Ukraine: "Informationsprovokation"?
Die ukrainische Armee meldet Brüche der neuen Waffenruhe - Donezk widerspricht
Während Vertreter der Separatistenregionsführungen in Lugansk und Donezk heute Vormittag von einer Einhaltung des am Wochenende in Kraft getretenen neuen Waffenruheversuchs in der Ostukraine sprachen, beklagte Wladimir Krawtschenko, der Oberkommandierende der ukrainische Armee, kurz darauf Maschinengewehrfeuer und Mörserbeschuss. Beides, so Krawtschenko, sei von Seiten der Separatisten gekommen.
Die Vertreter Donezks in der Kommission zur Überwachung der Waffenruhe wiesen die Vorwürfe des Namensvetters eines berühmten sowjetischen Olympiaschwimmers umgehend zurück und erklärten, dabei handle es sich um eine "Informationsprovokation der ukrainischen Seite, die auf eine Destabilisierung der Lage abzielt".
Relativierte Punkte der neuen Waffenstillstandsübereinkunft
Darüber hinaus relativierte Krawtschenko zwei Punkte der neuen Waffenstillstandsübereinkunft, von denen es vorher hieß, die ukrainische Seite habe sie akzeptiert. Einer davon ist die Genehmigungspflicht von Erwiderungsfeuer beim ukrainischen Oberkommando. Sie soll dem Militär nach nur dann gelten, wenn sich ukrainische Soldaten nicht in einer "lebensgefährlichen Situation" befinden. Stufen sie eine Situation als lebensgefährlich ein, dürfen sie auch ohne Genehmigung schießen.
Die auf Betreiben der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) verbotenen Drohnen will Krawtschenko zwar nicht für Attacken, aber zur Aufklärung an der 450 Kilometer langen Frontlinie einsetzen. Zum ebenfalls im Zusammenhang mit der "völligen und allumfassenden Feuereinstellung" vereinbarten Abzug schwerer Waffen Austausch äußerte er sich ebenso wenig wie zum Verbot von Sabotage, zum Austausch der letzten Gefangenen und zu ebenfalls vereinbarten disziplinarrechtlichen Maßnahmen gegen Verletzungen der Waffenruhe.
Telefonat zwischen Selenskyj und Putin
Gestern hatten sowohl der ukrainische Staatspräsident Wolodomyr Selenskyj als auch sein russischer Amtskollege Wladimir Putin nach einem Telefongespräch ihre Befürwortung des neuen Waffenstillstandsplans betont. Auf ukrainischer Seite hieß es nach dem von Selenskyj angestoßenem Gespräch, beide Präsidenten hätten "auf die Notwendigkeit verwiesen, zusätzliche Maßnahmen zur Gewährleistung des Waffenstillstandes dringend in die Tat umzusetzen". Der ukrainische Präsident habe außerdem auf das Räumen verminter Abschnitte und auf das Eröffnen neuer Demarkationslinienübergänge gedrängt.
Aus dem Kreml hieß es nach dem Telefonat, Putin habe dabei auf die praktische Umsetzung des Minsker Abkommens und der Pariser Beschlüsse von 2019 gedrängt und seine Besorgnis über Bestrebungen ukrainischer "Amtspersonen" zum Ausdruck gebracht, diese Ergebnisse neu zu verhandeln. Außerdem habe der russische Staatspräsident den am 15. Juli gefassten Beschluss des ukrainischen Parlaments kritisiert, die ukrainischen Regional- und Kommunalwahlen am 25. Oktober lediglich in den von der Kiewer Regierung kontrollierten Gebieten stattfinden zu lassen. Das widerspricht aus russischer Sicht dem, was in Minsk vereinbart wurde, und gefährdet dadurch den Friedensprozess. Die russische Außenministeriumssprecherin Maria Sacharowa sprach deshalb sogar von einem "faktischen Austritt der Ukraine aus dem Minsker Abkommen".
Bald in Berlin?
Darüber hinaus hoben den Moskauer Angaben nach sowohl Putin als auch Selenskyj "die Notwendigkeit hervor, die Effizienz der Verhandlungsanstrengungen im Rahmen der Minsker Kontaktgruppe zu erhöhen". Eine eigentlich vereinbarte Anstrengung war ein Treffen zwischen Angela Merkel, Emmanuel Macron, Wladimir Putin und Wolodomyr Selenskyj in Berlin, das im Frühjahr stattfinden sollte, aber wegen der Coronakrise abgesagt wurde. Ob es bald nachgeholt wird, hängt womöglich nicht nur von der Seuchensituation, sondern auch von der Entwicklung der Waffenruhe ab. Sie ist bei weitem nicht die erste, die in der Ostukraine seit 21. Juni 2014 gelten sollte. Allerdings wurde jede der etwa zwei Dutzend vorherigen Vereinbarungen gebrochen.
In der Ostukraine wird seit einem irregulären Machtwechsel in Kiew vor gut sechs Jahren gekämpft, wobei den Schätzungen der Vereinten Nationen nach insgesamt über 13.000 Menschen ums Leben kamen. An den Kämpfen beteiligten sich auch zahlreiche Nichtukrainer. Auf Seiten der russischsprachigen Separatisten waren es viele Russen aus der Föderation, auf Seiten der Kiewer Staatsführung unter anderem Georgier und Tschetschenen. Beide Gruppen führen damit die Kriege fort, die die damaligen Führer ihrer Völker in den letzten Jahrzehnten gegen Moskau verloren.
Der Tschetschene Isa Munajew, der 2015 bei Debalzewe ums Leben kam, führte sogar eine ganze Tschetscheneneinheit an, das "Internationale Friedenstifter-Bataillon Dschochar Dudajew". Dessen Angehörige rekrutierte der in Dänemark als Asylbewerber anerkannte Warlord vor allem aus Tschetschenen, die sich nach der Niederlage gegen Putin nach Westeuropa abgesetzt hatten. Tschetschenische Söldner sollen sich aber auch auf Seiten der Separatisten an den Kämpfen in der Ostukraine beteiligt haben. Solche Söldner, die die vom Krieg leben, haben potenziell kein Interesse daran, dass sie ein stabiler Friede um ihre Erwerbsquelle bringt.