US-Historiker: Ära in Nahost endet, nachdem Gaza-Käfig explodierte

Seite 2: So kann es nicht weitergehen, so wird es nicht weitergehen

Diese Art von Druck, der über ein dreiviertel Jahrhundert auf ein ganzes Volk ausgeübt wird, führt zwangsläufig zu einer gewalttätigen Reaktion. Der Druckkessel, in dem sich die Palästinenser befinden, wird von verschiedenen Elementen angetrieben.

Der Hamas-Militärkommandeur zählte einiges auf. Er verwies auf Jerusalem, wo versucht wird, die Al-Aqsa-Moschee zu übernehmen und sie in eine jüdische Gebetsstätte zu verwandeln; er sprach über das besetzte Westjordanland, wo immer mehr palästinensisches Land effektiv an Israel angegliedert wird; er erklärte, dass israelisches Recht auf Israelis und Militärrecht auf Palästinenser angewendet wird – ein Apartheid-System, zwei Rechtssysteme am selben Ort – und deutete auf die Inhaftierung von 5.000 Palästinensern, die Haft von Hunderten Palästinensern aus administrativen Gründen sowie schließlich die Belagerung des Gazastreifens hin.

Joaw Gallant, der israelische Verteidigungsminister, der ankündigte, dass er den Gazastreifen von Treibstoff, Lebensmitteln, Wasser und Strom abschneiden werde, nannte die Gaza-Bewohner "menschliche Tiere". Das sind 2,4 Millionen Menschen, die behandelt werden, als wären sie Tiere. Sie sind keine Hamas-Kämpfer.

Die Kämpfer und die Hamas sind eine Sache. Die Hamas hat sich der Bevölkerung von Gaza aufgezwungen. Die Menschen von Gaza sind diejenige, die leiden werden. Wie in jedem der Kriege, die Israel in Gaza geführt hat, werden fast alle Opfer Zivilisten sein.

Das ist der fünfte oder sechste Angriff auf Gaza. Und ich fürchte sehr, dass wir ein beispielloses Massaker erleben werden. Aber wir müssen auch erkennen, dass es das Ende einer Ära sein könnte.

In der alten Ära ging man in Washington und in den arabischen Hauptstädten davon aus, man könne Palästina einfach überfliegen, es ignorieren und vorgeben, als befänden wir uns in einem neuen Nahen Osten des Friedens, während ein ganzes Volk unter dieser Art von unglaublicher Unterdrückung, in einem Dampfkochtopf lebt. Das musste explodieren.

Was wird jetzt geschehen? Sie haben die Republikaner in den USA, die US-Präsident Joe Biden angreifen. Sie sagen, dass seine Unterstützung für den Iran, der Abschluss des Sechs-Milliarden-Dollar-Deals und die Freisetzung iranischer Gelder die Ereignisse ermöglicht haben. Das Wall Street Journal erklärt, dass der Iran dahintersteckt. Das Weiße Haus weist das zurück, man habe zu diesem Zeitpunkt keine Beweise dafür. Und was ist mit der Hisbollah an der Grenze zum Libanon und ihren Grenzüberschreitungen am Wochenende?

Rashid Khalidi: Die Möglichkeit eines größeren Konflikts sollte jeden erschrecken. Und anstatt Flugzeugträger zu verlegen, sollten die Vereinigten Staaten versuchen, die Situation zu entschärfen.

Doch stattdessen setzen sie blindlings die Politik fort, die sie in der Vergangenheit verfolgt haben. Man macht, wie es Präsident Biden getan hat, einer Apartheid-Regierung keine Geschenke, einer Regierung, die den Schutz der israelischen Verfassung für israelische Juden zerstört und das Westjordanland annektiert.

Das ist es, was die Netanjahu-Regierung getan hat. Auch die früheren Regierungen haben dergleichen unternommen. Wir finanzieren die Besatzung. Wir finanzieren die Gewalt.

Es sind US-amerikanische Waffen, die heute, in diesem Moment, in Gaza eingesetzt werden, um unschuldige Zivilisten zu töten und damit gegen US-Recht zu verstoßen. Und US-Politiker reden munter drauflos, als würden sie auf einem anderen Planeten leben.

Ich denke aber, dass sich die Verhältnisse geändert haben. Auch wenn die US-amerikanischen Politiker in Bezug auf Palästina in einer Traumwelt leben, wird die Realität früher oder später auf sie fallen. In der gesamten arabischen Welt gibt es eine weitverbreitete Abscheu gegen das, was Israel in Palästina tut.

Autoritäre, diktatorische, absolute Monarchien versuchen, das zu ignorieren, die Gefühle ihres eigenen Volkes zu übergehen, sich darüber hinwegzusetzen. Das wird nicht funktionieren. Man kann keinen Frieden auf den Leichen von Palästinensern schließen.

Das ist kein Frieden. Das ist Friedhofsruhe. Und die Art von Unterdrückung, die tagtäglich ausgeübt wird – Landraub, Ausweitung der Siedlungen und so weiter – wird zwangsläufig eine Reaktion hervorrufen. Ob die Menschen, die in Washington D.C. und in ihrer eigenen alternativen Realität leben, es nun heute oder morgen realisieren, früher oder später wird sich diese Realität durchsetzen. Man kann das nicht ewig so weitermachen.

Der nationale Sicherheitsberater der US-Regierung, Jake Sullivan, sagte erst vor zehn Tagen, dass es im Nahen Osten sehr ruhig sei, was es den USA ermöglicht habe, sich auf andere Gebiete der Welt zu konzentrieren. "Sehr ruhig", sagte er. Was ist Ihr Kommentar dazu? Glauben Sie, dass dieser Angriff der Hamas-Kämpfer am Samstag etwas mit der Normalisierung der Beziehungen zwischen Saudi-Arabien und Israel auf Betreiben der Vereinigten Staaten zu tun hat?

Rashid Khalidi: Ich bezweifle nicht, dass das ein Faktor war. Ich denke aber, der grundlegende Faktor ist, dass die Menschen unter diesen Umständen nicht leben können. Die Hamas ist mit enormer Brutalität gegen die Zivilbevölkerung vorgegangen, das sind zweifellos Kriegsverbrechen. Aber sie hat auf eine Weise gehandelt, die dieses ganze Paradigma erschüttert. Die Menschen in den Ländern, die sich mit Israel normalisiert haben, werden das sehr genau beobachten und reflektieren.

Eine andere Sache, die gesagt werden sollte, ist, dass es sich um ein massives Versagen der Geheimdienste handelt, sowohl der US-amerikanischen als auch insbesondere der israelischen. Sie hatten absolut keine Ahnung, dass es kommen würde.

Sie haben drei Bataillone von der Gaza-Front ins Westjordanland verlegt, um die Siedlerangriffe auf die Palästinenser zu beschützen. Dabei haben sie die Städte an der Südgrenze des Gazastreifens alleingelassen, sodass sie sich nicht gegen den Angriff der Hamas verteidigen konnten. Eine der größten Täuschungsoperationen der modernen Militärgeschichte.

Abgesehen von den Kriegsverbrechen wird dieser Vorgang noch jahrelang an den Militärakademien gelehrt werden. Das Ereignis steht auf einer Stufe mit dem Krieg von 1973, was die Täuschung angeht.

Es ist seitens der Israelis naiv zu glauben, dass man das dem Gazastreifen ewig antun kann und die Menschen es einfach hinnehmen würden.