US-Raketen in Deutschland: "Die Welt wird eher gefährlicher"
SPD und Grüne loben Stationierung von US-Waffen, Experten warnen. Keine Debatte im Bundestag. Welche Folgen die Entscheidung haben kann. Ein Telepolis-Podcast.
Ab 2026 sollen in Deutschland neue amerikanische Raketen mit strategischer Reichweite stationiert werden. Das haben Deutschland und die USA Anfang Juli am Rande des Nato-Gipfels in Washington beschlossen. Weder gab es darüber eine Debatte im Bundestag, noch spielte das Thema in der deutschen Öffentlichkeit eine größere Rolle.
Nun, im Nachgang, hat das Präsidium der Kanzlerpartei SPD den Schritt begrüßt, um, wie es heißt, künftigen Generationen ein Leben in Frieden zu ermöglichen. Und auch die grüne Außenministerin Baerbock lobt die geplante Stationierung amerikanischer Raketen. Sie sagt, Russland habe schon vor Jahren mit Abrüstungsverträgen und der gemeinsamen Friedensarchitektur gebrochen.
Deutlich kritischer sieht es der Militär- und Sicherheitsexperte Wolfgang Richter. Er war Oberst der Bundeswehr, später Mitglied der Deutschen Delegation für die globale Rüstungskontrolle bei den Vereinten Nationen und der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Außerdem war er für die Stiftung Wissenschaft und Politik tätig, die auch die Bundesregierung berät. Derzeit ist er Senior Fellow beim Österreichischen Institut für Europäische und Sicherheitspolitik.
Die geplante Stationierung: Welche Raketen und wie viele?
Dietmar Ringel hat mit ihm gesprochen.
▶ Wie viele US-Raketen sollen ab 2026 in Deutschland stationiert werden, und was zeichnet diese Waffen aus?
Wolfgang Richter: Zur Zahl ist in der Erklärung nichts gesagt worden. Man kann nur ableiten, wie eine Normalstruktur einer solchen Multi Domain Task Force aussieht. Das können zwei bis vier Batterien sein – also etwa 12 bis 36 Startrampen oder Launcher. Jeder dieser Launcher kann vier Raketen abfeuern. Dahinter stehen dann noch weitere Ersatzraketen, so dass es am Ende auf 42 bis 72 Raketen hinauslaufen dürfte. Es geht dabei um drei verschiedene Typen.
Die kürzeste Reichweite haben die SM-6-Standard-Raketen, die in erster Linie zur Raketenabwehr da sind und auch bei Aegis-Ashore- Stellungen benutzt werden, also auf Schiffen, die den gleichen Namen tragen. Sie haben aber auch eine Boden-Boden-Funktion, das heißt, sie können auch Bodenziele in einer Entfernung von über 400 Kilometern bekämpfen.
Das zweite System ist die schon sehr bekannte, seegestützte Cruise Missile oder Marschflugkörper Tomahawk, die bereits mehrfach auf Schiffen im Einsatz war, von denen einige auch in Europa stehen. Die Tomahawks werden aber auch von U-Booten abgeschossen. Gerade wurde ein solches U-Boot ins östliche Mittelmeer verlegt, um Iran von einem Raketenangriff auf Israel abzuschrecken.
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Die Reichweite der Tomahawk wird je nach Version zwischen 1.600 und ungefähr 2.500 Kilometern angegeben. Problematisch an der landgestützten Version ist, dass sie die Regeln des INF-Vertrags nicht mehr beachtet. Mir ist natürlich bewusst, dass man sagt, Russland sei schuld daran, dass der INF-Vertrag 2019 außer Kraft getreten ist. Gleichwohl gab es allerdings einen Moratoriums-Vorschlag von Seiten der Russen, diese Raketen nicht zu stationieren.
Und die Amerikaner haben noch bis Anfang 2022 diesen Vorschlag durchaus erwogen und gesagt, dann brauchen wir aber auch die Verifikation eines bestimmten russischen Systems, das im Verdacht steht, ebenfalls die Reichweitenbegrenzung des INF-Vertrags gebrochen zu haben.
▶ Der Vorwurf des Westens war ja, die Russen hätten diesen Vertrag ohnehin schon gebrochen. Stichwort Raketen, die in Kaliningrad stationiert sind und unter anderem auch Deutschland bedrohen. Was ist dran an diesem Vorwurf?
Wolfgang Richter: Zunächst einmal gab es den Vorwurf der Amerikaner schon seit sehr langer Zeit, dass die Russen eine Rakete getestet haben, die im INF- Reichweitenspektrum ist, damit also den INF-Vertrag verletzen würde. Dieser Test wurde von einem statischen Launcher durchgeführt, was für Testzwecke auch nach dem INF-Vertrag erlaubt ist.
Der eigentliche Punkt ist, dass nach amerikanischer Auffassung dieselbe Rakete von einem mobilen Startgerät verwendet worden sei, was dann in den INF-Vertragskontext fallen würde, und dass diese Rakete dann ganz bewusst nur 500 Kilometer Reichweite demonstriert habe, um den Westen zu täuschen. Es handele sich aber um dieselbe Rakete. Von außen ist es schwer zu beurteilen, ob es tatsächlich dieselbe Rakete ist oder nicht.
Meiner Ansicht nach ist die entscheidende Frage, welche Rakete in die Truppe eingeführt wird. Die Russen haben ja diesen Vorwurf stets bestritten. Sie haben gesagt, sie hätten einen größeren Sprengkopf in dieser Rakete und ein komplexeres Steuerungssystem, und dann bliebe nicht so viel übrig für den Treibstoff. Die Rakete sei also innerhalb der Begrenzung des INF-Regimes gewesen.
Diese beiden Aussagen stehen nun gegeneinander. Gleichzeitig haben die Russen aber auch den Amerikanern vorgeworfen, sie würden einen ebenfalls verbotenen Launcher in den Aegis-Ashore-Stellungen in Polen und Rumänien nutzen, von denen aus man landgestützte Marschflugkörper des Typs Tomahawk abschießen könne, und damit würden sie Russland bedrohen.
Ich sage: Diese Vorwürfe haben wir gehört. Nun müsste man erstens den politischen Willen haben, das Problem zu lösen. Technisch gesehen wäre das durchaus machbar gewesen, indem man für neue Raketen zusätzliche Protokolle schreibt.
Diese Raketen gab es ja noch nicht, als der INF-Vertrag beschlossen wurde und man die technischen Spezifika festgelegt hat. Es ist in der Tat so, dass die Reichweite von Raketen immer bestimmt wird von der Nutzlast, und die Nutzlast kann aus Sprengköpfen, Steuerungssystemen, der Hülle, dem Motor, aber auch der mitgeführten Sprengladung bestehen. Und je größer diese Nutzlast ist, desto geringer ist die Reichweite.
Das hätte man also festlegen und dann gegenseitig verifizieren müssen. Dieses Angebot lag seitens der Russen vor, das war die Grundlage für das sogenannte Moratorium, dass man sagt, auch wenn der Vertrag nicht mehr in Kraft ist, können wir uns gegenseitig verständigen, eine Stationierung abzuwenden, indem man das regelt, vor allen Dingen verifiziert.
Es gab noch den zusätzlichen Vorschlag, dass man das umstrittene System der Russen mit dem Kürzel 9M729 hinter den Ural verlegt, solange man es nicht eindeutig verifiziert hat, damit es nicht in Europa stationiert wird. All diese Dinge sind jetzt mit der Entscheidung über die Stationierung neuer amerikanischer Raketen in Deutschland vom Tisch.
Es gibt eine politische Wende, die nach dem Beginn des Angriffskriegs Russlands auf die Ukraine eintrat. Denn kurz davor haben die Amerikaner durchaus noch erwogen, ein Moratorium mit gegenseitiger Verifikation umzusetzen.
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▶ Hat also dieser Beschluss unmittelbar zu tun mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine? Ist das eine Art Antwort des Westens?
Wolfgang Richter: Das ist meine Vermutung. Natürlich können wir jetzt nur spekulieren.
Ich glaube, dass es eher etwas mit dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine zu tun hat als mit der Fähigkeitslücke, die der Westen festgestellt hat. Da bin ich auch etwas anderer Meinung. Denn wenn man jetzt sagt, die see- und luftgestützten Raketen reichen nicht aus und wir brauchen zusätzlich auch noch landgestützte, dann muss man sich fragen, ob dieser operative Zugewinn in einem vernünftigen Verhältnis steht zu den Risiken, die wir dabei eingehen und auch zu den Folgen für die Rüstungskontrolle.
Ich halte beides für sehr schwerwiegend, und deswegen habe ich mich auch gewundert, dass sich dieser Beschluss weder im Nato-Kommuniqué von Washington wiederfindet, also eine rein bilaterale Entscheidung Deutschlands und der USA ist.
Und ich habe mich auch gewundert, dass es Deutschland singularisiert. Wir weichen damit von der bisherigen traditionellen Linie ab, uns nicht singularisieren zu lassen. Wir haben ja auch bei der nuklearen Teilhabe oder, wenn Sie zurückschauen auf den Nato-Doppelbeschluss von 1979, immer darauf geachtet, dass die Lasten- und Risikoteilung im Bündnis stattfindet. Das heißt, es müssen sich mehrere Staaten daran beteiligen.
Das ist diesmal nicht geschehen. Und der andere Aspekt, den Sie schon angesprochen haben, ist, der, dass man vorweg keine Debatte gehabt hat, weder im Parlament noch in der deutschen Öffentlichkeit, obwohl die Auswirkungen aus meiner Sicht sehr gravierend sind. Das sind auch meine Kritikpunkte hier.
▶ Lassen Sie mich noch mal auf die Frage zurückkommen, warum das Ganze nur bilateral zwischen Deutschland und den USA vereinbart wurde und nicht im Bündnis. Haben Sie eine Erklärung dafür?
Wolfgang Richter: Zunächst einmal muss man der Fairness halber sagen, dass nach dem Ende des INF-Vertrags das Bündnis immer offen gehalten hat, notfalls auch konventionelle Langstreckenwaffen zu stationieren. Die einzige rote Linie dabei war, keine nuklearen Mittel zu stationieren. Aber konventionell hat man es sich offen gelassen.
Dennoch findet sich diese Haltung nicht in dem gemeinsamen Bündnisstatement von Washington. Man kann jetzt nur spekulieren, warum das so ist. Offenbar gab es keinen Konsens, das zu begrüßen, wie man es bei solchen Maßnahmen sonst in der Regel tut. Man hat zum Beispiel in Washington begrüßt, dass Bulgarien, Rumänien und die Türkei eine gemeinsame Minen-Räumaktion im Schwarzen Meer durchgeführt oder dass einzelne Staaten die ukrainische Luftabwehr gestärkt haben.
Komischerweise ist aber die bilaterale deutsch-amerikanische Vereinbarung überhaupt nicht eingegangen in das Nato-Statement. Jetzt kann man natürlich spekulieren, wer den Konsens darüber verweigert haben könnte. Meistens wird da auf Staaten wie Ungarn oder die Slowakei verwiesen, es kann aber auch sein, dass es die Türkei war mit Blick auf ihre Vermittlerrolle. Oder Frankreich, das eine andere Auffassung hat über eigenständige europäische Fähigkeiten, unabhängig von den USA.
Ich möchte aber noch auf etwas anderes hinweisen. Nämlich auf den dritten Raketentyp, der in Deutschland stationiert werden soll und über den wir noch nicht gesprochen haben. Dabei geht es um Hyperschallraketen, die mit über Mach 5 Geschwindigkeit fliegen. Derzeit sind sie im Endstadium ihrer Erprobung. Es gibt aber bereits eingeführte Raketen, die Dark Eagle genannt werden.
Sie stellen die dritte Komponente der Multi Domain Task Forces dar, die in Wiesbaden bereits 2021 aufgestellt wurden. Mit einer Reichweite von knapp 3.000 Kilometern und ihrer hohen Geschwindigkeit sind diese Raketen in der Lage, in sehr kurzer Zeit, nämlich nur zehn Minuten, Moskau zu erreichen oder andere strategische Ziele in der Tiefe Russlands anzugreifen.
Mehr oder weniger Sicherheit für Deutschland?
▶ Wird es unterm Strich durch die neuen amerikanischen Raketen für Deutschland mehr oder weniger Sicherheit geben?
Wolfgang Richter: Meine Einschätzung ist, dass diese Raketen nicht dazu beitragen, die Rüstungskontrolle zu fördern. Und mit Blick auf den letzten Aspekt, den ich eben genannt habe, wird ein gewisser Präemptionsdruck ausgelöst. Was heißt das?
In einem Erklär-Video des Bundesverteidigungsministeriums sagt dessen politischer Direktor, um abschrecken zu können müssten wir auch in der Lage sein, russische Raketen zu entwaffnen oder zu zerstören, bevor sie überhaupt abgeschossen werden können.
Das halte ich für ein sehr seltsames Argument, weil es die strategische Stabilität erschüttert. Man muss sich das mal von der anderen Seite aus, also aus der russischen Perspektive, vorstellen. Das hieße nämlich, solche Raketen müssten zuerst eingesetzt werden, damit sie den Zweck der Entwaffnung der anderen Seite erreichen.
Und dann fragt man sich, in welchem Szenario soll das stattfinden, dass wir zuerst schießen? Das könnte die Russen dazu bringen, ihrerseits zu sagen, dann müssen wir die Raketenstellungen der NTO angreifen, bevor sie zum Schuss kommen. Diesen gegenseitigen Präemptionsdruck halte ich für gefährlich.
Es gibt also zwei Argumente, weshalb ich skeptisch auf diese Art der Raketenstationierung schaue. Erstens, weil der Druck, von dem ich gerade sprach, die Sicherheit vor allem in einem Konfliktfall nicht erhöht, sondern es für Deutschland gefährlicher macht – zumal Deutschland hier isoliert ist.
Und zum anderen, weil die Rüstungskontrolle damit an ein Ende kommt. Denn es ist völlig klar, dass, wenn es durch die Stationierung der US- Raketen in Deutschland kein INF-Moratorium gibt, es auch keine Fortsetzung der strategischen Stabilitätsgespräche zwischen den USA und Russland geben wird.
Die sind ja darauf ausgerichtet, den New Start-Vertrag zu verlängern, der die strategischen Nuklearwaffen begrenzt. Er läuft am 5. Februar 2026 aus, das ist nicht mehr lange hin.
Die Russen haben immer gesagt, für sie sei strategische Stabilität nicht nur die der Triade interkontinentalfähiger Angriffswaffen, also strategischer Bomber, landgestützter Interkontinentalraketen und U-Boot-gestützter Raketen mit einer entsprechenden Reichweite – wie das im New Start-Vertrag festgelegt ist und begrenzt wird.
Die Russen sagen, für ihre strategische Stabilität seien auch die westlichen Kurz- und Mittelstreckenraketen von Bedeutung, die näher an die russischen Grenzen heranrücken. Und gerade weil das so ist, weil man das auf Seiten Moskaus als Kuba-Effekt sieht, dürfte die jüngste Stationierungsentscheidung des Westens zu einer Gegenstationierung auf der russischen Seite führen und damit auch das Ende der Rüstungskontrolle einläuten.
Und wenn das der Fall sein sollte, noch sind wir nicht soweit, aber es könnte daraus entstehen, dann hätten wir ab Februar 2026 eine Welt, in der strategische Nuklearwaffen nicht mehr durch rechtsverbindliche Verträge begrenzt sind.
Dann gibt es allenfalls noch "Haushaltsgrenzen", also die Frage, ob was man sich finanziell leisten kann. Das heißt, die Schleusen für ein nukleares Wettrüsten sind dann geöffnet, und auch diesen Effekt halte ich für äußerst problematisch. Unterm Strich, wenn ich beide Argumente zusammennehme, wird aus meiner Sicht die Sicherheit nicht erhöht, sondern die Welt wird eher gefährlicher.
Die Rolle des Bundestags und der Öffentlichkeit
▶ Sie haben gerade erklärt, wie weitreichend die Folgen der Entscheidung sein können, 2026 und in den Folgejahren neue amerikanische Raketen in Deutschland zu stationieren. Der Bundestag war dabei nicht eingeschaltet. Es wurde dort nicht debattiert, es gab keinen Beschluss, auch in der Öffentlichkeit wurde das eher klein gehalten. Wie bewerten Sie das?
Wolfgang Richter: Es ist schon erstaunlich, dass wir erstens in unserer Politik von der bisherigen traditionellen Linie abweichen, uns nicht singularisieren zu lassen, was ich immer unterstützt habe. Und alles, was wir nach dem Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine tun, immer unter drei Aspekten zu betrachten.
Nämlich erstens: Wir wollen, dass die Ukraine als selbstständiger, unabhängiger und souveräner Staat erhalten bleibt. Zweitens: Wir wollen gleichzeitig unsere Verteidigungsfähigkeit nicht schwächen, sondern stärken. Und drittens: Wir wollen, und hier kommt der entscheidende Punkt, aber auch eine Eskalation verhindern. Wir wollen verhindern, selbst Kriegspartei zu werden.
Und wir wollen verhindern, dass sich der Krieg auf ganz Europa ausweitet, dass eine Eskalation eintritt, die natürlich nicht im europäischen Interesse sein kann.
Wenn ich das alles zusammenfasse, dann ist diese Entscheidung jetzt ein Abweichen von der traditionellen deutschen Linie.Und deswegen wundere mich umso mehr, dass diese Dinge nicht im Vorfeld breit diskutiert wurden. Ich habe auch den Eindruck, dass sie nur auf der obersten politischen Ebene überhaupt entschieden wurden. Ich bin mir zumindest nicht bewusst, dass die Arbeitsebenen in den verschiedenen Ministerien tatsächlich einen Anteil hatten an dieser Entscheidung.
Man hätte dort auch auf die Folgen hinweisen können. In jedem Fall hätte es aus meiner Sicht eine Debatte im Bundestag geben müssen. Nicht, weil, der Bundestag eine solche Entscheidung durch ein Mehrheitsvotum mittragen müsste. Das ist, glaube ich, rechtlich gesehen, tatsächlich nicht nötig. Aber hier sind die politischen Interessen Deutschlands mit solch schwerwiegenden Folgen berührt, dass doch eine breite politische Debatte nötig ist.
Diese Debatte wird jetzt auch stattfinden, wenn ich das richtig sehe. Im September soll es eine Bundestagsdebatte geben. Dennoch bin ich überrascht darüber, dass das erst jetzt im Nachgang passiert und nicht bereits vorweg geschehen ist, wie wir es etwa 1979 beim Nato-Doppelbeschluss hatten, wo diese Dinge sehr breit politisch und öffentlich diskutiert wurden.
▶ Sie sind seit Jahrzehnten im Bereich der deutschen Militär- und Sicherheitspolitik tätig. Sie waren Diplomat, dann waren Sie bei der Stiftung Wissenschaft und Politik, die auch die Bundesregierung berät. Wie sehen Sie die Debatte, die unter Sicherheitsexperten derzeit geführt wird? Mit Ihren Ansichten, die Sie eben geäußert haben, sind Sie ja nicht unbedingt Vertreter der aktuellen Mehrheitsmeinung. Wird da offen und kreativ diskutiert – oder sind die Weichen schon in eine andere Richtung gestellt?
Wolfgang Richter: Ich bin mir bewusst, dass es hier nicht darum geht, eine Mehrheits- oder Minderheitsmeinung zu vertreten. Ich bin ja nicht in einer Partei oder in einer bestimmten politischen Richtung tätig. Mir geht es, und das ist ja auch mein beruflicher Hintergrund, um die Sicherheitsinteressen Deutschlands. Und wir hatten ja in der Vergangenheit nicht umsonst eine deutsche Politik, die immer auf zwei Pfeilern ruhte.
Der eine Pfeiler war die Bündnispolitik, die natürlich mit der Abschreckung einhergeht, um Deutschland sicherer zu machen. Und der andere Pfeiler waren Dialog und Rüstungskontrolle.
So ist der Nato-Doppelbeschluss von 1979 aufgebaut worden. Diese Doppelstrategie gilt übrigens schon seit 1967, seit dem Harmel-Bericht der Nato. Sie war die Grundlage für die spätere Entspannungspolitik und die Politik der Rüstungskontrolle, die uns ja eigentlich weit gebracht und zumindest vorübergehend in den 1990er Jahren eine kooperative Sicherheitsordnung Europas ermöglicht hat.
Dieser kooperativen Sicherheitsordnung verdanken wir übrigens die deutsche Einheit, und viele unserer östlichen Nachbarn verdanken dieser Politik ihre Unabhängigkeit. Dennoch meint man, das sei eine falsche Politik gewesen. Ich bin nicht dieser Meinung, sondern ich finde, das war richtig.
Der Fehler lag darin, diese Politik nicht konsequent zu verfolgen, sondern sie wieder zu schleifen oder zumindest nichts dagegen zu tun, dass die Rüstungskontrolle und die Kooperation wieder abgebaut wird. Das ist, um es deutlich zu sagen, keine Rechtfertigung eines Angriffskriegs, den Russland führt, das ist selbstverständlich ein Völkerrechtsbruch.
Gleichwohl muss man sich die Frage stellen, warum es überhaupt so weit gekommen ist. Was haben wir da an irgendeiner Wegbiegung falsch gemacht? Warum sind wir von der Kooperation wieder in eine solche Konfrontation geraten? Das würde jetzt wahrscheinlich die Möglichkeiten dieses Gesprächs überschreiten. Aber man muss das natürlich diskutieren. Mir geht es darum, dass wir jetzt die Geschichte nicht rückwärts gesehen falsch darstellen.
Die Rüstungskontrolle ist in der Tat über die Jahre erodiert. Daran hat nicht nur Russland Schuld, da haben die Amerikaner ihren Anteil, insbesondere unter dem damaligen Präsidenten George W. Bush, der Teile der Rüstungskontrolle bereits abgeräumt hat. Und der Rest wurde durch Präsident Trump abgeräumt.
Auch dann, wenn es Dispute gibt über die Einhaltung oder Verletzung bestimmter Verträge, muss man sich bemühen, eine politische Lösung zu finden und sie durch gegenseitige Verifikation auch sicherzustellen. Diese Chance gab es, sie wurde nicht genutzt. Warum? Im Falle des INF-Vertrags gibt es aus meiner Sicht einen wichtigen Punkt, den wir in unserem Gespräch noch gar nicht berührt haben. Nämlich, dass die Amerikaner die Hauptrichtung ihrer Politik auf China konzentriert haben.
Das heißt, es war das chinesische Potenzial an Mittelstrecken- und Kurzstreckenraketen im Bereich des Ost- und Südchinesischen Meeres, das den Zugang für amerikanische Schiffe dort in Frage gestellt hat. Man nennt das im Fachbegriff Anti-Access Area Denial Fähigkeit.
Und diese zu durchbrechen, war das Konzept der Multi DomainTask Force, also mit entsprechender Gegenrüstung. Es gab eine Zeit, da wollte man aus Washington die Chinesen zwingen, dem INF- Vertrag beizutreten. Das war unter Präsident Trump. Das ist gescheitert, und die Gegenrüstung äußerte sich dann vor allen Dingen in diesem Konzept der Multi Domain Task Force. Das ist schon ein älteres Konzept aus der Obama-Zeit.
Die erste Task Force wurde schon 2017 aufgestellt. Insgesamt gibt es fünf davon. Drei richten sich in der Tat gegen China, eine wurde 2021 in Deutschland aufgestellt, also noch vor dem Ukraine-Krieg. Man hat sich dann die Frage gestellt, wann die dazugehörigen Raketen kommen, die bis dahin noch in den USA waren.
Diesen Punkt haben wir jetzt erreicht. Mit anderen Worten: Es gibt noch andere Kriterien, die hinter dieser Entscheidung stehen als nur den russischen Angriffskrieg. Am Ende ist entscheidend: Wird ein solcher Beschluss die Sicherheit Deutschlands erhöhen oder kommen wir in eine weniger stabile Welt, in der wir alle unsere Sicherheit riskieren?
Das genau ist meine Befürchtung, und darüber müssen wir auf alle Fälle diskutieren. Es kann nicht sein, dass man das durch einen schlicht exekutiven Akt sozusagen anordnet. Ich glaube auch, dass wir über diese Phase hinweg sind und es die Diskussion darüber jetzt geben wird. Man wird sehen, welche Argumente dazu ausgetauscht werden. Ich habe meine Meinung kundgetan und werde mich auch in Zukunft gern an der Debatte beteiligen.
Dietmar Ringel sprach mit Wolfgang Richter, Senior Fellow beim Österreichischen Institut für Europäische und Sicherheitspolitik. Davor war er viele Jahre für die Deutschland bei der UNO und der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa tätig.