Medien- und Drogenkonsum in der Coronapandemie
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Weniger mit Freunden machen, mehr Zeit zuhause: DAK und Drogenbeauftragte schlugen Alarm. Doch sind Computerspiele, Alkohol, Cannabis & Co. in den Lockdowns wirklich so dramatisch?
Es ging hier schon mehrmals darum: Menschen verwenden Substanzen zum Erreichen bestimmter Ziele. Beispielsweise unterscheidet der Psychiatrieprofessor und Suchtexperte Christian P. Müller vom Universitätsklinikum Erlangen neun Zwecke bekannter Genussmittel und Drogen, darunter die Verbesserung sozialer Kontakte, des Denkens oder der Erholung (Die Droge als Instrument).
In den meisten Fällen können die Menschen gut mit den Substanzen umgehen. Probleme entstehen vor allem dann, wenn daraus eine Sucht wird: Die Konsumenten können nicht mehr aufhören, verlieren vielleicht soziale Beziehungen und funktionieren nicht mehr so gut in Schule, Studium oder am Arbeitsplatz, brauchen immer höhere Dosierungen für denselben Effekt und gehen darum womöglich immer größere Risiken ein.
Die soziale Komponente spielt dabei auch eine Rolle. Menschen reagieren mit dem Substanzkonsum möglicherweise auf Traumata oder Ausgrenzung – oder schlicht auf überzogene Vorstellungen ihrer Umwelt. Drogen können dann ein Instrument zur sozialen Anpassung werden.
Bei der Diagnose einer Suchterkrankung wird das Problem aber im Einzelnen verortet. Der große Einfluss von Genetik und Hirnforschung auf die Medizin verstärkt diesen Trend: Schnell ist dann von "Risikogenen" die Rede, auch wenn diese meist nur einen sehr geringen Einfluss haben.
Und dass unser Gehirn durch unsere Umwelt und Erfahrung geformt wird, ist eine Binsenweisheit. Wenn man aber meint, endlich das "neuronale Korrelat der Sucht" gefunden zu haben, verliert man schnell die sozialen Faktoren aus dem Blickwinkel (Wenn Psychologie politisch wird: Milliarden zur Erforschung des Gehirns).
Drogen als Instrumente
Bekanntermaßen greifen mindestens seit dem 19. Jahrhundert Soldaten – mal mit Duldung, mal auf Befehl – zu Drogen. Wenn man Alkohol als Mittel zur Emotionsregulation miteinbezieht – wie man sich beispielsweise Mut antrinkt oder Angst unterdrückt –, sind solche Substanzen wahrscheinlich nicht aus der Militärgeschichte wegzudenken.
Ohne ihre "Panzerschokolade" (unter anderem Methamphetamin, was also heute als "Chrystal Meth" gefürchtet wird) hätten die Nazis wohl nicht so erfolgreich den Blitzkrieg führen können. Die Sinnlosigkeit des Vietnamkriegs konnten viele GIs der US-Armee nur mit Cannabis oder Heroin aushalten. Viele Überlebende haben dann ihre Sucht ins Heimatland mitgenommen.
Das sind zwar extreme Beispiele, um Beweggründe für den Mittelkonsum zu verdeutlichen. Auch unter den Umständen von harten Lockdowns war das Leben für die allermeisten Menschen hoffentlich nicht so schlimm wie für Soldaten im Krieg.
Trotzdem ist es sinnvoll, den Einfluss der Maßnahmen zur Bekämpfung der Coronapandemie auf das Erleben und Verhalten von Menschen zu untersuchen. Eine beliebte Zielgruppe hierfür sind Schulkinder und Studierende.
Internet und Computerspiele in den Lockdowns
Die Deutsche Angestellten Krankenkasse (DAK) hat dafür 2020 und 2021 in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Zentrum für Suchtfragen des Kindes- und Jugendalters an der Uniklinik Hamburg-Eppendorf unter dem Stichwort "Mediensucht" Ergebnisse vorgestellt. Untersucht wurden 1.200 Familien.
Dafür haben Sie sich an den von der Weltgesundheitsorganisation neu eingeführten Kriterien zur Computerspielsucht orientiert (ICD-11 erschienen: Computerspielen kann als psychische Störung diagnostiziert werden). Vorher galt es als herrschende Meinung, nur bei Substanzkonsum von Sucht zu sprechen. Beim Glücksspiel machte man eine erste Ausnahme, unter anderem mit dem Argument, dass dabei dieselben Gehirnschaltkreise aktiviert würden wie beim Gebrauch von Drogen.
Laut dem ersten Zwischenbericht vom Juli 2020 haben noch vor der Coronapandemie 10 Prozent der 10- bis 17-Jährigen ein riskantes Computerspielverhalten gezeigt. Pathologisch (krankhaft) nannten sie es bei 2,7 Prozent der Kinder, wobei Jungen mit 3,7 Prozent mehr als doppelt so häufig betroffen seien als Mädchen (1,6 Prozent). Diese Zahlen bezogen sich auf den September 2019.
Für den ersten Lockdown (April 2020) spricht die Krankenkasse dann von einem "drastischen Anstieg von Gaming-Zeiten und Internetnutzung". Unter der Woche habe die Computerspielzeit im Schnitt von 79 auf 139 Minuten pro Tag und damit um rund 76 Prozent zugenommen.
Am Wochenende spielten die Kinder im Schnitt zwar noch länger, nämlich 193 Minuten am Tag. Im Vergleich zur Vor-Corona-Zeit war das aber ein geringerer Anstieg von rund 30 Prozent.
Die aktive Zeit auf sogenannten Sozialen Medien stieg unter der Woche von durchschnittlich 116 auf 193 Minuten pro Tag und damit um 66 Prozent. Hierfür zeigten 8,2 Prozent der Kinder und Jugendlichen ein riskantes, 3,2 Prozent ein krankhaftes Nutzungsverhalten. Diese Mediennutzung war bei den Mädchen beliebter als bei den Jungen.
Gründe für dieses Computerspiel- und Medienverhalten seien vor allem das Bekämpfen von Langeweile und das Aufrechterhalten sozialer Kontakte. Viele andere Aktivitäten, mit denen man sich die Zeit hätte vertreiben oder Freunde hätte treffen können, waren ja nicht mehr möglich. Bei rund einem Drittel ginge es aber auch um eine Flucht vor der Realität oder Stressbewältigung.
Die Studienautoren rechnen ihre Ergebnisse dann auf die Gesamtbevölkerung hoch und kommen auf 700.000 Kinder und Jugendliche mit riskantem Gaming-Verhalten und 440.000 mit problematischem Social-Media-Konsum. Da überrascht es nicht, dass sich die Drogenbeauftragte der Bundesregierung einschaltete.
Übrigens gebe es in rund der Hälfte der Familien keine zeitlichen Regeln für die Computer- oder Smartphone-Nutzung. Die Krankenkasse und die Klinik haben dann im August 2020 eine Informationsseite für Betroffene und Angehörige eingerichtet.
Die Zwischenergebnisse für den zweiten Lockdown (November 2020) zeigten eine gewisse Entspannung: Unter der Woche waren die Computerspielzeiten 15 Prozent und die Aktivität auf Sozialen Medien 29 Prozent unter denen des ersten Lockdowns – aber immer noch deutlich höher als vor der Coronapandemie.
Die Studienautoren erklären das mit der Verfügbarkeit von mehr Alternativen. Unterricht und andere Aktivitäten dürften wohl besser organisiert gewesen sein als beim ersten Mal.
Für die Wochenenden sah das Bild aber etwas anders aus: Hier hatte die Computerspielnutzung auf im Schnitt 195 Prozent zugenommen, was rund 2 Prozent mehr war als im April 2020. Bei der Aktivität auf Sozialen Medien gab es zwar einen Rückgang, doch der war mit 12 Prozent von dem hohen Niveau moderat.