skrupellosen Schlepperbanden anzuvertrauen.
Die allgemeine Orientierung der EU-Länder in Sachen Immigrationspolitik wird sich an zwei bevorstehenden Treffen ablesen lassen: Am Donnerstag kamen die 15 Innenminister in Rom zusammen haben schon einmal die Einrichtung einer europäischen Grenzschutzpolizei beschlossen. Am 21. und 22. Juni wollen die EU-Staats- und Regierungschefs in Sevilla gemeinsam der illegalen Einwanderung den Kampf ansagen. Um nicht tatenlos den Rechtspopulisten das Feld zu überlassen, wie Tony Blair es formuliert. Großbritannien erwägt, Tausende von Asylbewerbern abzuschieben, bevor sie gegen die Ablehnung Einspruch erheben können. Frankreich ist damit einverstanden. Die Politiker in Rom erklärten, dass Europa keine Festung werden soll.