Überschreiten der Gruppengrenze

Seite 4: Notwendigkeit und Utopie

Bezugnehmend auf die Idee des globalen Dorfes des Philosophen Marshall McLuhan gibt der Journalist Ryszard Kapuscinski zu bedenken: "Das Wesen des Dorfes besteht darin, dass alle Bewohner einander näher kennen, dass sie miteinander Umgang pflegen, ein gemeinsames Schicksal teilen. Von der Gesellschaft auf unserer Erde kann man jedoch nichts Derartiges behaupten, sie erinnert eher an eine riesige anonyme Menge auf einem der großen Flughäfen, eine in Eile dahinströmende Menge einander gleichgültigen, fremden Menschen."

Angesichts immer größerer Gefahren für die Menschheit wie Klimakatastrophe und Ressourcenverbrauch oder Umweltverschmutzung ist aber die Notwendigkeit einer echten weltweiten Solidargemeinschaft eine Binsenweisheit und evident, dass dauerhaft nationale Einzelwege, die insbesondere den eigenen Standort im Sinn haben, nicht hilfreich sein können.

Der Sachbuchautor Jacques Attali mahnt daher: "Um zu überleben muss die Menschheit noch weit über das heutige vage Bewusstsein einer "internationalen Gemeinschaft" hinausgehen. Sie muss ein Bewusstsein für ihre Schicksalsgemeinschaft und zunächst überhaupt für deren Existenz entwickeln. Sie muss einsehen, dass sich mit vereinten Kräften viel mehr erreichen lässt, als allein auf sich gestellt."

Ist eine Weltgemeinschaft realistisch? Paradoxerweise spricht vieles dafür. Noch im Ersten Weltkrieg war beispielsweise die Armee des Kaiserreiches regional, weil die regionale Identität stärker ausgeprägt war, als die nationale. Einhundert Jahre später ist hiervon nur noch wenig zu spüren. Sogar eine dauerhafte Überwindung mit dem jahrhundertelangen Erzfeind Frankreich zu einer gemeinsamen europäischen Gemeinschaft ist inzwischen möglich geworden und politische Realität (auch wenn Spannungen in massiven Krisen offenbaren, wie fragil diese Gemeinschaft noch ist).

Auch und sogar bei den Fußball-Fans, die im ersten Teil des Artikels als sprechendes Beispiel für die Unüberwindlichkeit der Gruppengegensätze aufgeführt wurden, gibt es beeindruckende Fälle der spontanen Überwindung der Gegensätze: Psychologen rekrutierten beispielsweise Fans von Manchester United. Sie schrieben auf, was ihnen ManU bedeutet, und wurden dann gebeten, in einem anderen Gebäude ein kurzes Video für ihr Team aufzuzeichnen.

Auf wem Weg kreuzten sie einen Jogger (in Wirklichkeit ein Schauspieler), der sich den Knöchel verstauchte und zu Boden fiel. In einigen Fällen trug er ein ManU-Trikot, in anderen die Farben von Liverpool (Die Rivalität zwischen beiden Vereinen ist mit der zwischen Dortmund und Schalke zu vergleichen. Ihr Aufeinandertreffen wird als "Derby von England" bezeichnet) und in wieder anderen trug er schlicht neutrale Sportkleidung.

Über 90 Prozent der Teilnehmer hielten an, um dem Fan des eigenen Vereins zu helfen. War das Opfer jedoch Liverpool-Fan waren nur 30 Prozent bereit zu helfen. So weit, so bekannt und im ersten Teil des Artikels beschrieben.

Faszinierenderweise gibt es aber ein einfaches Mittel, um Menschen zur scheinbar undenkbaren Grenzüberschreitung zu bewegen: In einer Folgeuntersuchung baten die Forscher die Probanden, nicht über ManU zu schreiben, sondern über ihre Liebe zum Fußball. Wieder machten sie sich auf den Weg, um ihre Videos aufzunehmen, und wieder trafen sie auf einen Jogger in Schwierigkeiten. Diesmal halfen sie allerdings fast genauso oft Liverpool-Fans wie Fans des eigenen Vereins.

Studien zeigen noch eine weitere Situation auf, in dem verfeindete Fußballfans instinktiv ihren Hass vergessen und einander helfen: Im realen Katastrophenfall. Das gemeinsame Schicksal lässt den scheinbar unüberwindlichen Gruppengegensatz vergessen.

Erweiternde Kreise

Insgesamt spricht Wissenschaft und Geschichte dafür, dass ein nur binär ausgeprägtes Gruppenbewusstsein kein Naturgesetz ist. Aber wie steht es mit der im ersten Teil formulierten zentralen Frage, ob angesichts der nur noch global zu meisternden Herausforderungen eine solidarische Menschengemeinschaft denkbar ist oder angesichts des thematisierten Gruppendenkens schlicht ein naiver Gedanke bleibt?

Der Philosoph Peter Singer glaubt, dass sich unser "Kreis der Fürsorge" im Laufe der Zeit erweitert hat. Dass sich über die Jahrhunderte also das, was Menschen als ihre eigene Gruppe empfinden, langsam aber stetig erweitert und sich "der Durchmesser unserer Fürsorge" sich über Stamm, Stadt und sogar Nation hinaus ausgedehnt hat.

Es besteht also Hoffnung, dass Charles Darwin mit seiner Utopie recht behalten könnte: "Wenn der Mensch in der Zivilisation vorschreitet und kleine Stämme sich zu größeren Gemeinschaften verbinden, so wird der schlichteste Verstand jedem Individuum sagen, daß es seine geselligen Instinkte und Sympathien auf alle Mitglieder des Stammes ausdehnen müsse, mögen sie ihm auch persönlich unbekannt sein. Ist das einmal erreicht, so verhindert nur noch eine künstliche Schranke, daß er seine Sympathie auf die Individuen aller Völker und Rassen erstreckt."

Die Studie "Globalization and human cooperation" ist der Frage nachgegangen, ob Globalisierung Einfluss darauf hat, was Menschen als eigene Gruppe empfinden. Das Ergebnis macht Hoffnung: "Im Wesentlichen ziehen "globalisierte" Individuen breitere Gruppengrenzen als andere (…) Die Globalisierung kann somit grundlegend für die Gestaltung der heutigen groß angelegten Kooperation sein und eine positive Kraft für die Bereitstellung globaler öffentlicher Güter darstellen."

Benutzte Literatur:
Jutta Allmendinger: Die Vertrauensfrage.
Gordon W. Allport,: The Nature of Prejudice.
Bastian Berbner: 180 Grad.
David Berreby: Us & Them.
Rutger Bregman: Im Grunde gut.
Esther Duflo, Abhijit V. Banerjee: Gute Ökonomie für harte Zeiten.
Ryszard Kapuczinski: Der Andere.
Gina Perry: The Lost Boys.
Bernard Pörksen, Friedemann Schulz von Thun: Die Kunst des Miteinander-Redens.
Matthieu Ricard: Allumfassende Menschenliebe.
Peter Singer: The Expanding Circle.
Dirk Splinter und Ljubjana Wüstehube: Mehr Dialog wagen!

Von Andreas von Westphalen ist im Westend Verlag das Buch erschienen: "Die Wiederentdeckung des Menschen. Warum Egoismus, Gier und Konkurrenz nicht unserer Natur entsprechen"

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