USA: Weichenstellung für die Medizin der Zukunft

Das US-Repräsentantenhaus lässt den 21st Century Cures Act passieren

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Nach dreijähriger Debatte, zahllosen Anhörungen und Einwürfen von Patientenanwälten wurde der umstrittene Gesetzentwurf im Repräsentantenhaus gebilligt. Er sieht eine schnellere Markteinführung neuer Medikamente und Medizinprodukte vor und autorisiert zusätzliche Mittel für die medizinische Forschung.

Tritt der Entwurf in Kraft, erhält das National Institutes of Health (NIH) über die nächsten zehn Jahre 4.8 Milliarden US-Dollar Fördermittel, die für die drei großen Wissenschaftsinitiativen aus Obamas Amtszeit reserviert sind: Joe Bidens Cancer moonshot, die BRAIN-Initiative (Brain Research Through Advancing Innovative Neurotechnologies) und Precision Medicine-Initiative. Diese Förderung soll die Zukunft der Programme sichern, jedoch müssen die Überweisungen jährlich neu autorisiert werden.

Über einen Zeitraum von zwei Jahren ist eine weitere Milliarde US-Dollar für den Kampf gegen die grassierende Drogenepidemie vorgesehen, für staatliche Zuschüsse zur Missbrauchsverhütung und- Behandlung, wie beispielsweise die Verbesserung der Überwachung verschreibungspflichtiger Medikamente, die Durchführung von Präventionsmaßnahmen, die Ausbildung von Gesundheitsdienstleistern und der Ausbau des Zugangs zu Entzugsprogrammen. Zusätzliche 500 Millionen US-Dollar sollen an die Behörde für Lebens- und Arzneimittel (U.S. Food and Drug Administration - FDA) gehen.

Finanzierung auf Kosten anderer Programme

Zur Finanzierung sollen eine Milliarde US-Dollar aus der Strategic Petroleum Reserve kommen und weitere Gelder aus der Umleitung von Fördermitteln aus Präventions-Programmen des Affordable Care Acts, besser bekannt als Obamacare. Der Prevention and Public Health Fund soll dazu über die nächsten sieben Jahren um 30% gekürzt werden. Das Geld fehlt dann anderen Programmen.

Der Fonds hatte unter anderem Mittel für eine Verbesserung der Infrastruktur für Schutzimpfungen und zur Erhöhung des Bewusstseins hinsichtlich der Gefahren des Rauchens bereitgestellt. Außerdem flossen Zuwendungen für die Unterrichtung zur Vermeidung von Alzheimer, in die Diabetes-Vorbeugung und in die Entdeckung und Bekämpfung von Ansteckungskrankheiten und anderer Gefahren für die Volksgesundheit.

Die Anhebung der Fördermittel gilt als ursächlich für die breite Zustimmung zum Gesetzespaket, auch wenn es weiterhin einige unzufriedene Stimmen gibt. Von einer Bedrohung der FDA-Standards ist die Rede, auch wenn die Verfasser des Gesetzestexts einige kontroverse Passagen entfernt haben, nachdem diese die Hoffnungen auf ein schnelles Vorankommen des Entwurfs zunichte gemacht hatten.

Umstritten: "Real world evidence" als Ersatz für klinische Studien

Als besonders umstritten gilt eine Passage, die die FDA auffordert, ein Programm zur Bewertung von "real world evidence" bzw. realen Befunden zur Wirksamkeit einer Therapie im Alltag zu entwickeln, um diese bei der Zulassung von Medikamenten in Betracht zu ziehen.

Die möglichen Quellen sind zahlreich: Neben den vom Gesundheitssystem selber generierten Daten wie elektronischen Gesundheitsakten, Apotheken-Rezepten und Rechnungen, Labor-Testergebnissen, Statistiken, Röntgenbildern, Gewebeproben und Genom-Daten aus Biodatenbanken kommen zum Beispiel auch Daten zu Kreditkarteneinkäufen in Frage, die einen Einblick in den Lebenswandel versprechen.

Und weitere Gesichtspunkte sind denkbar, etwa Antworten auf die Fragen, mit wem man lebt, und ob man ein Haustier besitzt. Hinzugezogene analytische Methoden wie Data Mining sollen helfen, aus dem Daten-Potpourri neue Patientengruppen herauszufiltern, die sonst unbemerkt bleiben würden und die anders reagieren könnten als andere Patienten mit dem gleichen Gesundheitszustand.

Abgesehen von der Überwachung nach der Markteinführung verwendet die FDA reale Befunde aus Studien zum Krankheitsverlauf und aus retrospektiven Beobachtungen bisher meist nur, um Arzneimittelzulassungen für seltene oder lebensbedrohliche Krankheiten zu unterstützen. Die Palette realer Befunde soll nun die Wissenslücke zwischen klinischer Forschung und klinischer Praxis überbrücken. Wie sie in den Regulierungsrahmen eingefügt werden, muss jedoch noch gründlicher untersucht werden.

Befürworter merken an, das die Daten zur Unterstützung einer FDA-Zulassung für neue Produkte typischerweise aus klinischen Studien stammen, deren streng kontrollierten spezifischen Bedingungen nicht viel mit dem Alltag im Gesundheitssystem zu tun haben. Kritiker wiederum sehen hier Zugeständnisse an die Pharmabranche, die sich so lästiger und teurer klinischer Studien entledigen und diese durch kaum kontrollierbare Alltagsbeobachtungen ersetzen kann. Eine schnelle Einführung vieler der anvisierten "Heilverfahren des 21. Jahrhunderts" sei nur durch eine gewollte Absenkung der Sicherheitsstandards möglich und werde so zu einer Gefahr für die Patienten.

Dabei gibt es bereits Bemühungen, die reale Befunde zu verwenden, um die Effizienz der klinischen Prüfung und die Überwachung der Arzneimittelsicherheit zu verbessern, darunter die National Institutes of Health Collaboratory, PCORnet und die Sentinel Initiative der FDA. Bisher aufgetauchte Probleme sind vor allem die schwierige Überprüfbarkeit der Gültigkeit und Zuverlässigkeit solcher realen Befunde, deren Quellen oft keine Verbindung untereinander haben und in vielen Fällen widersprüchlich sind.

Pharma-Unternehmen soll nun erlaubt werden, zusammengefasste Studienergebnisse anstelle vollständiger Datensätze zu kompletten klinischen Studien einzureichen. Diese Zusammenfassungen könnten wichtige Informationen zu Sicherheit und Effizienz verschleiern, die FDA-Wissenschaftlern bei der Sichtung dann verborgen bleiben. Für Kritiker sind das alles eindeutige Anzeichen dafür, dass die Latte insgesamt tiefer gehängt werden soll.

Bewirkt werden soll eine schnellere Markteinführung

Für Methoden der regenerativen Medizin soll ein Abkürzungsverfahren für deren Genehmigungen eingeführt werden. Die Therapien sollen schneller beim Patienten ankommen. Gleichzeitig soll die Balance zwischen Effizienz und Sicherheit gewahrt werden. Kritiker sehen hier vor allem die Vorteile von Unternehmen bedient, die diese Behandlungen entwickeln.

Der Entwurf beinhaltet zahlreiche Bestimmungen, die eine schnellere Genehmigung von verschreibungspflichtigen Medikamenten und Medizinprodukten ermöglichen sollen. Befürworter sehen keine Gefahr, dass die Sicherheits-Standards der FDA davon beeinträchtigt werden könnten. Zahlreiche Beobachter, darunter ehemalige FDA-Mitarbeiter, widersprechen. Für sie agiere die FDA schon jetzt schneller als vergleichbare Organisationen anderer Staaten.

Nun sollen Medikamente zugelassen werden können, für deren Sicherheit und Effizienz es bisher nur wenige Befunde gibt - zum Beispiel neue und unerprobte Antibiotika. In einer Passage des Texts wird der FDA mehr Flexibilität beim Einsatz antimikrobieller Medikamente innerhalb einer begrenzten Bevölkerung zugestanden, wenn das Medikament im Kampf gegen eine lebensbedrohliche Infektion verwendet wird.

Update des wissenschaftlich-technischen Unterbaus

Die FDA erhält zusätzliche Befugnisse und Mittel, um geeignete und qualifizierte Kandidaten zu rekrutieren, die als Wissenschaftler und Techniker die Entwicklung, Überprüfung und Regulierung von medizinischen Produkten voranbringen sollen. Die FDA kämpft derzeit mit mehr als 500 zu besetzenden freien Stellen. Ein Großteil des benötigten Know-hows wird vor allem in der Industrie vermutet.

Außerdem soll die Reagan-Udall Foundation modernisiert werden, um die FDA erfolgreich beim Versuch unterstützen zu können, mit der wissenschaftlich-technischen Entwicklung Schritt zu halten. Die Stiftung ist eine private gemeinnützige Organisation, die gegründet wurde, um die Arbeit der FDA auf hohem wissenschaftlich-technischem Niveau zu unterstützen. Sie ist unabhängig von der Agentur, mit eigenem Aufsichtsrat, Mitarbeitern und Forschungsschwerpunkten.

Die Reagan-Udall-Stiftung schafft öffentlich-private Partnerschaften, um die Forschung in den relevanten Richtungen zu fördern, die medizinische Entscheidungsfindung zu verbessern und Innovationen zu fördern. Die Zusammenarbeit erstreckt sich über mehrere Bereiche, die als Teil der Innovationsstrategie der FDA identifiziert wurden. Dazu gehören die Lebensmittelsicherheit, neue Ansätze bei der Entwicklung von Therapien zur Bekämpfung der Tuberkulose und Methoden zur Marktüberwachung. Die Stiftung wird unter anderem von der Bill & Melinda Gates Foundation finanziert.

Es wird erwartet, dass der Entwurf des 21st Century Cures Acts im Laufe der Woche auch den Senat passiert. Es wird mit wenigen Gegenstimmen gerechnet. Wie der von Bernie Sanders, der seine Ablehnung bereits angekündet hat.