Ukraine-Krieg: Einsatz von Atomwaffen wieder möglich
Blick in die Geschichte der atomaren Aufrüstung und der Abrüstungs- und Rüstungskontrollverträge. Neue Forschungen: Auch "begrenzter" Atomkrieg hätte global verheerende Folgen. Ein Appell zur derzeitigen Atomkriegsgefahr.
Als Arzt und langjähriges Mitglied der Kieler Gruppe der IPPNW, das ist die Abkürzung für die berufsbezogene Friedensorganisation "Internationale Ärztinnen und Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs und für soziale Verantwortung", die 1985 den Friedensnobelpreis erhalten hat, bin ich über die derzeitig drohende Atomkriegsgefahr sehr besorgt. Seit Beginn des Ukraine-Krieges besteht diese Gefahr wieder ganz real und das sollte uns alle zutiefst beunruhigen.
Einige Vormerkungen
Ich bin Jahrgang 1941, also im Zweiten Weltkrieg geboren, und seit vielen Jahrzehnten ein interessierter Beobachter der internationalen Politik.
Eine der wichtigsten Erkenntnisse, die ich im Laufe der Jahrzehnte gewonnen habe, ist die, dass es in der internationalen Politik nicht um hehre Werte wie Freiheit, Demokratie und Menschenrechte geht, sondern um Interessen, z. B. Wirtschafts-, Macht- und Sicherheitsinteressen. Das hat schon Egon Bahr, der 2015 verstorbene Architekt der Entspannungspolitik von Willy Brandt, einmal so oder ähnlich ausgedrückt.
Daraus folgt: Es gibt in der internationalen Politik nicht nur "schwarz oder weiß", nicht "die Guten" und "die Bösen", wobei wir ja immer die Guten und die Anderen (im Augenblick Russland und ganz besonders Putin) die Bösen sind, sondern es sind von mir in dieser Hinsicht bestenfalls Unterschiede in Abstufungen von Grautönen auszumachen.
Die Moralapostel in der Politik sind mir deshalb höchst verdächtig, dass sie ganz andere Ziele verfolgen, etwa unter der Fahne der Menschenrechte Kriege zu führen. Ein Beispiel dafür ist der völkerrechtswidrige Angriffskrieg der USA und des Westens gegen Serbien 1999, an dem auch Deutschland an führender Stelle beteiligt war. Für mich ist dagegen der Frieden das wichtigste Menschenrecht (abzuleiten aus Art. 3 der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Uno 1948). Ich möchte an dieser Stelle noch einmal an Willy Brandt erinnern, der einmal sagte:
Der Frieden ist nicht alles, aber alles ist ohne den Frieden nichts.
Weiterhin: Ich bin ein Mediziner, der sich seit mehr als 50 Jahren um die Behandlung kranker Menschen bemüht und darüber hinaus im medizinischen Bereich wissenschaftlich tätig war.
Daraus folgt: Ich bin kein Historiker, kein Politikwissenschaftler, kein Atomwissenschaftler und auch kein Völkerrechtler. Deshalb stütze ich meine Ansichten gerne auf die Aussagen einer Reihe von wissenschaftlichen Experten aus diesen Fachgebieten, – soweit ich ihre Expertisen für vernünftig, plausibel und nachvollziehbar halte –, und weiß natürlich auch, dass ich nicht immer den Stein der Weisen gefunden habe.
Hervorheben möchte ich aus dieser Reihe von Fachleuten den US-amerikanischen Politikwissenschaftler John Mearsheimer, der prominenteste Vertreter der realistischen Schule der Geschichtswissenschaft in den USA, der mir derzeit als eine der wenigen Stimmen der Vernunft erscheint und auf dessen Einschätzungen ich mich im Folgenden besonders beziehen werde.
Mearsheimer und die anderen von mir zitierten US-Wissenschaftler sind keine besonderen Freunde Russlands oder Putins. Sie sind aber im Gegensatz zu den derzeit in den USA herrschenden "Falken" um einen vernünftigen Interessenausgleich mit Russland bemüht.
Zur Vorgeschichte des Ukraine-Krieges
Mearsheimer gehört zu den Wissenschaftlern, die die Position vertreten, dass der am 24.2.2022 erfolgte Angriff Russlands auf die Ukraine völkerrechtswidrig war und von ihm deshalb auch entschieden verurteilt wird.
Aber dieser schreckliche Krieg ist am 24. Februar dieses Jahres nicht plötzlich vom Himmel gefallen, sondern ist Folge der Ukraine-Krise, die Ende der 1990er-Jahre mit der schrittweisen Osterweiterung der Nato – entgegen allen vorherigen Zusagen gegenüber der russischen Führung – begann und deshalb eine langjährige, die Interessen Russlands provozierende Vorgeschichte hat, für die nach Auffassung von Mearsheimer die USA und der Westen die Hauptverantwortung tragen.
Seit dem Maidan-Umsturz in Kiew 2014, bei der eine demokratisch-gewählte "russlandfreundliche" Regierung in der Ukraine durch eine "prowestliche" gewaltsam ersetzt wurde, habe sich die Ukraine-Krise noch einmal erheblich verschärft.
So sei es seit dieser Zeit im Osten und Süden der Ukraine zu einem acht Jahre andauernden Bürgerkrieg zwischen großen Teilen der dortigen russischsprachigen Bevölkerung und der Kiewer Putsch-Regierung gekommen, über den in unseren Hauptmedien jedoch nur kaum berichtet wurde, obwohl dort in diesen acht Jahren ca. 14.000 Zivilisten durch die Kriegshandlungen getötet worden sind.1
2015 wurden dann die Minsker Abkommen über den Frieden im Donbass von Russland, der Ukraine, Frankreich und Deutschland unterzeichnet.
Nach dem völkerrechtlich-verbindlichen Minsk-II-Vertrag sollte der Donbass eine weitgehende Autonomie innerhalb der Ukraine erhalten. Wäre dieser Vertrag umgesetzt worden, wäre der Ukraine-Krieg wahrscheinlich vermieden worden. Ich frage mich, warum haben die damalige Bundesregierung und Frankreich als Signaturstaaten dieses Vertrages nicht für dessen Umsetzung gesorgt?
Ursache der Ukraine-Krise ist nach Mearsheimer, dass seit dem Nato-Gipfel 2008 die US-Regierung die Ukraine in die Nato aufnehmen will, um Russland als geostrategischen Konkurrenten in die Knie zu zwingen bzw. auszuschalten.
Russland habe deshalb allen Grund zu befürchten, dass mit der Ukraine als Mitglied der Nato ein weiteres prowestliches Bollwerk direkt an seiner Grenze entsteht. Von Russland werde das als eine existenzielle Bedrohung seiner Sicherheitsinteressen angesehen, sagt Mearsheimer, die es nicht hinnehmen will.
Seit 2015 sind von Mearsheimer eine große Anzahl von Video-Vorträgen und Interviews über die Vorgeschichte und die Hintergründe des Ukraine-Konflikts mit diesen Einschätzungen bei Youtube erschienen, die zum Teil bis zu 27 Millionen Aufrufe erhielten. Darin und auch in vielen Artikeln, die in renommierten Zeitschriften abgedruckt sind, begründet er seine zur offiziellen US-Politik kontroversen Thesen.
Informationskrieg und Propaganda des Westens
Dennoch haben die westlichen Hauptmedien im laufenden Informationskrieg gegen Russland das Kunststück fertiggebracht, dass diese Gesichtspunkte, die auch von einer Reihe weiterer US-Wissenschaftler und auch prominenter US-Politikern wie George Kennan vertreten worden sind, in einem Gedächtnisloch entsorgt wurden und in der öffentlichen Diskussion praktisch nicht zur Kenntnis genommen werden.
Zum laufenden Informationskrieg und zur alltäglichen Propaganda gehört auch die Behauptung, dass das derzeitige Russland eine imperiale Macht sei und es Putin gar nicht um die Osterweiterung der Nato gehe, sondern um die Wiederherstellung der Sowjetunion.
Während dieses Narrativ in den westlichen Hauptmedien und von praktisch jedem westlichen Führer immer und immer wieder wiederholt werde, gibt es jedoch keine Beweise dafür, auf die es sich stützen könne, urteilt Mearsheimer.
Zum Beispiel betonen einige, dass Putin gesagt habe, dass die Ukraine ein "künstlicher Staat" oder kein "realer Staat" sei. Solche undurchsichtigen Kommentare sagen jedoch nichts über sein Motiv aus, in den Krieg zu ziehen. Dasselbe gilt für Putins Aussage, er betrachte Russen und Ukrainer als "ein Volk" mit einer gemeinsamen Geschichte.
Andere weisen darauf hin, dass Putin den Zusammenbruch der Sowjetunion "die größte geopolitische Katastrophe des Jahrhunderts" nannte. Ja, aber Putin sagte auch:
Wer die Sowjetunion nicht vermisst, hat kein Herz. Wer sie zurückhaben will, hat kein Hirn.
Wieder andere weisen auf eine Rede hin, in der er erklärte, dass "die moderne Ukraine vollständig von Russland oder, um genauer zu sein, vom bolschewistischen, kommunistischen Russland geschaffen" worden sei.
Aber wie er in derselben Rede in Bezug auf die heutige Unabhängigkeit der Ukraine sagte:
Natürlich können wir vergangene Ereignisse nicht ändern, aber wir müssen sie zumindest offen und ehrlich zugeben.
Mearsheimer meint: Um zu argumentieren, dass Putin entschlossen war, die gesamte Ukraine zu erobern und sie in Russland einzugliedern, sei es notwendig, Beweise dafür zu liefern, dass er erstens dachte, es sei ein wünschenswertes Ziel, dass er zweitens dachte, es sei ein machbares Ziel, und drittens beabsichtigte, dieses Ziel zu verfolgen. Dafür gebe aber keine Beweise in den öffentlichen Aufzeichnungen.2
Das ist aus meiner Sicht der derzeitige geopolitische Rahmen, auf den ich nicht weiter eingehen kann, sondern auf eine Reihe von Artikeln von mir verweisen möchte, die in den letzten Monaten in Telepolis erschienen sind.3
Ein kurzer Rückblick: Atomkriegsgefahren im ersten "Kalten Krieg"
Mit den US-amerikanischen Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki durch die USA im August 1945 begann die Geschichte des atomaren Wettrüstens zwischen den USA und der damaligen Sowjetunion.4
Zugleich bedeuteten diese Ereignisse den Eintritt in eine neue Epoche der Menschheit. Diese ist vor allem dadurch gekennzeichnet, dass wir Menschen seit dieser Zeit die Fähigkeit besitzen, die Menschheit insgesamt auszulöschen und der Welt ein Ende zu bereiten.
Kuba-Krise
Ich gehöre zu der Generation, deren Angehörige sich aus eigenem Erleben noch an die dramatischen Tage der Kuba-Krise im Oktober 1962 erinnern können.
Diese geopolitische Krise zwischen den beiden damaligen Supermächten USA und Sowjetunion wurde durch einen Kompromiss beendet, bei dem Chruschtschow die von den USA als bedrohlich angesehenen russischen Raketen in Kuba abzog und im Gegenzug Kennedy auf entsprechende in der Türkei stationierte, gegen die Sowjetunion gerichtete Atomraketen verzichtete.
Zerstörungsradien bei der Explosion einer SS-25 in deutschen Hauptstädten (16 Bilder)
Dieser Kompromiss, der 1962 eine atomare Katastrophe verhindert hat, soll das Ergebnis einer Absprache zwischen den beiden verantwortlichen Politikern hinter dem Rücken der Militärs und der Geheimdienste gewesen sein. Deshalb war ein Mindestmaß an gegenseitigem Vertrauen Voraussetzung für das Zustandekommen eines derartigen Übereinkommens.
Dieses notwendige Vertrauen ist aber nach meiner Meinung durch die Politik der Nato-Osterweiterung seit 1999, durch eine in den letzten Jahren ständig zunehmende und zuletzt maßlose russlandfeindliche Propaganda in unseren Hauptmedien und durch die beispiellosen Sanktionen des Westens gegen Russland weitgehend zerstört worden.
Das Göttinger Manifest, Ostermärsche der Atomwaffengegner und INF-Vertrag
Die Geschichte des Widerstands gegen die atomare Aufrüstung in Deutschland begann 1957, als 18 führende Atomwissenschaftler mit ihrem berühmten "Göttinger Manifest" die Öffentlichkeit über die Gefahren eines Atomkrieges alarmierten. Sie warnten vor den Plänen der damaligen Regierung, die Bundeswehr mit Atomwaffen aufzurüsten. Bereits 1955 hatten die USA – unter strengster Geheimhaltung – damit begonnen, atomare Kurzstrecken-Raketen in der Bundesrepublik zu stationieren.
Daraufhin entstand mit der Kampagne "Kampf dem Atomtod" eine Protestbewegung gegen die atomare Aufrüstung. 1960 begannen dann die jährlich stattfindenden "Ostermärsche der Atomwaffengegner", an denen ich regelmäßig teilgenommen habe.
Die ca. 7.000 taktischen Atomwaffen, die in den 1960er-Jahren in Westdeutschland stationiert waren und die im Ernstfall auf dem Gebiet der DDR oder der BRD zum Einsatz gekommen wären, wurden dann, ebenso wie die atomar zu bestückenden US-amerikanischen und sowjetischen Mittelstrecken-Raketen aufgrund des INF-Vertrags, bis zum Ende des ersten "Kalten Krieges" 1991 abgezogen bzw. zerstört.
Übrig geblieben sind bis dato die auf dem Bundeswehr-Luftwaffenstützpunkt in Büchel stationierten ca. 20 US-Atombomben, auf die ich noch eingehen werde.
Atomare Beinahe-Unfälle
Während es außer in Hiroshima und Nagasaki glücklicherweise bisher zu keinem weiteren kriegerischen Einsatz von Atombomben gekommen ist, findet man im Internet eine Liste der atomaren Beinahe-Unfälle (nuclear close calls). Darunter versteht man "Vorfälle", die zumindest einer unbeabsichtigten nuklearen Detonation oder Explosion hätten führen können.
Die Liste zeigt, dass seit den 1950er-Jahren bis Anfang der 1990er-Jahre insgesamt mindestens 16 Vorfälle dieser Art bekannt geworden sind, die einen Atomkrieg hätten auslösen können.
Drei dieser sogenannten "Vorfälle" möchte ich als Beispiele kurz anführen.
Auf dem Höhepunkt der Kuba-Krise hätte ein sowjetisches U-Boot in der Nähe der von den USA errichteten Sperrzone um Kuba beinahe einen nuklear bewaffneten Torpedo abgefeuert, während es von amerikanischen Zerstörern verfolgt wurde.
Das Boot hatte wegen schwacher Batterien den Kontakt zu seiner Leitstelle in der Sowjetunion verloren und der Kommandant befürchtete, dass der Krieg gegen die USA bereits begonnen hatte. Er ordnete den Einsatz eines Atomtorpedos mit einer 10-Kilotonnen-Bombe, vergleichbar mit der Hiroshima-Bombe, gegen die amerikanische Flotte an, die das Boot bedrängte.
Für den Abschuss des Torpedos hätten drei Verantwortliche des U-Boots zustimmen müssen. Der Kapitän und ein weiterer Verantwortlicher gaben ihre Zustimmung für den Abschuss, aber der zweite Befehlshaber, der junge sowjetische Marine-Offizier Wassili Archipow, verweigerte seine Zustimmung. Es gelang ihm, den Kapitän zu beruhigen, und das Boot konnte wieder auftauchen und Kontakt mit seiner Leitstelle aufnehmen.
Zu einer weiteren höchst gefährlichen Situation kam es bei dem Manöver "Able Archer", das von Nato-Streitkräften und leitenden Politikern im November 1983 durchgeführt wurde. Die Übung simulierte einen sowjetischen konventionellen Angriff auf europäische Nato-Streitkräfte. Zum Programm der Übung gehörte der Ersteinsatz von Atomwaffen vonseiten der Nato, um den sowjetischen Vormarsch zu stoppen.
Die Sowjets vermuteten, dass unter dem Deckmantel dieser Militärübung ein großangelegter atomarer Angriff auf die Sowjetunion starten sollte, waren deshalb hochgradig beunruhigt und starteten die vorbereitenden Maßnahmen für einen atomaren Gegenschlag.
Diese einige Tage andauernde dramatische Situation, bei der sich u. a. mit Atombomben bestückte Flugzeuge der Sowjets Tag und Nacht in der Luft befanden, wurde schließlich aufgelöst durch den Nato-Spion "Topas", alias Rainer Rupp, ein Mitarbeiter der DDR-Aufklärung, der eine hohe Stellung bei der Nato mit Zugang zu den Akten mit der höchsten Geheimhaltungsstufe erlangt hatte und der die Sowjets mit diesen Dokumenten davon überzeugen konnte, dass es sich bei Able Archer "nur" um eine Übung handelte.
Ein weiterer Mensch, dem wir Älteren wahrscheinlich zu verdanken haben, dass wir noch leben, und die Jüngeren unter uns, dass sie geboren wurden, ist Stanislaw Petrow.
Am 26. September 1983 stufte er als leitender Offizier in der Kommandozentrale der sowjetischen Satellitenüberwachung einen vom Überwachungssystem gemeldeten Angriff der USA mit nuklearen Interkontinentalraketen auf die UdSSR nicht als einen Alarm ein, wie das System es anzeigte und die Auslösung eines schnellen Gegenschlags erforderlich gemacht hätte, sondern wertete ihn als Fehlalarm.
Später ergab sich, dass es sich tatsächlich um einen Fehlalarm gehandelt hatte, der durch einen Satelliten des sowjetischen Frühwarnsystems ausgelöst worden war. Eine fehlerhafte Software hatte einen Sonnenaufgang und Spiegelungen in den Wolken als Raketenstarts in den USA interpretiert.
Durch sein Eingreifen verhinderte Petrow damals wahrscheinlich das Auslösen eines umfassenden Atomkriegs mit strategischen Nuklearwaffen zwischen den USA und der Sowjetunion. Deshalb gibt es Bemühungen, den 26. September im Andenken an diesen "Weltretter", der 2017 in Moskau verstorben ist, als "Petrow-Tag" zu begehen.
Diese und weitere in der Liste angeführte Beispiele zeigen, dass wir es mutigen und selbstständig denkenden Menschen und darüber hinaus Zufällen und glücklichen Umständen zu verdanken haben, dass es im ersten Kalten Krieg zu keinem nuklearen Inferno gekommen ist.
Atomare Aufrüstung seit den 1990er-Jahren und Rüstungskontroll- und Abrüstungsverträge
Heute verfügen die neun Atommächte (neben Russland und den USA sind das China, Frankreich, Großbritannien, Pakistan, Indien, Israel und Nordkorea) über rund 13.000 nukleare Sprengköpfe.
Trotz einiger Reduzierungen von strategischen Atomwaffen, die sich im Besitz von Russland und den USA befinden, z. B. 2010 durch den neuen Start-Vertrag (Strategic Arms Reduction Treaty) auf jeweils 800 Trägersysteme mit ca. 1500 Atomsprengköpfen, sind laut Sipri immer noch mehr als 90 Prozent aller Atomwaffen je etwa zur Hälfte im Besitz der beiden größten Atommächte.5 Das bedeutet, dass sowohl Russland als auch die USA heute insgesamt über jeweils ca. 5500 bis 6000 Atomsprengköpfe verfügen.
Deutschland verfügt über keine "eigenen" Atomwaffen, ist aber über die "Nukleare Teilhabe" an der Atomkriegsstrategie der Nato beteiligt.
Die nukleare Teilhabe Deutschlands
Im Rahmen der nuklearen Teilhabe haben die USA in vier europäischen Nato-Staaten ca. 150 taktische Atomwaffen, das sind frei fallende Atombomben vom Typ B61, stationiert. Neben Deutschland sind das Belgien, Italien, die Niederlande und die Türkei.
Taktische Atomwaffen haben in der Regel eine geringere Sprengkraft und Reichweite als strategische Atomwaffen, aber die Übergänge sind fließend.
Die USA liefern also die Atomwaffen, während die Stationierungsländer die Stützpunkte, die Trägerflugzeuge und die Piloten zur Verfügung stellen, die im Kriegsfall die Atomwaffen ins Ziel fliegen und abwerfen sollen. In Deutschland sind schätzungsweise ca. 20 US-Atombomben auf dem Bundeswehr-Fliegerhorst Büchel in der Eifel stationiert.
Die nukleare Teilhabe verstößt eindeutig gegen den Atomwaffensperrvertrag von 1970, den auch Deutschland nach langen Auseinandersetzungen 1975 unterzeichnet hat. Darin haben sich alle Nicht-Atomwaffenstaaten verpflichtet, "Kernwaffen oder sonstige Kernsprengkörper oder die Verfügungsgewalt darüber von niemandem unmittelbar oder mittelbar anzunehmen."
Die neue Allzweck-Atombombe B61-12
Trotz eines parteiübergreifenden Beschlusses des Bundestages im Jahr 2010 hält die Bundesregierung weiterhin an der Stationierung der US-Atombomben in Deutschland fest und lässt Piloten der Bundeswehr regelmäßig den Atomwaffeneinsatz für den Ernstfall trainieren.
In den letzten Jahren wurde die "Modernisierung" der in Büchel stationierten US-Atombomben angekündigt. Die neue B61-12 ist eine "Allround"-Atombombe, eine zielgenaue, elektronisch gesteuerte und gelenkte Atomwaffe mit variabler Sprengkraft, vergrößerter Reichweite und der Fähigkeit, tief verbunkerte Ziele zu zerstören.
Die B61-12 ist die erste Nuklearbombe, die mit einem derartigen Steuerungssystem ausgestattet ist. Durch die variable Sprengkraft, in der Größenordnung von sog. Mini-Nukes bis zur Sprengkraft der Hiroshima-Bombe, ergeben sich für die Kriegsplaner erweiterte operative Möglichkeiten für den Einsatz dieser Nuklearwaffen.
Zusätzlich ist der Kauf einer neuen Generation von Atombombern (F 35) von den USA als Ersatz für die derzeitigen Tornados in Planung.
Atomare Aufrüstung, Kündigung der Abrüstungsverträge, Atomkriegsgefahr
Obwohl sich alle Kernwaffenmächte, die 1970 ebenfalls den Atomwaffensperrvertrag mitunterzeichnet haben, feierlich zur nuklearen Abrüstung verpflichtet haben, gibt es seit dieser Zeit keinerlei substanzielle Fortschritte in diese Richtung.
Es ist vor allem der Anspruch der USA auf Ausbau und Erhaltung ihrer weltweiten militärischen Überlegenheit, der das Wettrüsten anheizt und weitere Abrüstungsmaßnahmen verhindert. Bereits unter Obama hatte die US-Regierung beschlossen, ihr Atomwaffenarsenal in den kommenden 30 Jahren für 3.000 Milliarden US-Dollar – das sind 100 Milliarden jährlich – aufzurüsten.
Eines der wesentlichen Hindernisse für Fortschritte bei der atomaren Abrüstung mit Russland ist die erneute Stationierung von Raketenabwehrsystemen in Polen und Rumänien.
Denn der Zweck dieser Raketenabwehr ist in Wirklichkeit nicht die Abwehr eines atomaren Angriffs, sondern der Versuch, das atomare Gleichgewicht außer Kraft zu setzen. Das Raketenabwehrsystem soll einen atomaren Erstschlag der USA ermöglichen, indem ein russischer Zweitschlag nach einem erfolgten Angriff abgefangen werden kann.
Bereits 2001 hatten die USA einseitig einen wichtigen Abrüstungsvertrag, den ABM-Vertrag (Anti-Ballistic-Missile-Treaty) von 1972, gekündigt, der die Errichtung von Raketenabwehrsystemen verboten hatte.
Die inzwischen von den USA stationierten "Aegis Ashore"-Systeme in Polen und Rumänien können "Abfangraketen" abfeuern. Diese Systeme können aber auch durch eine einfache Änderung der Programmierung Raketen gegen Bodenziele abfeuern. Und sie können Marschflugkörper abfeuern und somit gegnerische Ziele bis weit hinter Moskau erreichen und zerstören.
Ferner kündigte die US-Regierung im Februar 2019 den INF-Vertrag (Intermediate Range Nuclear Forces Treaty). In dem 1987 zwischen den USA und der Sowjetunion geschlossenen Vertrag, der bisher der bedeutendste und umfassendste Abrüstungsvertrag gewesen ist, verständigten sich beide Länder auf ein Verbot landgestützter, ballistischer Raketen und Marschflugkörper mit einer Reichweite zwischen 500 und 5.500 Kilometer, auf die Vernichtung aller vorhandenen Waffen dieses Typs (insgesamt mehrere Tausend Systeme) und auf ein Verbot der Produktion und Tests neuer Mittelstreckenwaffen.
Nach der Kündigung des ABM-Vertrages 2001 und des INF-Vertrags 2019 droht jetzt die Stationierung neuer Mittelstreckenwaffen und ein erneutes Wettrüsten zwischen den beiden größten Atommächten. Mittelstreckenwaffen sind, wie dargestellt, keine Defensivwaffen, sondern aufgrund ihrer kurzen Vorwarnzeit Erstschlagswaffen. Damit wächst die Gefahr eines Atomkrieges in Europa.
Neben den bereits installierten Aegis-Ashore-Systemen in Rumänien und in Polen, die – wie gesagt – auch Mittelstrecken-Raketen abschießen können, planen die USA für 2023 die Stationierung von neuen Hyperschall-Raketen mit dem Namen "Dark Eagle" (zu Deutsch: "schwarzer Adler"), die Moskau in etwa 20 Minuten erreichen können, ausgerechnet am früheren Standort der Pershing-II-Raketen, in Mainz-Kastel.
Auch die neuen B61-12 Atomwaffen, die bis Dezember 2022 in Europa stationiert werden sollen, könnten die Hemmschwelle für einen Atomwaffeneinsatz weiter senken. In der Logik der US-Militärs macht die neue Bombe einen auf Europa begrenzten Atomwaffeneinsatz kalkulierbar, ohne einen atomaren Gegenschlag Russlands auf US-Territorium bzw. einen globalen Atomkrieg zu riskieren.
Ein "begrenzter" Atomwaffenkrieg zwischen den USA und Russland in Europa würde aber sehr wahrscheinlich auch das Ende Deutschlands bedeuten, von den sonstigen Folgen eines derartigen Krieges, auf die ich weiter unten eingehen werde, einmal abgesehen.
Atomwaffenverbotsvertrag
2017 haben die atomwaffenfreien Länder den Aufstand gegen die Atommächte gewagt. 122 Mitgliedstaaten der Uno haben damals den Vertrag über das Verbot aller Atomwaffen beschlossen. Für den Atomwaffenverbotsvertrag erhielt ICAN, ein internationales Bündnis von Nichtregierungsorganisationen, das sich viele Jahre für die Abschaffung aller Atomwaffen durch einen bindenden völkerrechtlichen Vertrag eingesetzt hat, 2017 den Friedensnobelpreis. Auch die IPPNW ist Teil dieses Bündnisses.
Inzwischen haben über 50 Staaten diesen Vertrag ratifiziert, sodass er 2021 in Kraft getreten ist. Kürzlich fand in Wien die erste weltweite Staaten-Konferenz zum UN-Atomwaffenverbot statt, an der Deutschland mit einem Beobachterstatus vertreten war. An dieser Konferenz hat auch eine Vertreterin unserer IPPNW-Gruppe in Kiel teilgenommen.
Der Atomwaffenverbotsvertrag verbietet den Vertragsstaaten, Kernwaffen zu entwickeln, herzustellen, zu erwerben und zu besitzen, Kernwaffen einzusetzen oder ihren Einsatz anzudrohen, Kernwaffen zu lagern oder die Verfügungsgewalt darüber unmittelbar oder mittelbar anzunehmen und Kernwaffen über ihr Staatsgebiet zu transportieren.
Es ist ein Skandal, dass die Bundesregierung, zwar mit wohlfeilen Lippenbekenntnissen, eine Welt ohne Atomwaffen zu befürworten, in der Uno gemeinsam mit den anderen Nato-Staaten gegen die Aufnahme der Verbotsverhandlungen gestimmt, und, gemeinsam mit den Atommächten, die Verhandlungen in der Uno boykottiert hat.
Der Atomwaffenverbotsvertrag war ein Ziel des jahrzehntelangen Kampfes der weltweiten Bewegung gegen die atomare Aufrüstung und auch des jahrzehntelangen Kampfes gegen die in Deutschland stationierten Atombomben.
Die Friedensbewegung Deutschland hat deshalb allen Grund, den Widerstand gegen die Beteiligung unseres Landes an der Atomkriegsstrategie der USA, gegen die in Büchel stationierten US-Atomwaffen, gegen die damit verbundene Gefahr eines Atomkrieges in Europa und für die Unterzeichnung des Atomwaffenverbotsvertrags verstärkt fortzusetzen.
Ukraine-Krieg: Auch der Einsatz von Atombomben wieder möglich
Nach der Beendigung des ersten Kalten Kriegs 1991 habe ich die Gefahren, die sich aus der geschilderten atomaren Aufrüstung in Verbindung mit den gekündigten Abrüstungsverträgen in den letzten Jahrzehnten ergeben haben, wie die meisten meiner Zeitgenossen, nicht zur Kenntnis genommen bzw. verdrängt.
Ich habe mir einfach nicht vorstellen können, dass uns in Europa in meiner Lebenszeit noch einmal eine derartige Gefahrensituation wie in der Kuba-Krise 1962 drohen könnte. Seit dem Beginn des Ukraine-Kriegs ist die Atomkriegsgefahr jedoch wieder real geworden und nach Einschätzungen von Experten derzeit höher als irgendwann seit 1962.
Zunächst möchte ich dazu wieder John Mearsheimer zu Wort kommen lassen. Er weist in seinen letzten Vorträgen6 auf die großen Gefahren hin, die mit diesem jetzt seit mehr als sieben Monaten andauernden Krieg in der Ukraine verbunden sind. Dieser Krieg ist für ihn ein Stellvertreterkrieg zwischen Russland einerseits und den USA und dem gesamten Westen andererseits, mit den Ukrainern auf dem Schlachtfeld.
Und er warnt eindringlich vor der Möglichkeit, dass sich daraus wieder ein großer Krieg in Europa entwickeln könnte, bei dem auch die Gefahr des Einsatzes von Atomwaffen besteht.
Im August 2022 ist in der Zeitschrift Foreign Affairs, der bedeutendsten US-amerikanischen Zeitschrift für Außen- und Geopolitik, ein ausführlicher Artikel von ihm erschienen, in dem er noch einmal seine Befürchtungen und Warnungen vor einer Eskalation des Krieges in der Ukraine zum Ausdruck bringt.7
John Mearsheimer: Wege in die Eskalation
In diesem Artikel spricht der Wissenschaftler zunächst über mehrere grundlegende Wege zur Eskalation, die der Kriegsführung innewohnen: Eine oder beide Seiten eskalieren absichtlich, um den Krieg zu gewinnen oder um eine Niederlage zu verhindern, oder die Kämpfe eskalieren nicht durch bewusste Entscheidungen, sondern unbeabsichtigt und zufällig.
Jeder dieser Wege birgt das Potenzial, dass die USA mit Truppen direkt in den Kampf eingreifen oder Russland zum Einsatz von Atomwaffen veranlasst wird, oder möglicherweise beides.
Seit 2015 bilden die USA und ihre Verbündeten auch das ukrainische Militär aus und versorgen es mit wichtigen Geheimdienstinformationen, die es zur Zerstörung wichtiger russischer Ziele benötigt. Auch hat der Westen, wie die New York Times berichtete, "ein heimliches Netzwerk von Kommandos und Spionen" vor Ort in der Ukraine.
Mearsheimer sagt, Washington mag noch nicht direkt in die Kämpfe verwickelt sein, aber es ist tief in diesem Krieg verwickelt. Und die USA seien jetzt nur noch einen kurzen Schritt davon entfernt, direkt einzugreifen.
Für den direkten Eintritt der USA in den Ukraine-Krieg werden laut Mearsheimer eine Reihe von unterschiedlichen Szenarien diskutiert, die in seinem Artikel ausführlich dargestellt sind.
Ein mögliches Szenario für eine US-Intervention würde eintreten, wenn die ukrainische Armee zu kollabieren beginnt und es so aussieht, als ob Russland wahrscheinlich einen bedeutenden Sieg erringen könnte.
In diesem Fall könnten die Vereinigten Staaten, angesichts der bisherigen großen finanziellen und propagandistischen Anstrengungen der Biden-Regierung, eine solche Entwicklung zu verhindern, versuchen, das Blatt zu wenden, indem sie direkt in die Kämpfe eingreifen.
Oder es könnte eine versehentliche Kollision von US-amerikanischen und russischen Kampfjets auftreten, die über der Ostsee in zu engem Kontakt gekommen sind. Ein solcher Unfall könnte angesichts der angespannten Situation auf beiden Seiten, des Mangels an Kommunikation und der gegenseitigen Dämonisierung leicht eskalieren.
Für Russland führt er mehrere Szenarien an, unter denen die russische Führung Atomwaffen einsetzten könnte.
Eines wäre, wenn die USA und ihre Nato-Verbündeten direkt in den Kampf eintreten. Denn diese Entwicklung würde nicht nur das militärische Gleichgewicht im konventionellen Bereich zuungunsten Russlands deutlich verschieben und die Wahrscheinlichkeit seiner Niederlage erheblich erhöhen, sondern auch bedeuten, dass Russland einen Krieg mit einer Großmacht vor seiner Haustür führen müsste, der leicht auf sein Territorium übergreifen könnte.
Die russische Führung würde sicherlich denken, dass es um ihr Überleben und das der Russischen Föderation geht, was für sie ein starkes Argument wäre, Atomwaffen einzusetzen, um die Situation zu retten.
In einem zweiten Atomkriegsszenario gelingt es der Ukraine, das Blatt auf dem Schlachtfeld ohne direkte Beteiligung der USA zu ihren Gunsten zu wenden. Wenn die ukrainischen Streitkräfte dabei wären, die russische Armee zu besiegen und das verlorene Territorium ihres Landes, etwa die Krim, zurückzuerobern, gibt es wenig Zweifel, dass Moskau dieses Ergebnis als eine existenzielle Bedrohung betrachten könnte, die eine nukleare Reaktion erfordert.
Wohin führt der Krieg in der Ukraine?
Obwohl eines dieser oder weiterer katastrophaler Szenarien Wirklichkeit werden könnte, kann man bei einer Abwägung zu dem Ergebnis kommen, dass die Chancen dafür nur gering seien und dass daher die Situation nicht so besorgniserregend sei.
Schließlich bestehen für die Politiker auf beiden Seiten starke Anreize, die USA aus den Kämpfen herauszuhalten und selbst einen begrenzten nuklearen Einsatz zu vermeiden, ganz zu schweigen von einem tatsächlichen umfassenden Atomkrieg.
Mearsheimer sagt, er würde es sich natürlich sehr wünschen, dass wir so optimistisch sein könnten. Tatsächlich unterschätzt diese Sichtweise die Gefahren einer Eskalation in der Ukraine jedoch erheblich, denn von ihrem Beginn an neigen Kriege dazu, eine eigene Logik zu entwickeln, was es schwierig macht, ihren Verlauf vorherzusagen. Wer sagt, er wisse mit Sicherheit, welche Entwicklung der Krieg in der Ukraine im weiteren Verlauf nehmen wird, der irrt.
Abschließend stellt Mearsheimer fest:
Diese gefährliche Situation schafft zwar einerseits einen starken Anreiz, eine diplomatische Lösung für den Krieg zu finden. Bedauerlicherweise ist jedoch derzeit keine politische Lösung in Sicht, da sich beide Seiten fest zu Kriegszielen bekennen, die einen Kompromiss fast unmöglich machen.
Mearsheimer meint, die Biden-Regierung hätte mit Russland zusammenarbeiten sollen, bevor im Februar der Krieg ausbrach, um die Ukraine-Krise beizulegen. Das hat sie aber abgelehnt und jetzt ist es zu spät, um einen solchen Deal abzuschließen.
Russland, die Ukraine und der Westen stecken nach seiner Einschätzung in einer schrecklichen Situation fest, aus der es offensichtlich derzeit keinen Ausweg zu geben scheint.
"Man kann nur hoffen, dass die maßgeblichen Politiker auf beiden Seiten den Krieg so führen, dass eine katastrophale Eskalation vermieden wird. Für die vielen Millionen Menschen, deren Leben auf dem Spiel steht, ist das jedoch ein schwacher Trost", sagt Mearsheimer abschließend.
Ted Postol: Die eindringliche Warnung eines führenden Atomwaffenexperten
Ein weiterer Experte, dem ich ein vernünftiges Urteil über die derzeitigen Atomkriegsgefahren zutraue, ist Ted (Theodore) Postol. Er ist ein weltweit anerkannter US-Atomwaffenspezialist, der viele Jahre in hohen Funktionen im Pentagon gearbeitet hat, bevor er als Professor an der Stanford Universität und dann am MIT (Massachusetts Institute of Technology) bis zu seiner Emeritierung tätig war. Er unterstützt seit Jahren die Friedensbewegung in den USA.8
Bei meinen Recherchen bin ich auf ein bemerkenswertes Interview gestoßen, das der bekannte US-amerikanische Journalist Robert Scheer, Autor des Buches "With Enough Shovels: Reagan, Bush und der Atomkrieg", mit Postel geführt hat, und das im März 2022 veröffentlicht worden ist.9 Darin diskutieren die beiden Fachleute, was zu erwarten ist, wenn im Ukraine-Krieg tatsächlich Atomwaffen zum Einsatz kommen.
Im Verlaufe des Gesprächs fragt Robert Scheer seinen Gast:
Ich frage Sie also nochmals, worüber reden wir hier eigentlich? Wir reden doch nicht über einen weiteren Irak oder ein weiteres Vietnam. Wir reden über Hiroshima und Nagasaki und was ihr Schicksal für Städte in den USA bedeutet.
Daraufhin antwortet Postol:
Wir reden von einer Feuerwand, die alles um uns herum mit der Temperatur des Sonnenmittelpunkts einschließt. Die Explosion von Nuklearwaffen würde uns buchstäblich in weniger als Asche verwandeln. Ich kann nicht genug betonen, wie mächtig diese Waffen sind. Wenn sie detonieren, sind sie vier- oder fünfmal heißer als das Zentrum der Sonne, das 20 Millionen Grad Kelvin hat. Im Zentrum einer Detonation dieser Waffen herrschen 100 Millionen Grad Kelvin.
Menschen können sich das Ausmaß dieser Hitze nicht vorstellen. Die Auswirkungen sind so schwerwiegend, dass sie die menschliche Vorstellungskraft sprengen.
Zur Bedrohung, die vom Einsatz einer Atombombe ausgeht, sagt Postol:
Wenn eine Atomwaffe auf dem Gefechtsfeld gezündet wird, weiß zunächst niemand, was das bedeutet. War es eine einzelne Waffe? Werden ihr in wenigen Minuten oder Stunden weitere Atomexplosionen folgen? Wird der Gegner, den Sie gerade angegriffen haben, sofort oder erst in einigen Tagen mit einer oder mehreren Waffen nachziehen? Wird er versuchen, ihre Atomwaffenstandorte anzugreifen?
Es herrscht ein totales Chaos, und ehe man sich versieht, explodieren nicht nur ein paar Dutzend oder Hunderte, sondern Tausende von Atomwaffen. Das ist einfach unvermeidlich. Es ist wie bei der Finanzkatastrophe von 2008/2009, ist aber in den tatsächlichen Auswirkungen unvorstellbar desaströser. Bei den bestehenden Instabilitäten wird die Katastrophe nicht aufzuhalten sein. Deshalb sollten alle wirklich davor zurückschrecken, Atomwaffen auch nur auf niedrigstem Niveau einsetzen zu wollen.
Zum Schluss sagt Robert Scheer:
Wenn jetzt, in einer angespannten weltweiten Situation, eine einzige Atomwaffe explodiert, gibt es kein Zurück mehr. Das wäre das Ende der Menschheit. Wissen die Politiker nicht, dass sie mit ihrem leichtfertigen Gerede über den Einsatz von Atomwaffen das Ende der Menschheit riskieren?
Ergänzung von mir, KDK: Diese Frage bezieht sich auf die unter Politikern in den USA laufende Diskussion über den Einsatz von "kleinen" Nuklearwaffen in einem "zu gewinnenden Atomkrieg", auf den Scheer in dem Gespräch hinweist.
Postol entgegnet:
Dabei ist es doch ganz einfach. Wer den Einsatz kleiner Atomwaffen propagiert, will uns einreden, ein kleiner Funke in einem mit Benzindämpfen gefüllten Raum wäre kein Problem. Das ist keine schlechte Analogie. Es ist zwar eher ein physikalisches als ein soziales Phänomen, aber im Grunde ist es die gleiche Situation. Man kann keinen kleinen Funken in einem Raum auslösen, der mit Benzindämpfen gefüllt ist. Das würde kein gutes Ende nehmen.
Neue Forschungen: Folgen eines "begrenzten" Atomkriegs
Die IPPNW hat kürzlich einen 27-seitigen Bericht mit vielen eindrucksvollen Abbildungen und instruktiven Tabellen mit dem Titel "Nukleare Hungersnot" veröffentlicht. Es handelt es sich um die deutsche Übersetzung einer Arbeit, die von einem Team der Physicians for Social Responsibility, der US-amerikanischen Sektion der IPPNW, unter Leitung des Arztes, Wissenschaftlers und Journalisten Matt Bivens, erstellt worden ist.
Im Folgenden möchte ich noch einen kurzen Einblick in diese wichtige Arbeit geben.
Auch "begrenzter" Atomkrieg führt zu Temperatursturz und Hungersnot
Seit Langem ist bekannt, dass ein großer umfassender Atomkrieg die moderne Zivilisation zerstören, einen "Nuklearen Winter" auslösen und wahrscheinlich den größten Teil aller Menschen oder die gesamte Menschheit auslöschen könnte.
Aber was ist mit einem "begrenzten" Atomkrieg, der nur in einer Region der Erde wie z. B. in der Ukraine oder in Europa oder Asien stattfindet oder bei dem bloß ein kleiner Teil des weltweiten Arsenals zum Einsatz kommt?
Dieser IPPNW-Bericht fasst die jüngsten wissenschaftlichen Studien zusammen, die zeigen, dass sich ein sogenannter "begrenzter" oder "regionaler" Atomkrieg weder begrenzt noch sich nur regional auswirken würde. Ganz im Gegenteil, er hätte Auswirkungen auf den gesamten Planeten.
Er wäre tatsächlich gefährlicher, als uns bis vor wenigen Jahren bewusst war.
Auch wenn bei einem Krieg nur drei Prozent, das heißt weniger als ein Zwanzigstel der weltweiten Atomwaffen, detonieren würde, kämen das Klima, die globalen Nahrungsmittelketten und wahrscheinlich die öffentliche Ordnung zum Erliegen. Millionen, vielleicht sogar Milliarden von Menschen, kämen durch Hungersnöte und Unruhen ums Leben.
Denn in einem Atomkrieg käme es durch auf Städte und Industriegebiete abgeworfene Bomben zu Feuerstürmen, und das würde riesige Mengen an Ruß in die Atmosphäre befördern, die sich dann rasch verbreiten und den Planeten abkühlen würden, heißt es in dem IPPNW-Bericht.
Anhand von fünf verschiedenen Szenarien eines "begrenzten" Atomkrieges zwischen Indien und Pakistan, bei denen 100 bis 500 Atomwaffen mit 15 bis 100 Kilotonnen Sprengkraft zum Einsatz kommen, wird in der zugrunde liegenden wissenschaftlichen Studie untersucht, wie viel sonnenverdunkelnder Ruß jeweils entstehen würde.
Weiterhin wurde berechnet, wie stark die globalen Temperaturen im Ergebnis fallen würden, was mit dem Nahrungsmittelanbau passieren würde und letztendlich, wie viele Menschen in der Folgezeit wahrscheinlich verhungern würden.
Die Ergebnisse sind: So grauenvoll es in der Kriegszone mit den vielen Millionen unmittelbaren Todesfällen selbst auch sein würde – die Zahl dieser regionalen Todesopfer würde in den darauffolgenden Monaten und Jahren gering erscheinen im Vergleich mit der riesigen Zahl an Hungertoten weltweit.
Selbst ein kleiner Konflikt, in dem sich zwei Länder gegenseitig mit Atomwaffen bekämpfen, könnte zu einer weltweiten Hungersnot führen, wie diese neuen Forschungsergebnisse nahelegen.
"Hunger könnte ein Drittel der Erdbevölkerung töten", schreiben die Autorinnen und Autoren der genannten Studie, "und das schon als Folge eines Krieges zwischen Indien und Pakistan, bei dem weniger als drei Prozent des globalen atomaren Arsenals zum Einsatz kämen".
Wer sich näher mit dieser Problematik beschäftigen möchte, dem empfehle ich die aufschlussreiche Lektüre der oben genannten IPPNW-Studie.
Zehn Schlussfolgerungen:
1. Der Einsatz von Atomwaffen im Ukraine-Krieg wäre die ultimative Katastrophe. Diese muss unbedingt verhindert und darf von uns niemals zugelassen werden.
2. Je länger der Krieg in der Ukraine dauert, desto eher besteht die Gefahr, dass sich daraus ein dritter Weltkrieg entwickelt, in dem auch Atomwaffen zum Einsatz kommen könnten.
3. Damals, in den 1980er-Jahren, sind viele Ärztinnen und Ärzte, die für die Verhütung eines Atomkrieges eintraten, zusammen mit Tausenden von Demonstranten, auf die Straße gegangen, mit Schildern wie "Wir werden Euch nicht helfen können."10 Warum gibt es heute keine vergleichbaren Aktivitäten?
4. Falls es in der Ukraine tatsächlich zum Einsatz von Atomwaffen kommen sollte, wird der daraus resultierende Atomkrieg wahrscheinlich in einem doppelten Sinne nicht "begrenzt" bleiben.
So zeigt der neue IPPNW-Bericht "Nukleare Hungersnot", dass auch der Einsatz von nur einem kleinen Teil des vorhandenen Atomwaffenpotentials sich nicht "begrenzt" oder "regional" auswirken würde.
Und die Warnungen, z. B. des Atomwaffenexperten Postol, zeigen, dass sich aus dem Einsatz einer einzigen Atombombe im Kriegsgeschehen eine Dynamik entwickeln könnte, die nicht mehr zu kontrollieren ist und zu einem umfassenden finalen Atomkrieg führen kann.
5. Deshalb muss der Ukraine-Krieg so schnell wie möglich auf diplomatischem Wege mit Kompromissen vonseiten der Beteiligten beendet werden, bevor die Welt in ein Chaos gestürzt wird. Dazu gibt es verschiedene Vorschläge, z.B. Vorschläge aus der Friedensbewegung, die kürzlich vorgelegt wurden, oder auch detaillierte Vorschläge von einer Arbeitsgruppe um den deutschen UN-Diplomaten Michael von der Schulenburg und dem US-amerikanischen Ökonomen Jeffrey D. Sachs, die am 6. bis 7. Juni 2021 im Vatikan getagt hat.
Auch der Unternehmer und Milliardär Elon Musk hat kürzlich einen vernünftigen Vorschlag vorgelegt.
6. Das Problem ist jedoch, und das haben die Friedensverhandlungen im März/April in Istanbul leider gezeigt, dass die USA (und auch Großbritannien) derzeit gegen eine Verhandlungslösung sind, insbesondere gegen eine Neutralität der Ukraine.
Für den ehemaligen UN-Diplomaten Michael von der Schulenburg ist die Festschreibung der Neutralität der Ukraine aber die Schlüsselfrage für eine Friedenslösung, wie er in seinem jüngsten Artikel mit dem Titel "In der Ukraine muss es darum gehen, den Frieden und nicht den Krieg zu gewinnen" in den Nachdenkseiten schreibt.11
7. Waffenlieferungen aus Deutschland (und anderen Ländern) können den Krieg in der Ukraine dagegen nur verlängern und dazu beitragen, dass das Sterben von Ukrainern und Russen und die Zerstörungen weitergehen und die von dort ausgehende nukleare Bedrohung auch des Lebens von uns allen weiter anhält.
8. Nach einer jüngsten Umfrage befürworten 77 Prozent der Bundesbürger, dass der Westen, und damit vor allem auch unsere Bundesregierung, Verhandlungen über eine Beendigung des Krieges in der Ukraine anstoßen sollte.12
9. In den letzten Wochen hat sich der Ukraine-Konflikt noch weiter zugespitzt. In einem Artikel vom 5. Oktober im Wirtschaftsmagazin Makroskop warnt der schon genannte US-Starökonom Jeffrey D. Sachs13:
Wir stehen erneut am Rande einer nuklearen Katastrophe. Der Krieg in der Ukraine droht zum nuklearen Showdown zu werden. Sowohl die USA als auch Russland müssen dringend Zurückhaltung üben, bevor es zur Katastrophe kommt.
Weiter sagt er, Russland werde nötigenfalls die Situation eskalieren lassen, möglicherweise bis hin zu Atomwaffen, um eine militärische Niederlage und die fortgesetzte Osterweiterung der Nato zu verhindern. Die nukleare Drohkulisse sei ernst zu nehmen, denn sie zeige, wie sehr die russische Führung ihre Sicherheitsinteressen gefährdet sieht.
Er stellt auch fest, erschreckenderweise seien auch die USA in der Kuba-Krise zum Einsatz von Atomwaffen bereit gewesen, und ein hoher ukrainischer Beamter habe die USA kürzlich aufgefordert, einen Atomschlag zu führen, "sobald Russland auch nur daran denkt, einen präventiven Atomschlag zu wagen". Das sei sicherlich ein Rezept für den dritten Weltkrieg, urteilt Sachs.
In einem Video-Interview einige Tage vorher äußerte er sich ebenso dramatisch
10. Von Caitlin Johnstone, einer bekannten unabhängigen australischen Journalistin, stammt die folgende nachdenkenswerte Einschätzung der Situation, in der sich die Welt jetzt befindet, auf die ich zum Schluss noch hinweisen möchte 14:
Für jüngere Menschen ist es schwer zu verstehen, dass das gleiche nukleare Armageddon-Szenario, über das sich ihre Eltern und Großeltern früher Sorgen gemacht haben, immer noch existiert.
Wenn jedoch eine kritische Masse der Bevölkerung wirklich verstehen würde, dass ihr Leben aus keinem anderen Grund als der Bereitschaft des US-Imperiums, alles zu riskieren, um ihre Hegemonie, d. h. ihre weltweite Vorherrschaft auf dem Planeten, zu sichern, durch einen Atomkrieg bedroht ist, würde es für die Machthaber sofort schwieriger werden, mit ihr so umzugehen, wie sie es wollen.
Klaus-Dieter Kolenda, Prof. Dr. med., Facharzt für Innere Medizin – Gastroenterologie, Facharzt für Physikalische und Rehabilitative Medizin/Sozialmedizin, war von 1985 bis 2006 Chefarzt einer Rehabilitationsklinik für Erkrankungen des Herz-Kreislaufsystems, der Atemwege, des Stoffwechsels und der Bewegungsorgane. Seit 1978 ist er als medizinischer Sachverständiger bei der Sozialgerichtsbarkeit in Schleswig-Holstein tätig. Zudem arbeitet er in der Kieler Gruppe der IPPNW e.V. (Internationale Ärztinnen und Ärzte für die Verhinderung des Atomkriegs und für soziale Verantwortung) mit. E-Mail: klaus-dieter.kolenda@gmx.de
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