USA: Vom Einwanderungsland zur fremdenfeindlichen Festung?
Nach einer Hochrechnung der US-Statistikbehörde werden die Weißen ab 2050 nicht mehr die Mehrheit der Amerikaner stellen, Samuel Huntington schürt schon jetzt die Untergangsängste und warnt vor allem vor den Latinos, die die nationale Einheit untergraben, und einem paradoxen "weißen Nationalismus"
In den nächsten Jahrzehnten werden vor allem die reichen Gesellschaften vergreisen. Möglicherweise leben immer mehr Menschen 100 Jahre und länger. Gleichzeitig versuchen die reichen Gesellschaften sich in Festungen einzuschließen und den Zustrom von Einwanderern aus armen Länden zu verhindern. Für die USA zumindest bringt der demografische Wandel Veränderungen mit sich, deren Folgen noch kaum absehbar sind. Und sie werden mehr und mehr zu einem politischen Konfliktthema werden, das nun auch Intellektuelle wie Samuel Huntington ebenso alarmistisch hochspielen, wie er es mit dem "Kampf der Kulturen" gemacht hat: Bedient werden Untergangsängste (Kampf der Kulturen: Der Westen geht gegen den Rest der Welt).
Anders als etwa die europäischen Staaten wird die amerikanische Bevölkerung zwar langsamer als früher, aber bis zum Jahr 2050 nach Hochrechnungen der US-Statistikbehörde um 49 Prozent auf 420 Millionen ansteigen. Heute leben fast 293 Millionen Menschen in den USA. Schon 2030 wird ein Fünftel der Amerikaner über 65 Jahre alt sein, heute sind es etwa 12 Prozent. Immerhin wird aber das Bevölkerungswachstum verhindern, dass solche einschneidenden Veränderungen entstehen wie in den europäischen Ländern, sofern diese nicht doch ihre Grenzen weiter öffnen, um ihren Standort zu sichern und die sozialen Sicherheitssysteme zu stabilisieren.
Aber die allmähliche Vergreisung ist nur der eine Trend, der andere ist eine Umschichtung der Bevölkerungsstruktur. Bislang haben die weißen Amerikaner stets die Mehrheit der Bevölkerung gestellt, auch wenn immer von einem Schmelztiegel der Menschen unterschiedlicher Herkunft gesprochen wurde. Jetzt aber steht erst der wirkliche Schmelztiegel für die USA an, auch wenn die überwiegend weiße und christliche Bush-Regierung bereits beginnt, die Grenzen dichter zu schließen. Noch stellen die Weißen einen Anteil von 69%, aber bis 2050 werden sie "nur" um 7% zunehmen, wodurch ihr Anteil auf 50% abfallen wird.
Die Statistikbehörde zählt zu den "Weißen" allerdings nicht die Latinos, was die Voraussage etwas schief macht, denn zu den Latinos zählen auch die Spanischstämmigen, die eigentlich als Weiße zu betrachten wären, auch wenn sie nicht zu den klassischen Einwanderergruppen in die USA zählen. Man kann sich daher fragen, ob diese seltsame Klassifizierung auch einen politischen Hintergrund haben könnte, also bei den jetzt noch mehrheitlichen Bevölkerungsschichten sowieso grassierende Ängste vor "Untergang" zu verstärken?
Schon 2002 haben die Lateinamerikaner die Schwarzen als größte Minorität überholt. Bis 2050 sollen sie von jetzt 39 Millionen auf 103 Millionen anwachsen und einen Anteil von 24 Prozent an der Gesamtbevölkerung stellen. Gegenwärtig gibt es 13 Prozent Schwarze, 2050 werden sie nach der Hochrechnung 15 Prozent (61 Millionen) stellen. Die Asiaten werden sich von 4 auf 8 Prozent verdoppeln. Solche Hochrechnungen lassen allerdings auch außer Acht, dass sich die Bevölkerungsgruppen immer mehr vermischen und es daher schwieriger werden dürfte, Weiße, Latinos, Schwarze oder Asiaten sauber zu unterscheiden, wenn dies 2050 überhaupt noch einen Sinn macht.
Die Latinos überfluten nach Huntington die US-amerikanische anglo-protestantischen Kernkultur
Gleichwohl könnten die Hochrechnungen die Debatte um die Einwanderung weiter anheizen, die sich bereits durch den Vorschlag von US-Präsident erhitzt hatte, Millionen von illegalen Einwanderern eine dreijährige Arbeitsgenehmigung zu erteilen, wenn sie den US-Bürgern keinen Arbeitsplatz wegnehmen. Teile der konservativen Wählerschaft von Bush kritisieren das Vorhaben, Bush selbst dürfte sich damit Stimmen der Latinos sichern wollen.
Dass auch in den USA die "Überfremdung" zu einem explosiven Thema wird, zeigt beispielsweise das neue Buch "Wer sind wir?" von Samuel Huntington, das demnächst erscheinen wird. Der Politikwissenschaftler, dessen These vom "Kampf der Kulturen" mit dem Krieg gegen den Terrorismus plausibler geworden ist und Neocons zur Ausrufung des Vierten Weltkriegs verführt hat (Verbreitung des Terrors: Die Woolsey World Tour), widmet sich darin der Masseneinwanderung von Latinos, die die nationale Identität der Vereinigten Staaten gefährde. Huntington scheint damit der besonders seit dem 11.9. von Angst, Abwehr und Aggression getriebenen amerikanischen Politik neben den muslimischen Terroristen noch ein weiteres Feindbild schaffen zu wollen.
In einem Artikel mit dem Titel The Hispanic Challenge in der von ihm mitbegründeten Zeitschrift Foreign Policy hat Huntington seine neue Gefahrenanalyse, rechtzeitig zum Wahlkampf, bereits vorgezeichnet. Darin geht er davon aus, dass nicht einmal alle Weiße, geschweige denn Schwarze oder Angehörige anderer Ethnien oder Kulturen, einschließlich der Indianer, zum Kernbestand der US-Kultur gehören, die für ihn "weiß, britisch und protestantisch" ist:
Wird die USA ein Land mit einer einzigen Sprache und einer anglo-protestantischen Kernkultur bleiben?
Schon die ersten Sätze machen deutlich, dass Huntington populistisch (Untergangs)Ängste wecken und schüren will (die freilich leider auch in Europa nur allzuvertraut sind):
Die kontinuierliche Zufluss von lateinamerikanischen Einwanderern bringt die Gefahr mit sich, die USA in zwei Völker, zwei Kulturen und zwei Sprachen zu teilen. Im Unterschied zu den Einwanderergruppen der Vergangenheit haben sich Mexikaner und andere Latinos nicht in die Hauptkultur der USA assimiliert, sondern haben ihre eigenen politischen und sprachlichen Enklaven vom Los Angeles bis Miami gebildet und die anglo-protestantsichen Werte zurückgewiesen, die dem amerikanischen Traum zugrunde liegen. Die USA beachten dieses Problem auf eigene Gefahr nicht.
Nicht nur die Einwanderung, sondern auch die hohe Geburtenrate der Latinos bedroht die "traditionelle Identität der USA", die stark auf den mit dem protestantischen Glauben basierenden Werten aufbaut. Zur protestantischen Kultur der britischen Gründer zählen für Huntington neben dem Glauben die "englische Vorstellung des Gesetzes mit der Verantwortlichkeit der Herrscher und den Rechten des Individuums", die Wertschätzung des Individualismus, die Arbeitsethik und der "Glaube, dass die Menschen die Fähigkeit und die Pflicht haben, einen Himmel auf Erden, eine 'Stadt auf dem Berg' zu schaffen". Das habe die vielen Einwanderer gerade angezogen, wären die Gründer katholische Einwanderer aus Spanien oder Frankreich gewesen, würden die USA jetzt Mexiko oder Quebec gleichen. Den amerikanischen Traum, so Huntington, gebe es nur durch Assimilation - und er müsse englisch geträumt werden, um wirklich zu werden.
Racists in America must be having a field day: At long last, they have found a world-renowned intellectual -- Harvard's Academy for International and Area Studies Chairman Samuel Huntington -- to rationalize their resentment against America's rapidly growing Hispanic community.
Andres Oppenheimer im Miami Herald
Zwar ist der Anteil der einwandernden Latinos derzeit kleiner als der der Iren zwischen 1820 und1860 oder der Deutschen zwischen 1850-1870, aber diese Gruppen hätten sich assimiliert, was die Latinos eben nicht machen würden. Huntington vergleicht die Lage mit der Situation im ehemaligen Jugoslawien, die zu ethnischen Säuberungen geführt habe. Zwar würden die weißen Kalifornier nicht wie die bosnischen Serben, aber der "weiße Nationalismus" werde zunehmen. Geschickt verpackt Huntington die "unversöhnbaren Differenzen" zwischen der lateinamerikanischen und der anglo-protestantischen Kultur in Zitaten. Damit stellt man sich nicht als Lieferant von Stereotypen bloß, bedient aber diejenigen, die der Argumentation zustimmend folgen, mit emotionalen Wertungen.
Da wird dann vom "mañana syndrome" der Lateinamerikaner gesprochen, die sich mit der Geschichte beschäftigen, während die anglo-protestantischen Amerikaner in die Zukunft blicken. Die Lateinamerikaner seien misstrauisch gegenüber Menschen, die nicht zur eigenen Familie gehören, sie hätten einen Mangel an Initiative, Selbstvertrauen und Ehrgeiz, Bildung sei ihnen nicht wichtig usw. All das spielt auch kaum eine Rolle, weil Huntington die Gefahr des Zerbrechens der nationalen Identität beschwören will. In einer Kurzgeschichte sucht er nachzuzeichnen, warum durch die Assimilation immer neuer Immigranten die ethnische Abstammung "praktisch als definierender Bestandteil der nationalen Identität verschwunden" sei, wozu dann auch die Bürgerrechtsbewegung nach dem Zweiten Weltkrieg beigetragen haben:
Amerikaner sehen und akzeptieren ihr Land als multi-ethnisch und multi-rassisch. Als Folge wird die amerikanische Identität nun durch Kultur und Glauben definiert.
Damit ist Huntington bei seinem alten Konzept des "Kampf der Kulturen" und hat anscheinend die fremdenfeindlichen Trends in den USA von den oft blutigen ethnischen Konflikten Europas und dem Rest der Welt abgetrennt. Zudem soll dadurch plausibel werden, warum der "weiße Nationalismus", den er heraufziehen sieht - und den es eigentlich schon immer gegeben hat -, auch zwischen den wirklichen amerikanischen Weißen, die protestantisch und britisch sind, und den falschen amerikanischen Weißen unterscheiden muss, die katholisch sind und etwa aus Spanien stammen. Sollten die Ideen, die Huntington nicht erfunden, denen er aber einen intellektuellen Ausdruck verliehen und sie damit hoffähiger gemacht hat, sich noch stärker verbreiten, dann darf man auf einiges gefasst sein, das im anglo-protestantischen "amerikanischen Traum" ausgebrütet wird.