Überschreiten der Gruppengrenze
Seite 3: Studien über den Erfolg der Kontakt-Theorie
- Überschreiten der Gruppengrenze
- Die Macht des Kontakts: Bestandener Test in der Wirklichkeit
- Studien über den Erfolg der Kontakt-Theorie
- Notwendigkeit und Utopie
- Auf einer Seite lesen
Einige Beispiele von Studien, die den Erfolg der Kontakt-Theorie belegen, sollen an dieser Stelle kurz angeführt werden:
Weiße College-Neulinge, die zufällig afroamerikanischen Mitbewohnern zugewiesen wurden, sind im Frühjahr weniger voreingenommen und haben weniger Vorurteile.
Psychologen untersuchten etwa siebzig kontaktbasierte Programme. Vielen gelingt es, zwischen den Gruppen Fürsorge und Kameradschaft aufzubauen. Zumindest einige dieser Vorteile hielten bis zu einem Jahr danach an.
In einer kürzlich durchgeführten Analyse von mehr als einer Viertelmillion Menschen stellte sich ein deutliches Muster heraus:
Je mehr Zeit jemand mit Außenstehenden verbringt, desto weniger Vorurteile äußert er.
Organisierte Filterblase
Es gibt wenig Ansätze in den Sozialwissenschaften, die besser belegt sind, als die Kontakttheorie von Gordon Allport. In einer aber zunehmend polarisierten Welt wird das Gruppenbewusstsein stärker und hat der Glaube, es sei naturgemäß und auch notwendig, zwischen in- und out-group messerscharf zu trennen, immer größere Bedeutung und Selbstverständlichkeit.
Daher schwinden die Gelegenheiten für einen Kontakt zwischen den Gruppen und lassen sich zunehmend hermetisch in sich geschlossene Filterblasen nicht nur in der virtuellen, sondern auch in der analogen Welt nachweisen. Beispielsweise belegen Studien nach Jahren der Politik zur Auflösung der Segregation in den USA einen Trend zur freiwilligen Segregation. US-Amerikaner achten heute stärker bei einem Umzug darauf, dass sie sich in Gegenden niederlassen, wo die Bewohner ihre politischen Meinungen teilen.
Ein vergleichbares Phänomen lässt sich auch in Deutschland feststellen. Die Vermächtnisstudie von Jutta Allmendinger zeigt, dass zwar knapp die Hälfte der Befragten mehrmals in der Woche mit Fremden spricht, aber zehn Prozent tun dies höchstens einmal im Jahr. Zudem kommt ein Forschungsbericht des Bundessozialministeriums zum Ergebnis: Je größer die Stadt, desto größer die ethnische und soziale Segregation.
Der Journalist Bastian Berbner kommentiert:
Die individualisierte Moderne hat es möglich gemacht, dass wir mit den immer selben Menschen und den immer selben Ansichten Tag für Tag, Woche für Woche, Jahr für Jahr dieselbe Schrittfolge vollführen, schlafwandlerisch sich wie Profitänzer mit einer eingeübten Choreographie. Das Unbekannte, das Fremde, das Abenteuer verbannen wir auf einen zweiwöchigen Abschnitt im Terminkalender, den wir Urlaub nennen. Das ist nur verständlich, und es wäre auch kein Problem, wenn uns diese Endlosschleife aus Vertrautem nicht dazu verleiten würde, unseren eigenen Erfahrungshorizont mit der Realität zu verwechseln. (…) Es gibt nicht viele Orte in dieser Gesellschaft, an denen sich Fremde begegnen, an denen sich Andersdenkende wirklich kennenlernen. (…) Wann haben Sie zuletzt mit jemandem gesprochen, der ganz anders war als Sie oder wenigstens ganz anderer Meinung?
Ent-Polarisierung
Die Soziologin Arlie Russell Hochschild mahnt angesichts einer sich zunehmend polarisierenden USA: "Weil wir uns nicht mehr kennen, ist es so einfach, sich in Abscheu und Verachtung einzurichten" und Bastian Berbner führt den Gedanken weiter: "Weil wir uns in Abscheu und Verachtung einreichten, lernen wir uns nicht mehr kennen."
Auch die bereits kurz angesprochene Fraternisierungen von deutschen und französischen Soldaten im Ersten Weltkrieg belegen, wie sehr die Kraft des persönlichen Kontaktes den universalen Anspruch des Gruppenbewusstseins in Frage stellen. Darauf anspielend fordert der Historiker Rutger Bregman: "Wenn wir uns in unsere eigenen Schützengräben eingraben, verlieren wir den Blick für die Wirklichkeit."
Ganz in diesem Sinne resümiert auch Bastian Berbner: "So wie das Stammesdenken der natürliche Feind der Empathie ist, ist die Empathie auch der natürliche Feind des Stammesdenken."
Es gibt durchaus auch positive Tendenzen, die Hoffnung geben, dass die Filterblasen nicht von Dauer sein werden: "Jeweils über 75 Prozent geben in der Vermächtnisstudie an, dass es ihnen sehr wichtig ist, dass Alt und Jung, Arm und Reich, Menschen mit und ohne Migrationserfahrung nebeneinander wohnen und dass Kinder aus unterschiedlichen sozialen Schichten zusammen in die Schule gehen. Und nur sehr wenig, um die fünf Prozent, wehren ab."
Eine zukunftsweisende Vorlage hierfür könnte zum Beispiel die Kalkbreite-Siedlung in Zürich sein. Die Architektur des Hauses ist bewusst so konzipiert, dass Menschen ständige Begegnungen mit ihren Nachbarn erleben. Hierbei ist die Nachbarschaft so zusammengestellt, dass sie ein exaktes Abbild der Gesellschaft in ihrer Diversität ist.
Miteinander sprechen
Die Aufhebung des Gruppendenkens durch eine bewusste Grenzüberschreitung zu erreichen, kann auch in einem offenen Gespräch gelingen. Ein offenes Gespräch setzt aber auch gerade den eigenen Willen voraus, nicht nur der anderen Gruppe die eigenen Argumente in einem Dauermonolog aufzuzwingen, sondern vielmehr das offene Interesse, den Willen zum Zuhören.
Gerade in der aktuellen Krise ist aber eher das Gegenteil zu erkennen. Die gegenseitige Pathologisierung, indem die jeweils andere Gruppe als "Aluhutträger" oder "Faschisten" bezeichnet wird, ist leider eher die Regel als die Ausnahme. Die bewusste Schwarz-Weiß-Zeichnungen der anderen Gruppe mag zwar eine wunderbare Vorlage für eine möglichst spitze Feder und scharfe Rhetorik sein, sind aber keineswegs hilfreich, sondern polarisieren.
"Die Abwertung des Anderen - je umfassender, desto effektiver - ist ein absolut sicheres Rezept, um eine echte Debatte gar nicht erst entstehen zu lassen. Denn die pauschale Attacke kränkt. Sie erzeugt Ressentiments. Sie produziert Verhärtungen und ruiniert die Möglichkeiten empathischer Anteilnahme," so gibt der Kommunikationsforscher Friedemann Schulz von Thun in dem lesenswerten Buch "Die Kunst des Miteinander-Redens" zu bedenken, das er gemeinsam mit dem Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen geschrieben hat.
Pörksen seinerseits warnt vor den Gefahren gegenseitiger Diffamierung, wie man sie gerade jetzt so deutlich sehen kann: "Sobald man den anderen in dieser Weise diffamiert, setzt unvermeidlich ein Teufelskreis wechselseitiger Abwertung ein, eine symmetrische Eskalation, wie dies der Anthropologe Gregory Bateson einmal genannt hat: Alle Beteiligten rüsten sprachlich auf, sehen sich im Zweifel als Opfer der jeweils anderen Seite. Und es entsteht ein Sog der Aggression, aus dem man sich nur sehr schwer wieder befreien kann, wenn überhaupt."
"Das Miteinander-Reden und Miteinander-Streiten ohne falsche Harmonieerwartung ist in einer Demokratie tatsächlich alternativlos," heißt es in "Die Kunst des Miteinander-Redens". Eine Erkenntnis, die man insbesondere heute jedem Menschen in der Corona-Krise mit auf den Weg geben möchte. Gerade in einer hochpolarisierten Gesellschaft, die an der aktuellen Krise und ihrer unerträglichen Unsicherheit aufzubrechen und in ihrem Zusammenhalt zu scheitern droht, kann an einem wirklichen Dialog kein Weg vorbeiführen.
Natürlich hat der oftmals inflationär geforderte Dialog, der meist nur als ein mediales Schaulaufen der eigenen argumentativen Schlagwörter verstanden wird, seine Grenzen. So geben Pörksen und Schulz von Thun zu bedenken: "Es ist falsch so zu tun, als sei der Dialog ein Allheilmittel, eine Art Zaubertrank gegen die Polarisierung der Gesellschaft."
Nimmt man sich aber - gerade in der aktuellen Lage - wirklich die Ratschläge von Pörksen und Schulz von Thun zu Herzen, sollte einsichtig sein, warum kein Weg an einem echten Dialog vorbeiführen kann: "An die Stelle des Wahrheitsdisputs tritt also die Anstrengung des Verstehens. (…) Harte Konflikte können nur in einer Gesprächs- und Kommunikationskultur gelöst werden, die verschiedene Teilwahrheiten würdigt, unterschiedliche Positionen gelten lässt und diese dann in gemeinsamem Ringen zusammenführt."
Auf diese Art ist "der gute Dialog (...) ein Geburtsort der Vernunft." Denn "wenn es gelingt, nach guten Debatten eine integrale Lösung zu finden, die intelligenter und weiser ist, als was jeder Einzelne im Kopf hatte, dann hätte Demokratie sich auf schönste Weise verwirklicht. Gewiss, dieses Ideal ist eine Utopie - aber Utopien stellen den Kompass, damit die Richtung stimmt."
Empfohlener redaktioneller Inhalt
Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.
Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.