Überforderte Abgeordnete oder zu kompliziertes System?
In der Abstimmung zum EU-Urheberrecht hätten Änderungsanträge zugelassen werden müssen, wenn die Stimmen aller Mandatsträger so gezählt worden wären, wie sie das (angeblich) wollten
Nach den Urheberrechtsabstimmung im EU-Parlament ließ eine Reihe von Abgeordneten im Protokoll ihre Stimmabgabe ändern. Zwei Abgeordnete korrigierten ihre Zustimmung zu einem Geschäftsordnungsantrag, Änderungsanträge zuzulassen, von "Ja" auf "Nein". Ein Abgeordneter machte aus seinem "Ja" eine Enthaltung. Und aus zusammengerechnet zehn "Nein"-Stimmen und Enthaltungen wurden Stimmen für eine Zulassung von Änderungsanträgen.
Wären die Stimmen bereits bei der Abstimmung so gezählt worden, wie sie nun im Protokoll stehen, hätte man die mit 322 zu 317 Stimmen nur knapp abgelehnten Änderungsanträge zur faktischen Uploadfilterpflicht und zum Leistungsschutzrecht für Presseverlage zur weiteren Abstimmung zulassen müssen. Ein Nachholen der Abstimmung über Änderungen will das EU-Parlament nicht erlauben.
"Den Überblick verloren"
Eine unfreundliche mögliche Erklärung für die nachträglichen Änderungen hatte die ehemalige Piratenpartei-Abgeordnete Julia Reda, die auf Twitter indirekt Korruption ins Spiel brachte. Freundlicher war man bei der ARD, deren Korrespondentin meinte, einige Abgeordnete hätten "den Überblick verloren".
Das behaupteten zwei Abgeordnete der Schwedendemokraten, die meinten, sie hätten "den falschen Knopf gedrückt". Ihre sozialdemokratische Landsfrau Martia Ulvskog sprach allgemeiner von einem "Fehler", den sie im Protokoll "korrigiert" habe. Ähnlich allgemein drückten sich der liberale litauische ALDE-Abgeordnete Antanas Guoga (ein ehemaliger professioneller Pokerspieler), Gerolf Annemans vom Vlaams Belang und Thomas Mann von der CDU aus.
Gleich mehrere Erklärungen kursieren für die fehlende Stimmabgabe des ehemaligen saarländischen Umweltministers Josef Leinen: Gegenüber der ARD verwies er auf die "große Anzahl an Änderungsanträgen" und auf ein "Versehen", während er gegenüber von T-Online einem "technischen Defekt" ins Spiel brachte, den die Parlamentsverwaltung "weder bestätigen noch ausschließen" will. Für eine Klarstellung war der SPD-Europaabgeordnete nicht erreichbar. Besonders große Probleme scheint auch der niederländische ALDE-Abgeordnete Hans van Baalen gehabt zu haben, der nicht nur sein "Nein" zur Zulassung der Änderungsanträge, sondern auch sein "Ja" zur Annahme der Richtline nachträglich ändern ließ.
Einschläfer und Studienabbrecher
Folgt man der freundlichen Erklärung der ARD, stellt sich die Frage, ob das System zu kompliziert oder manche Abgeordneten nicht geistig fit genug sind, um damit umzugehen. Dass es viele Abgeordnete schafften, dem eigenen Willen gemäß abzustimmen, spricht ebenso für die letztere der beiden Optionen wie die in der Videoübertragung festgehaltene Frage des EU-Parlamentspräsident Antonio Tajani, ob allen Abgeordneten klar sei, worüber gerade abgestimmt wird.
Ebenfalls für diese Option sprechen Fotos von Abgeordneten, die im Plenarsaal bei anderen Gelegenheiten anscheinend eingeschlafen sind. Das bekannteste davon zeigt den CDU-Abgeordneten Elmar Brok, der wie viele andere Politiker ein Studium angefangen, aber nicht abgeschlossen hat. Für Fragen dazu, woran das lag, war Brok nicht erreichbar. Sollte er von seinem Jurastudium überfordert gewesen sein, stellt sich die Frage, ob er dann an einer Stelle, in der er über zahlreiche juristisch relevante Formulierungsdetails mit entscheiden musste, an der richtigen Stelle saß.
Verdächtige Berufsangaben auf dem Wahlzettel
Die Wähler konnten darüber nur sehr eingeschränkt ein Urteil fällen, weil sie bei Europawahlen keine Kandidaten, sondern nur komplette Parteilisten wählen dürfen. Auf diesen Parteilisten stand Brok von 1979 bis 2014. Erst jetzt, nach 40 Jahren, entschied sich die nordrhein-westfälische CDU, ihn nicht mehr aufzustellen (vgl. Die CDU verbessert mit dem Abschied von Elmar Brok ihre Chancen bei der Europawahl).
Allerdings stehen auf den Stimmzetteln hinter den Namen der Listenkandidaten auch Berufsangaben, die dem Wähler Anhaltspunkte dafür liefern, in welcher Häufung möglicherweise nicht ausreichend qualifizierte Kandidaten bei einer Partei vertreten sind. Steht hier nur "MdEP" oder "Politiker" lohnt sich eventuell eine Recherche, welche Qualifikationen ein Kandidat tatsächlich vorweisen kann.
Wirklichen Verlass, dass Politiker nicht überfordert sind, bieten aber auch Studien- und Berufsabschlüsse nicht: Josef Leinen etwa verfügt über das zweite juristische Staatsexamen.
Besonders problematisch wird eine Überforderung von Politikern dann, wenn sie verfassungswidrige Gesetze beschließen, was in der Vergangenheit in Deutschland häufiger vorkam. Im antiken Athen hatte man eine Lösung für dieses Problem: Durch eine graphe paranomon genannte Klagemöglichkeit konnte nicht nur ein verfassungswidriger Beschluss für ungültig erklärt, sondern auch diejenigen, die ihn eingebracht hatten, mit Strafe bedroht werden. Deren Maß war zwar nicht festgeschrieben - wurde jedoch der gleiche Initiator dreimal eines solchen Vergehens überführt, dann verlor er in jedem Fall seine politischen Rechte. Erfolgte die graphe paranomon mehr als ein Jahr nach dem Beschluss, dann konnte dieser zwar noch für ungültig erklärt, sein Initiator jedoch nicht mehr bestraft werden. Hatte ein Beschluss mehr als fünf Jahre Bestand, dann war keine graphe paranomon mehr gegen ihn möglich (vgl. Graphe Paranomon).
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