Ukraine-Krieg: Ist die Eroberung von Awdijiwka ein Wendepunkt?
Die zweite russische Winteroffensive und die Verteidigung der Ukraine: Welche Optionen hat sie? Wie sehen die Strategien aus? Fragen an Oberst Markus Reisner.
Markus Reisner ist ein von Medien viel gefragter Militärexperte. Der Oberst des Generalstabsdienstes des österreichischen Bundesheers hat praktische Erfahrung.
Er war fast ein Jahrzehnt bei österreichischen Spezialkräften (Jagdkommando) tätig. Zugleich arbeitet er als Militärhistoriker und ist Vorstandsmitglied des Clausewitz Netzwerks für Strategische Studien.
Telepolis-Autor Lars Lange fragte den Experten nach seiner derzeitigen Einschätzung der Lage in der Ukraine und den Möglichkeiten, die das angegriffene Land hat.
Im schlimmsten Fall wird ein Dominoeffekt ausgelöst
Sehen wir mit dem Fall von Awdijiwka einen Wendepunkt im Ukraine-Krieg?
Markus Reisner: Für diese Bewertung ist es noch zu früh. Was wir jedoch sehen ist, dass die zweite russische Winteroffensive immer mehr zugunsten der russischen Streitkräfte kulminiert. Dies ist im Gegensatz zu 2022/23 möglich, da die Ukraine immer mehr unter massiven Versorgungsschwierigkeiten leidet.
Im Moment fehlt vor allem die wichtige Artilleriemunition vom Kaliber 122, 152 und 155 mm. Ohne diese ist es kaum möglich, die russischen Artilleriegruppierungen nachhaltig zu unterdrücken. Diese zerschlagen nun massiert die ukrainischen Stellungen.
Im schlimmsten Fall löst ein daraus resultierender einzelner Einbruch einen Dominoeffekt und russischen Durchbruch aus.
Die Gebiete hinter den Festungen
Russland rückt auch an anderen Abschnitten vor. Hat die Ukraine genügend Verteidigungsstellungen im Hinterland gebaut, um russische Truppen weiter aufhalten zu können?
Markus Reisner: Russland rückt an insgesamt 15 Stellen vor, zum Teil gelangen in den letzten vier Wochen Einbrüche bis zu sechs Kilometer. Der Kampf verläuft deswegen so zäh und gefühlt langsam, weil z.T. immer noch in der von der Ukraine seit 2014 ausgebauten ersten und zweiten Verteidigungsstellung gekämpft wird.
Städte wie Awdijiwka und deren Umgebung wurden ab 2014/15 jahrelang zu Festungen ausgebaut. Das Gebiet dahinter in Richtung Westen und Dnepr ist jedoch nicht derart gut vorbereitet.
Die Ukraine versucht dies seit dem Herbst 2023 zu tun, jedoch unter enormen Zeitdruck und unter ungünstigen klimatischen Bedingungen.
Russische Gleitbomben: Gewünschte Narration und Realität
Allein in Awdijiwka setzt die russische Luftwaffe teilweise über 100 FAB/KAP Gleitbomben pro Tag ein. Wie ist deren Auswirkung auf Abwehrstellungen zu bewerten? Verändern diese Bomben den Kriegsverlauf? Hat die Ukraine ein Gegenmittel?
Markus Reisner: Hier sehen wir das klassische Problem, dass wir durch die eigenen Maßnahmen im Informationsumfeld keinen objektiven Blick auf die Frontlage haben.
Selbst die oft zitierten Berichte des britischen Nachrichtendienstes, welche sich klar einer gezielten Informationsoperation zuordnen lassen, berichten mittlerweile davon, dass alleine in den letzten vier Wochen über 600 FAB UMPK Gleitbomben in Awdijiwka eingesetzt wurden.
Obwohl monatelang berichtet wurde, die russische Luftwaffe sei kaum im Einsatz. Nun holt uns die Realität ein. Ohne eigene potente Luftstreitkräfte und frontnahe Fliegerabwehr, kann sich die Ukraine kaum zur Wehr setzen.
"Die Ukraine zwingen, ihre kostbaren Reserven auszuspielen"
Welche russische Strategie lässt dich aus den vergangenen Monaten heraus destillieren? Was hat die Ukraine jetzt nach dem Verlust ihrer stärksten Festung an der Front zu erwarten?
Markus Reisner: Wir befinden uns in der Phase 6 dieses Krieges, der zweiten russischen Winteroffensive. Nach der gescheiterten ukrainischen Sommeroffensive liegt das Momentum nun bei den Russen.
Die Russen versuchen durch viele gleichzeitige Angriffe die Ukraine zu zwingen, ihre kostbaren Reserven auszuspielen.
Gleichzeit ist es das russische Ziel, die Ukrainer stetig abzunützen in der Hoffnung, einen Dammbruch an einer günstigen Stelle der Front zu erzeugen. Dazu nimmt man hohe eigene Verluste in Kauf.
"Wer die meisten Ressourcen hat"
Sollten keine massiven Waffenlieferungen aus dem Westen mehr zu erwarten sein: welche Optionen bleiben der Ukraine jetzt noch?
Markus Reisner: Das hat die Ukraine bereits Ende 2023 angekündigt. Man geht in die Defensive und versucht den eigenen militärisch-industriellen Komplex hochzufahren. Die entscheidende Frage ist dabei: Reicht diese Strategiekorrektur aus, um die Front im Osten zu halten und zu stabilisieren?
Wir dürfen nicht das Wesen eines Abnützungskrieges vergessen. Es geht hier nicht um Manöver und große Geländegewinne, es geht darum, wer die meisten Ressourcen hat und wer bereit ist, das größere Opfer zu bringen.
"Ukrainische Soldaten haben Geschichte geschrieben"
Wird die Ukraine genug neue Soldaten rekrutieren können, um ihre Verluste auszugleichen? Hat sie das Potenzial zu neue Offensiven in diesem Jahr?
Markus Reisner: Auch auf diese Frage hat die Ukraine eine Antwort gegeben. So hat der abgelöste General Saluschnyj klar darauf hingewiesen, dass weitere 500.000 Mann mobilisiert werden müssten. Diese hohe Zahl gibt auch einen Hinweis auf mögliche bisherige ukrainische Verluste an Toten und Verwundeten.
Viele Zehntausende ukrainische Soldaten stehen seit Februar 2022 und somit seit über 700 Tage an der Front. Sie leisten Unglaubliches, sie haben Geschichte geschrieben, aber sie sind erschöpft und die Bürde des laufenden Kampfes lastet schwer auf ihren Schultern.
Eine neue Offensive hat die Ukraine für 2024 ausgeschlossen und erst für 2025 in Aussicht gestellt. Der Weg dorthin ist lange, blutig, voller Ungewissheit und beeinflusst von vielen externen Faktoren (z.B. der militärischen Unterstützung des Westens, den Präsidentenwahlen in den USA, der militärischen Ressourcenaufbringung in Russland usw.).