Übergewicht und Substanzkonsum: Regierungen wünschen sich gesünderes Volk

Stephan Schleim

Bild: Valeria Boltneva/Pexels

Die Niederlande schlossen 2018 einen "Nationalen Präventionsbeschluss". Jetzt zeigt sich: Übergewicht, Alkohol und Rauchen sind noch nicht zurückgegangen. Was brauchen wir für ein gutes Leben?

In einem kapitalistischen System geht es immer ums Geld: Kosten müssen runter, Gewinne müssen rauf. Das hat auch Auswirkungen aufs Gesundheitssystem, das inzwischen in vielen Ländern nach Marktprinzipien eingerichtet ist.

Dabei ist es nicht nur im Trend, mit technisch-medizinischen Innovationen, bürokratischen Kurzschlüssen wie den Fallpauschalen für Behandlungen und Druck auf das Personal die Kosten zu reduzieren. Auch die Bevölkerung soll sich gesünder verhalten, Stichwort "Prävention".

Die wissenschaftliche Forschung trägt ihren Teil dazu bei: Immer wieder heißt es beispielsweise, gefahrlosen Alkoholkonsum gebe es nicht, auch nicht bei geringen Mengen; oder man könne auch vom Passivrauchen schon sterben.

Dabei werden aber oft nur relative Risiken diskutiert, die nichts über das absolute Krankheitsrisiko aussagen. Stellen wir uns vor, dass von den Abstinenzlern 1 von 100 an einer bestimmten Krebsart stirbt – und von den Gewohnheitstrinkern (grob: Frauen im Schnitt ein Glas, Männer zwei Gläser pro Tag; idealerweise mindestens zwei Tage ohne Alkohol pro Woche) sterben 2 von 100 daran.

Dann hat sich die Wahrscheinlichkeit verdoppelt, stieg das relative Risiko also um 100 Prozent. Absolut gesehen erkranken aber 98 von 100, also 98 Prozent der Gewohnheitstrinker nicht. Das sollte man gegen den Nutzen von Substanzkonsum abwägen (Die Droge als Instrument). Zu den genauen wissenschaftlichen Daten ein anderes Mal mehr.

Nationaler Präventionsbeschluss

Bei der Bekanntgabe des "Nationalen Präventionsbeschlusses" verkündete der damalige Staatssekretär des niederländischen Gesundheitsministeriums: "Wir gönnen jedem Niederländer ein gesundes Leben." Dafür sollten die folgenden Ziele erreicht werden:

2040 sollen nur noch fünf Prozent der Bevölkerung rauchen. Dafür soll der Preis pro Päckchen spätestens im Jahr 2023 bei 10 Euro liegen. Die Zigaretten sollen, wie in Australien, in neutralen Packungen verkauft werden und in den Supermärkten aus dem Sichtfeld verschwinden. Automaten soll es keine mehr geben.

Erwachsene sollen ihren "problematischen" Alkoholkonsum reduzieren: Problematisch ist nach Sicht der niederländischen Regierung, wenn Frauen mehr als 14, Männer mehr als 21 Standardgläser Alkohol pro Woche trinken – oder mehr als vier beziehungsweise sechs bei einer Gelegenheit.

Um das zu erreichen, sollen Rabattaktionen für alkoholische Getränke eingeschränkt werden. (Im Sommer 2021 wurden per Gesetz Rabatte tatsächlich auf maximal 25 Prozent beschränkt.) Der Jugendschutz soll mit minderjährigen Testkäufern stärker kontrolliert werden. Und auf "sozialen" Medien oder bei Sportveranstaltungen soll es weniger Alkoholreklame geben.

Zur Gewichtsabnahme soll die Bevölkerung besser über gesunde Ernährung informiert werden. Trinkwasser soll an immer mehr öffentlichen Orten – wie Schulhöfen oder Bahnhöfen – frei verfügbar werden. Der Zuckergehalt in Getränken soll reduziert und Süßigkeiten sollen in geringeren Mengen verkauft werden. Auch soll das Angebot in Kantinen gesünder werden.

Ernüchterung 2021

Die jetzt für das Jahr 2021 vorliegenden Daten sind demgegenüber ernüchternd: So haben laut Daten des nationalen Statistikbüros immer noch so viele Niederländerinnen und Niederländer Übergewicht (Body-Mass-Index ab 25) wie im Jahr 2018, als der "Beschluss" verkündet wurde. Das betreffe immerhin die Hälfte(!) der Bevölkerung.

Die Anzahl der Raucher sei nur leicht zurückgegangen, von 22 auf 21 Prozent. Ebenso habe die Häufigkeit des problematischen Alkoholkonsums nur leicht abgenommen, während die Anzahl der schweren Trinker konstant geblieben sei.

Deutliche Unterschiede zeigen sich zwischen ärmeren und wohlhabenderen, sowie zwischen niedriger und höher gebildeten Menschen: So würden mit 31 Prozent doppelt so viele Menschen mit niedrigerem Einkommen zumindest gelegentlich rauchen wie jene mit höheren Einkünften.

Ein ähnliches Bild ergibt sich beim Übergewicht: Das hätten ebenfalls eher ärmere und eher niedrig gebildete Menschen. Beim Alkoholkonsum sei es aber genau anders herum: Unter den wohlhabendsten Menschen befänden sich die meisten schweren Trinker.

Wenn man aber bedenkt, dass die Menschen in der Coronapandemie fast zwei Jahre lang durch verschiedene Schutzmaßnahmen und Lockdowns eingeschränkt wurden, dann kann man die Ergebnisse auch positiv werten. Übergewicht und Substanzkonsum hätten nämlich auch deutlich zunehmen können, so wie die verbrachte Zeit im Internet oder beim Computerspielen (Medien- und Drogenkonsum in der Coronapandemie).

Individuum oder Gesellschaft?

Diese Ergebnisse machen deutlich, dass Gesundheit, Substanz- und Drogenkonsum keine rein individuelle Entscheidung ist. Menschen konsumieren nämlich auch, um bestimmte Ziele zu erreichen oder bestimmte Probleme zu bewältigen (Die Droge als Instrument). Letzteres geht aber meist nur für eine bestimmte Zeit gut, wenn die Konsummengen steigen oder die ungelösten Probleme größer werden.

In einer kapitalistischen Gesellschaft gibt es hier natürlich einen Interessenkonflikt: Denn der Konsum führt einerseits zu höheren Gewinnen der Nahrungs- und Genussmittelindustrie – und die kleinen Niederlande sind sogar der größte Bierexporteur der Welt. Andererseits verdient der Staat an Besteuerung von Nahrungs-, Genussmitteln und der Unternehmensgewinne mit.

Zudem dürfte die Alkohol- und Zigaretten-Lobby gut vernetzt sein. Ein Verbot scheint mir darum eher als unwahrscheinlich. Außerdem nimmt der Konsum in vielen europäischen Ländern auch nicht zu oder langfristig sogar ab (Brauchen wir ein Alkoholverbot?).

Wenn die Hälfte der Bevölkerung als übergewichtig gilt oder zu viele Menschen – aus Sicht der Gesundheitspolitiker – problematische Mittel konsumieren, kann man die Prävention allein aufs Individuum abwiegeln: Mehr Prävention und Belohnungen für gutes, sowie Nachteile für schlechtes Verhalten.

Das ist Politik nach dem Prinzip "Belohnen und Strafen", wie es im frühen 20. Jahrhundert schon die Behavioristen im Sinn hatten. In der Psychologie nennt man es "instrumentelle Konditionierung". Etwas subtiler funktioniert das "Nudging" (englisch für "Anstupsen"), das Menschen die "richtige" Entscheidung einfacher machen will.

Der Fokus aufs Individuum entspricht dem neoliberalen Paradigma, Ziele von oben nach unten vorzugeben, die Verantwortung für das Erreichen dieser Ziele aber auf die unteren Ebenen abzuwiegeln. Da aber gleichzeitig Konsum, Gewinne und Steuern erhört werden sollen, kann man dieser Politik eine gewisse Doppelzüngigkeit vorwerfen (Die Doppelzüngigkeit der Gesundheitspolitik).

Ungesunde Umgebung?

Gesundheit ist aber nicht nur eine individuelle Entscheidung. Darauf deuteten bereits die genannten sozialen Faktoren hin. Man könnte sich zudem auch einmal die Umgebung anschauen, in der Menschen ihre Nahrungs- und Genussmittel kaufen:

Diese ist nämlich nicht nur mit psychologischen Tricks darauf optimiert, dass die Kunden immer öfter zugreifen (Mensch in Körper und Gesellschaft: Was heißt Freiheit?). Sondern auch die Produkte, die man dann im Einkaufswagen landen, sind nicht unbedingt gesund.

Um guten Geschmack bei niedrigen Kosten zu erzielen, enthalten viele Nahrungs- und Genussmittel nämlich große Anteile von Geschmacksträgern wie Fett, Salz oder Zucker sowie Aromen und Geschmacksverstärker. Dabei treiben Fett und Zucker die Kalorien in die Höhe; hoher Salzkonsum belastet auf Dauer das Herz-Kreislaufsystem und kann verschiedene Organe schädigen.

Wenn dazu dann auch noch Stress, wenig Zeit für alternative Möglichkeiten und fehlendes Wissen über gesunde Ernährung kommen, dann ist die Wahrscheinlichkeit für ein ungesünderes Leben deutlich höher. Wie wichtig ist uns der Wert Gesundheit? Wenn er so wichtig ist, wie uns die Gesundheitspolitiker weismachen wollen, dann sollte man jedenfalls nicht nur aufs Individuum schauen.

Gesundes und gutes Leben

In der Gesamtschau ergibt sich also ein Konflikt verschiedener Akteure: Unternehmen wollen mehr Gewinne und höhere Marktanteile; Regierungen wollen Steuereinnahmen und eine produktive Bevölkerung mit niedrigen Gesundheitskosten; Bürgerinnen und Bürger wollen – ja was?

Schon vor der Coronapandemie klagten viele über zunehmenden und zu viel Stress (Deutsche wollen weniger Stress - doch wie?). Das scheint ein Phänomen zu sein, das zu entwickelten Industrie- und Dienstleistungsgesellschaften gehört. Dazu passt, dass die Weltgesundheitsorganisation davon ausgeht, Depressionen würden bald zum größten Gesundheitsproblem der Welt.

In diesem Umfeld blühen wiederum Sport-, Fitness-, Yoga- und Achtsamkeitskurse. Bei näherer Betrachtung werden Yoga und Meditation aber oft so unterrichtet, dass Menschen zwar besser mit Stress umgehen oder ihn kompensieren – nicht aber vermeiden (Wozu Meditation und Achtsamkeit – und wozu nicht?).

Mit anderen Worten: Man lernt als Individuum, die gesellschaftlichen An- und Herausforderungen besser zu managen; man wird ein unternehmerisches, "resilientes" (widerstandsfähiges) Selbst, das erfolgreich ist und sich wie ein Stehaufmännchen immer wieder an neue (Markt-) Bedingungen anpasst.

Doch geht diese Rechnung wirklich auf? Denn, einerseits, wie gesagt, klagen immer mehr Menschen über Stress und andererseits werden auch immer mehr Menschen krank (Die Deutschen sind kränker denn je). Und das waren, wohlgemerkt, noch Befunde von vor der Coronapandemie.

Wie lange uns noch neue Virusvarianten, Long-Covid sowie die sozialen Folgen der Pandemie und ihrer Schutzmaßnahmen beschäftigen werden, ist heute noch gar nicht abzusehen. Bis auf Weiteres sieht es jedenfalls so aus, als ob das Erreichen eines "perfekten" Lebens nicht einfacher geworden wäre (Der Preis fürs "perfekte Leben").

Schaffen wir ein Umdenken?

Anstatt über Kosten und Gesundheit, könnte man auch über Werte und Ziele sprechen. Dann würde einem vielleicht Auffallen, dass Wohlstand, jedenfalls ab einem gewissen Maß, nicht mehr zu einem guten Leben beiträgt. Im Gegenteil wird er kontraproduktiv, wenn Menschen aufgrund von Wettbewerb und sozialer Ungerechtigkeit unter Ausgrenzung und Neid leiden.

Die Anstrengungen zur Aufrechterhaltung des Dogmas "Wohlstand durch Wirtschaftswachstum" nehmen immer weiter zu, während sich der Abstand zwischen den Krisen immer weiter verringert. Dabei sind die externen, nicht in die ökonomische Gleichung einfließenden Folgekosten für Mensch und Natur immer größer.

Wird uns als Menschheit noch ein Umdenken hin zu einem glücklicheren und nachhaltigeren Leben gelingen? Oder werden wir die Möglichkeit für menschliches Leben auf unserer Erde schließlich abschaffen? Im ersten Fall wäre das Problem für uns, im letzten das Problem für die Welt gelöst.

Hinweis: Dieser Artikel erscheint ebenfalls im Blog "Menschen-Bilder" des Autors.