Ukraine-Krieg: Die Wahrheit, beschützt von einer Leibwache aus Lügen

Seite 2: Domino-Theorie und zivilisatorische Inspiration: Ach wirklich?

Das zweite, leidlich vertraute Argument bei Kriegen wird auch gebracht: Es handelt sich um eine Neuauflage der Domino-Theorie, wonach es bei einem bestimmten Konflikt nicht wirklich darum geht, wo er stattfindet, sondern dass er Teil eines viel umfassenderen Eroberungsplans ist. Bei Selenskyj heißt es:

Wenn wir nicht genug Waffen haben, bedeutet das, dass wir schwach sein werden. Wenn wir schwach sind, werden sie uns besetzen. Wenn sie uns besetzen, werden sie an den Grenzen Moldawiens stehen und Moldawien besetzen. Wenn sie Moldawien besetzt haben, werden sie durch Weißrussland marschieren und Lettland, Litauen und Estland besetzen. ... Sie werden von den Russen angegriffen, denn das ist die russische Politik, alle Länder zurückzuerobern, die zuvor Teil der Sowjetunion waren. ... Wenn die Russen Nato-Länder besetzen, bis an die Grenzen Polens vorrücken und vielleicht mit Polen kämpfen, ist die Frage: Werdet ihr alle eure bewaffneten Soldaten, Piloten und Schiffe schicken? … Denn wenn ihr das nicht tut, werdet ihr keine Nato mehr haben.

Das ist von Anfang bis Ende falsch. Sowohl das Jelzin- als auch das Putin-Regime standen der baltischen Politik feindlich gegenüber, aber das einzige Mal, dass die russische Regierung eine Invasion andeutete, war, als Litauen drohte, den Zugang zur russischen Exklave Kaliningrad teilweise abzuschneiden.

Russland hat keinerlei Absicht bekundet, in die Nato einzumarschieren, und verfügt ganz offensichtlich auch nicht über eine Armee, die nur im Traum daran denken könnte, das zu tun. Russland strebt nach Einfluss auf seine Nachbarn, aber es gibt keinerlei Anzeichen für einen Plan, die baltischen Staaten, Moldawien, den Kaukasus oder die zentralasiatischen Republiken "zurückzuerobern".

Wie Putin bekanntlich erklärt hat: "Wer das Ende der Sowjetunion nicht bedauert, hat kein Herz. Wer sie zurückhaben will, hat keinen Verstand". Aus historischen, kulturellen, ethnischen und strategischen Gründen, die jedem ernsthaften Kenner der Region bekannt sind, geht es bei der Invasion der Ukraine um die Beziehungen zwischen Russland und der Ukraine.

Mit den vorgetragenen Argumenten soll die Rückeroberung der Krim gestützt werden. Applebaum und Goldberg hätten das besser weggelassen, denn nachdem sie ein Bild der russischen Regierung als verrückt, rücksichtslos, brutal und größenwahnsinnig gezeichnet haben, zeigen sie eine liebreizende Sorglosigkeit gegenüber der Gefahr, dass Putin angesichts des möglichen Verlusts der Krim und des Sturzes seines Regimes eine Eskalationsspirale in Richtung Atomkrieg in Gang setzen könnte.

Diese Sorglosigkeit ist umso bemerkenswerter, als sie ausdrücklich erklären, dass ihr Ziel, Putin zu stürzen und Russland zu schwächen, weit über die "Befreiung" der Krim (übrigens unabhängig von den Wünschen ihrer Bewohner) oder nur die Verteidigung der Ukraine hinausgeht:

Ein [ukrainischer] Erfolg kann einen zivilisatorischen Wandel unterstützen und voranbringen. Russland, so wie es derzeit regiert wird, ist eine Quelle der Instabilität, nicht nur in der Ukraine, sondern auf der ganzen Welt. ... Die Investitionen russischer Unternehmen halten Diktatoren in Minsk, in Caracas, in Teheran an der Macht. ... Ein ukrainischer Sieg würde die Menschen, die für Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit kämpfen, sofort inspirieren, wo immer sie leben.

Ach wirklich? In Palästina, Ägypten, Saudi-Arabien, Tunesien, Aserbaidschan, Kaschmir? Die Heuchelei ist dabei nicht zu übersehen. Was Applebaum und Goldberg meinen, ist, dass der Sturz des Putin-Regimes und die Zerstörung Russlands als Großmacht (oder sogar als vereinigter Staat) die Gegner der Vereinigten Staaten und Israels schwächen und die globale Hegemonie der USA stärken wird.

Hinter der Fassade ihres Engagements für die globale Demokratie zeigen Applebaum und Goldberg eine typische Verachtung für die tatsächlichen Meinungen der Menschen in der gesamten nicht westlichen Welt, einschließlich in Demokratien wie Brasilien, Indien und Südafrika.

Es geht nicht darum, dass die Menschen in diesen Ländern die russische Invasion in der Ukraine gutheißen. Es geht darum, dass sie keinen so großen Unterschied zwischen den regionalen hegemonialen Ambitionen und kriminellen Handlungen Russlands und den globalen Handlungen der Vereinigten Staaten erkennen.

Und sie haben es gründlich satt, dass ihre Meinungen und Interessen von Washington im Namen einer amerikanischen moralischen Überlegenheit ignoriert werden, die die tatsächliche US-Politik in ihren Weltregionen immer wieder Lügen gestraft hat. Weder der Inhalt noch der Ton von Applebaums und Goldbergs Essay werden sie umstimmen können.

Der Artikel erscheint in Kooperation mit Responsible Statecraft. Übersetzung: David Goeßmann.

Anatol Lieven ist Senior Research Fellow für Russland und Europa am Quincy Institute for Responsible Statecraft. Zuvor war er Professor an der Georgetown University in Katar und an der Abteilung für Kriegsstudien des King's College London. Er ist Mitglied des beratenden Ausschusses der Südasienabteilung des britischen Außen- und Commonwealth-Büros. Lieven ist Autor mehrerer Bücher über Russland und seine Nachbarländer, darunter "Baltic Revolution: Estonia, Latvia, Lithuania and the Path to Independence" und "Ukraine und Russland: A Fraternal Rivalry" (Eine brüderliche Rivalität).