US-Bericht: Die Zeitbombe im Nordosten Syriens
Der Lagebericht des Generalinspekteurs zur Anti-IS-Mission warnt vor dem großen IS-Rekrutierungspool und Indoktrinationszentrum durch 45.000 IS-Anhänger im Lager al-Hol
Probleme, die nicht akut sind und für die es keine einfachen Lösungen gibt, die der Öffentlichkeit in Aussicht gestellt werden können, werden von Regierungen auf die lange Bank geschoben. Das ist der Fall bei den IS-Kämpfern, - Anhängern und Familien, die im Nordosten Syrien von der SDF in Gefängnissen und Lagern festgehalten werden. Das Problem hat eine ganz eigene Dimension, wenn es um die Kinder geht, um den "Kampf um die Köpfe". Die indoktrinierten Kinder sind die Zukunft des IS.
"Jeder Tag mehr, den sie im Lager al-Hol verbringen, ist ein Tag, an dem sie indoktriniert werden", warnen Vertreter der kurdischen Selbstverwaltung, die das Lager bei al-Hasaka leitet, schon seit vielen Monaten. Nun wird die Situation kritisch.
Die Ankündigung einer türkischen Militäroperation
Was passiert mit den gefangenen IS-Kämpfern, wenn der türkische Präsident Erdogan seine in den letzten Tagen erneuerte Ankündigung einer Militäroperation im Norden Syriens östlich des Euphrat tatsächlich umsetzt?
Ein zentrales Gefängnis, wo hochkarätige IS-Kämpfer festgehalten werden (und bereits einen Ausbruchsversuch unternommen haben), befindet sich in Derik (kurdisch: Dêrik; arabisch: al-Malikiya) unmittelbar an der türkischen Grenze …
Was passiert mit dem Lager al-Hol, dessen Aufsicht schon jetzt damit überfordert ist, dass sich das Lager mit über 70.000 Bewohnern in einen "Mini-IS" verwandelt hat, wo die Sharia gilt, und die IS-Ideologie den Kern des Lebens und der Erziehung ausmacht?
Nur "minimale Sicherheit"
Im Falle einer türkischen Militäroperation ist davon auszugehen, dass die SDF ihre Kräfte bündeln werden, um sich darauf zu konzentrieren. Schon jetzt wird die Lage in al-Hol so beschrieben, dass die SDF nur für "minimale Sicherheit" sorgen kann.
Das sei "ein Defizit, das Bedingungen geschaffen hat, die es erlaubt haben, dass sich die IS-Ideologie widerstandslos in dem Lager verbreiten kann". Die Aussage stammt aus dem aktuellen Quartalsbericht des leitenden Generalinspekteurs der Operation Inherent Resolve (OIR), der dem US-Kongress vorgelegt wird.
Wie immer werden interessante Stellen nicht an die Öffentlichkeit weitergegeben und bleiben geheim, dennoch finden sich im Bericht, der den Zeitraum von 1. April bis 30. Juni dieses Jahres abdeckt, beachtenswerte Informationen. Zum Beispiel Zahlen.
Ungefähr 10.000 IS-Kämpfer wurden in diesem Zeitraum vom SDF gefangen gehalten, davon sind 2.000 "ausländische Kämpfer", die übrigen 8.000 haben entweder die syrische oder irakische Nationalität. Circa 800 IS-Kämpfer kommen aus europäischen Ländern, 450 allein aus Frankreich. 1.200 IS-Kämpfer kommen "aus anderen Ländern". Das Gebiet der früheren Sowjetunion, der Nahe Osten, Nordafrika, Süd- und Südostasien werden hier als Herkunftszonen angeführt.
Von den erwähnten 70.000 Insassen des Lagers al-Hol sind etwa 50.000 unter 18 Jahre alt. Nach Schätzungen befinden sich darunter 45.000(!) IS-Anhänger. 11.000 sind IS-Familienmitglieder aus ausländischen Staaten. Rund ein Viertel, 27 Prozent, sind laut Schätzungen Frauen. Mehr als zwei Drittel sind Kinder im Alter unter 12 Jahren.
Beaufsichtigt werden die Lagerinsassen von der SDF und der "kurdischen Sicherheitsdienste", die Asayesch genannt werden. Dass die meisten der 16 anderen Lager für Binnenflüchtlinge laut des Operation-Inherent-Resolve-Lageberichts "kaum oder keine SDF-Präsenz haben und einige geschlossen wurden", mag ein weiterer Beleg für eine personelle Überforderung sein.
IS im Lager "aktiv"
Laut der Informationen des amerikanischen Generalinspekteurs, der sich hier auf das Zentralkommando der Vereinigten Staaten (US-Centcom) beruft, ist die IS im Lager al-Hol "aktiv" und "wahrscheinlich" dabei dort neue Rekruten anzuwerben. An dieser Stelle des Berichts wird vermerkt, dass das Centcom, um den Rekrutierungspool des IS zu reduzieren, es für entscheidend hält, dass die Bewohner des Lagers woanders hingebracht werden, entweder zu syrischen Verantwortlichen (i.O. "guarantors") - wer immer das sein könnte, bleibt offen -, in irakische Verwahrung oder "im Fall der ausländischen Kämpfer in ihre Herkunftsländer".
Aus dem Bericht geht ebenfalls hervor, dass Mitglieder der "gemeinsamen Taskforce der Operation Inherent Resolve" (CJTF-OIR) nach dem bereits begonnenen Abzug von US-Truppen nun nicht mehr wie zuvor Aufgaben erledigen, die die Aufsicht über das Lager unterstützt haben. Wie diese Unterstützung genau aussah, wird nicht detailliert geschildert, erwähnt wird mehr oder weniger nur logistische Hilfe.
Zweck des Quartalsberichts des leitenden CJTF-OIR-Generalinspekteurs ist es einzuschätzen, wie es um die Bedrohungslage des IS im Irak und in Syrien bestellt ist, da dies unmittelbar mit der Mission der Operation Inherent Resolve zu tun hat.
Das Wiedererstarken des IS
Dazu liefert der Bericht denjenigen, die Nachrichten im Gebiet Irak und Syrien verfolgen, nichts wesentlich Neues. Die Grundaussage lautet, dass der IS zwar sein Territorium am Boden eingebüßt hat, aber Tausende von IS-Kämpfern im Irak und in Syrien geblieben sind und dort Angriffe ausführen und ihre Kapazitäten wieder neu aufbauen.
Herausgehoben wird, dass es dem IS vor allem im Irak, nicht zuletzt durch die aus Syrien geflohenen IS-Kämpfer, gelungen ist, "einen stabileren Kommando- und Kontrollknotenpunkt für die Koordination von Angriffen" zu errichten. Auch würde der IS im Irak eine schlecht kontrollierte, weil umstrittene Zone zwischen der kurdischen Autonomen Region im Nordirak und dem Kontrollbereich der Sicherheitskräfte der Zentralregierung in Bagdad ausnutzen.
Dies sind nach Einschätzung des Berichts nicht in der Lage, Gebiete, die sie aus den Händen der IS-Milizen erobern, langfristig zu halten. Für Syrien wird vermerkt, dass der IS seine "Aktivitäten wieder aufgenommen hat". Die angewandten IS- Taktiken würden sich in beiden Ländern ähneln: "gezielte Tötungen, Hinterhalte, Selbstmordattentate und das Anzünden von Feldern". Große konventionelle Angriffe zur Eroberung von Territorium, das dann über einen längeren Zeitraum gehalten wird, hätten in dem Berichtszeitraum nicht stattgefunden.
Die Zahl der IS-Kämpfer im Irak und in Syrien wird zwischen 14.000 und 18.000 angegeben, darunter etwa 3.000 ausländische Kämpfer.
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