Überraschend wurde die Machtübergabe im Irak vorgezogen
In einer eilig vollzogenen Zeremonie wurde heute das Ende der Besatzung und die Übernahme der Macht durch die souveräne Übergangsregierung verkündet, vermutlich vor allem, um damit die erwartete Anschlagswelle zu dämpfen
Während der Termin der Machtübergabe an die irakische Übergangsregierung sich näherte, mehrten sich die Anschläge und Angriffe. Auch wenn die Übergangsregierung keine "volle Souveränität" besitzt und ihre Zusammenstellung von den Besatzungsmächten wenn nicht im einzelnen bestimmt, so doch auch über den Regierungsrat mit beeinflusst wurde, so wird damit in neues Kapitel aufgeschlagen. US-Zivilverwalter Bremer und die Übergangsregierung haben hat nun möglicherweise die Strategie der Rebellen- und Terrorgruppen ausgetrickst - zumindest kurzfristig. Und sie haben pünktlich zum Nato-Gipfel versucht, überzeugende Fakten zu schaffen.
Die Machtübergabe von der US-Zivilverwaltung an eine mehr oder weniger souveräne, auf jeden Fall schon durch den Ministerpräsidenten Allawi US-orientierten Übergangsregierung hat nicht nur das Ziel, Wahlen für eine demokratisch legitimierte Regierung in einem unabhängigen Staat vorzubereiten, sondern verfolgt auch den Zweck, die Koalitionstruppen zu entlasten. Schneller als beabsichtigt wurde die Machtübergabe angesichts eines unerwartet starken Widerstands beschlossen, der seine Zustimmung in Teilen der Bevölkerung aus dem Wunsch schöpfte, dass die Iraker ihre Geschicke selbst in die Hände nehmen sollen und sie nicht einer Besatzungsmacht gehorchen müssen.
Sobald die Übergangsregierung im Amt ist, würden sich Angriffe nicht mehr gegen die Besatzungsmächte und die mit ihnen Kooperierenden richten, sondern gegen den irakischen Staat, dem dann die Koalitionstruppen nur noch helfen. Dieses Konstrukt, das dem Widerstand den Wind aus den Segeln nehmen und ihn isolieren will, kann aber nur funktionieren, wenn die Regierung tatsächlich souverän ist. Das aber dürfte mit den Sicherheitsvorkehrungen, die die Zivilverwaltung vorgenommen hat, und mit den Zugeständnissen, die Ministerpräsident Allawi den Koalitionstruppen gemacht hat, auf Schwierigkeiten stoßen. Nach Umfragen setzen die Iraker ihre Hoffnung auf eine souveräne Regierung und einen Rückzug der Koalitionstruppen. Dieses Guthaben, das die Übergangsregierung noch besitzt, kann aber schnell verspielt sein, wenn die Regierung nicht eigenständig handelt, sondern den Interessen vor allem der US-Regierung zu gehorchen scheint (Koalitionstruppen sollen im Irak weiterhin Immunität genießen).
In einem Brief, den Bremer an Allawi übergab und den er während der Zeremonie vorlas, wird noch einmal von der "vollen Souveränität" nach dem Ende der Besatzung gesprochen:
"As recognized in U.N. Security Council resolution 1546, the Coalition Provisional Authority will cease to exist on June 28th, at which point the occupation will end and the Iraqi interim government will assume and exercise full sovereign authority on behalf of the Iraqi people. I welcome Iraq's steps to take its rightful place of equality and honor among the free nations of the world.
Zunächst aber hat US-Zivilverwalter Bremer, der gleichzeitig seinen Platz als Vertreter der US-Regierung räumt und dem neuen US-Botschafter Jon Negroponte Platz macht (John Negroponte, künftiger US-Botschafter und heimlicher Herrscher im Irak), einen geschickten Zug gemacht und die Machtübergabe schnell und formell bereits zwei Tage vor dem ursprünglich anvisierten Termin vollzogen. Das ändert im Allgemeinen kaum etwas, könnte aber die befürchtete Terrorwelle zumindest abschwächen, weil sich die Aufständischen nun neue Gründe für ihre Anschläge und Angriffe ausdenken müssen. Die Machtübergabe wurde heute Vormittag überraschend und fast heimlich in einer Zeremonie in der von den Umgebung abgeschirmten "Grünen Zone" in Anwesenheit von Paul Bremer und Iyad Allawi vollzogen. Allerdings könnte die vorgezogene und schnell über die Bühne gebrachte Machtübergabe sowie das Fehlen hoher britischer und amerikanischer Regierungsangehöriger in den Augen mancher Iraker auch als Ausdruck der Angst, als Bestätigung der Macht des Widerstands oder auch als Herabwürdigung der Übergangsregierung und deren Souveränität erscheinen. Allawi suchte die Bedeutung dennoch zu beschwören und sprach von einem "glücklichen und historischen Tag"
Bekannt wurde die vorgezogene Machtübergabe erst heute früh durch den irakischen Außenminister Hoshyar Zebari, nachdem dieser mit dem britischen Ministerpräsidenten Blair auf dem Nato-Gipfel in Istanbul gesprochen hatte. Zebari kündigte an, dass die Übergangsregierung schon vor dem 30. Juni dei Verantwortung übernimmt, und bedankte sich bei den Nato-Staaten, dass sie bei der Ausbildung der Sicherheitskräfte helfen werden, um die Aufständischen niederzuschlagen.
Ich glaube, dass wir heute diese Elemente im Irak - die Terroristen, die Kriminellen, die Saddamisten, die Antidemokratsichen Kräfte - stören werden, wenn wir den Termin der Übergabe der Souveränität vor dem 30. Juni als ein Zeichen dafür verlegen, dass wir für die Aufgabe gerüstet sind.