"Turning point"

Kölner Silvesternacht: Alice Schwarzer über rechtsfreie Räume mitten in Europa, über Silvester als "Kriegsansage" und politische Tabus bei der Aufarbeitung

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Alt-Feministin Alice Schwarzer kommt rasch auf den Punkt: Die Übergiffe der Kölner Silvesternacht waren für sie eine massive Machtdemonstration Gleichgesinnter - und damit mehr als ein zufälliges aus der Spur gelaufenes Event. Im Interview mit dem Kölner Stadt-Anzeiger1 redet sie Tacheles, äußert sich gewohnt streitbar zu den Vorgängen der Kölner Terrornacht: Mitten in Europa, auf dem zentralsten Platz einer Millionen-Stadt, habe es einen rechtsfreien Raum auf Kosten Hunderter von Frauen gegeben, mindestens zehn Stunden lang. "Das ist ein neues Phänomen, das es so in Europa bis dahin nicht gegeben hat."

Bahnhofsplatz in Köln. Bild: Raimond Spekking/CC-BY-SA-4.0

Mit "Der Schock - die Silvesternacht von Köln" hat sie nun einen Sammelband über die Ereignisse und Hintergründe vorgelegt. Schwarzer hat den Haupttext verfasst. Die Hälfte der Autorinnen und Autoren, die zu ihrem Buch Texte beigesteuert haben, stammen aber aus dem muslimischen Raum: "Für sie", so Schwarzer über diese Gruppe ihrer Mitstreiter, sei doch sofort klar gewesen, "dass das [die Übergriffe an Silvester] eine kleine Kriegsansage gewesen ist, eine Aggression mit politischer Intention". Nun also ein Tahrir-Platz, mitten in Köln.

Was hat sie persönlich am meisten geschockt?

Die Silvesternacht ist ein Schock für alle gewesen, ein turning point. Das war mehr als ein Angriff auf ein paar hundert Frauen. Das war ein politisches Event, das weltweit schockiert hat.

Alice Schwarzer

Die "EMMA"-Redaktion liegt nur eine Viertelstunde fußläufig vom Ort des Geschehens entfernt. In den Wochen nach Silvester klopften dort Journalisten-Kolleginnen aus der ganzen Welt an, fragten: "Was war da eigentlich los? Wie konnte das passieren? Und welche Schlüsse zieht ihr als Feministinnen daraus?" Auf Arabisch, so Schwarzer, gibt es sogar einen eigenen Begriff für diese Art von Terror gegen Frauen: Taharrush Jamai (sexuelle Gruppen-Gewalt).

"Und dann frage ich mich", sinniert die EMMA-Herausgeberin an der Stelle, "ob die Angriffe nicht auch dem Kölner Dom gegolten haben, der weltweit ein christliches Symbol ist und der ja auch mit Raketen beschossen wurde."

Auch eine Demütigung der Männer

Der Politologe Bassam Tibi, einer der Mitautoren des Buches, schreibt, es sei den Tätern auch darum gegangen, die Ehre der deutschen Männer zu beschmutzen. "Wenn man sich an den Frauen vergeht, demütigt man gleichzeitig die Brüder, Männer, Väter dieser Frauen, die ‚ihre Frauen’ nicht schützen konnten."

Die Arbeit der Polizei nimmt Schwarzer ausdrücklich in Schutz: "Die hat versagt, ja. Aber auch, weil sie selbst Angst hatte. (…) Sie haben früher als wir begriffen, dass die Männer Ausländer, Flüchtlinge waren und konnten ahnen, welches politische Desaster das wird." Deswegen finde sie gut, dass jetzt das Zusammenspiel zwischen Politik und Polizei beleuchtet werde: "Wenn Polizisten tatsächlich angewiesen worden sind, das Wort Vergewaltigung aus einem Bericht zu streichen, ist doch etwas faul im Staat."

In dem nachfolgenden Desaster bei der Aufarbeitung, das für eine Weile noch den NRW-Untersuchungsausschuss beschäftigen wird, erkennt die Feministin eine lange Geschichte des Vertuschens. Schon vor 20 Jahren habe ihr "ein hochrangiger Polizist" erzählt, 70 bis 80 Prozent aller Vergewaltigungen in Köln gingen auf das Konto von Türken. Auf die Frage, warum das nicht öffentlich gemacht würde - "denn nur, wenn man es benennt, kann man es auch ändern", so Schwarzer - habe der Beamte erwidert: "Das kann ich nicht sagen, das ist völlig tabu." Wenig optimistisch ist die Interviewte, was die Verfolgung der Straftaten angeht. Ihre Prophezeiung: Es werde "kein einziger Fall" aufgeklärt werden.

Zumindest da liegt die Gute falsch. In Düsseldorf jedenfalls ist am Mittwoch (11.05.2016) der erste Grapscher aus der (dortigen) Silvesternacht zu einem Jahr und sieben Monaten Haft ohne Bewährung verurteilt worden. Das Amtsgericht sprach einen 33-jährigen vorbestraften Marokkaner wegen gefährlicher Körperverletzung und tätlicher Beleidigung schuldig.

Und was die Politik angeht - NRW-Innenminister Ralf Jäger als oberster Polizeichef dürfte sich nicht freuen. Vor dem Düsseldorfer Untersuchungsausschuss zur Kölner Nacht musste er zuletzt sieben lange Stunden Rede und Antwort stehen. Dabei blieben knifflige Fragen weiter offen. Ausdrücklich lobt daher die streitbare Alice die lokalen Medien und Netzwerker, die die Aufklärung vorantreiben.

Auf ihrer Homepage teilt sie unterdes knallhart gegen die Linke aus und nennt in einem Atemzug die Integration eine "Herkulesaufgabe":

Im Lichte dieser unbarmherzigen Realitäten erweist sich der linke, akademische Kulturrelativismus als elitär, ja reaktionär. Diese Art von blinder "Fremdenliebe" ist letztendlich nur die andere Seite der Medaille des einstigen "Fremdenhasses" der Eltern und Großeltern. Auch sie leugnet die Realität, leugnet, dass die wahre Integration eine Herkulesaufgabe sein wird. Aber sein muss.

Alice Schwarzer