Ukraine-Krieg: "Lukaschenko wäre lieber neutral"
Putins Macht über den belarussischen Präsidenten, die Handlungsspielräume Weißrusslands und die Spaltung der Gesellschaft - Interview mit Artjom Schrajbman
Der belorussische Politologe Artjom Schrajbman hat eine gefährliche Zeit hinter sich. Im letzten Jahr musste er als Mitarbeiter der damals verbotenen oppositionsnahen Zeitung tut.by mit seiner Familie aus Belarus in die Ukraine fliehen, um einer Verhaftung zu entgehen (vgl. "Lukaschenko hat Moskau keine 'prorussischen' Alternativen hinterlassen").
Wegen der russischen Invasion der Ukraine geht seine Flucht nun weiter. Über Ungarn gelangte er nach Polen. Dort sprach Telepolis mit dem bekannten Kenner der weißrussischen Politik und Gastexperten des Carnegiezentrums Moskau über die aktuellen Vorgänge in seinem Land.
Weißrussland dient aktuell als Stützpunkt für russische Truppen im Krieg gegen die Ukraine. Spielen Lukaschenko und seine Regierung diese Rolle notgedrungen oder mit Begeisterung?
Artjom Schrajbman: Ich denke, dass Lukaschenko diese Rolle unter Zwang spielt. Ich glaube nicht, dass er sich damit wohl fühlt. Als Beleg für diese Auffassung dienen mir zwei Dinge. Zum einen versucht er, wenn man seine Rhetorik der letzten zwei bis drei Wochen anschaut, sich als eine Art neutraler Spieler zu präsentieren.
Er meint, er sei nur für den Frieden, organisiere eine Verhandlungsplattform, kein einziger belorussischer Soldat werde irgendwohin gehen und mit den Russen in den Kampf ziehen. In einem kürzlichen Interview mit einem Medium aus Japan sprach Lukaschenko sogar direkt von einer Neutralität, so absurd das klingt. Es ist klar, dass all diese Aussagen leere Rhetorik sind.
Aber sie zeigen, dass Lukaschenko in diesem Konflikt lieber neutral wäre, aber nicht mehr sein kann, da er im Wesentlichen die militärische Souveränität und Kontrolle über sein Territorium wegen der Präsenz russischer Truppen verloren hat. Ich bin mir sogar sicher, dass er nicht gewarnt wurde, dass ein Krieg in dieser Form stattfinden würde.
Zum anderen belegt die aktuelle weißrussische Propaganda, dass Lukaschenko seine Rolle peinlich zu sein scheint. Sie vertuscht die Tatsache, dass Raketen von Belarus aus auf die Ukraine abgefeuert werden. Ihr ganzer Fokus liegt darauf, dass Weißrussland den Frieden wolle, für Verhandlungen sei und ein schnelles Ende des Kriegs.
Wenn Begeisterung herrschen würde, würde man sich mit dieser Begeisterung an der russischen Militäraktion beteiligen, wäre stolz darauf, würde das rechtfertigen und nicht so vertuschen. So ist Lukaschenko in einer für ihn unangenehmen Rolle - aber was kann er dagegen tun?
Er kann den russischen Truppen nicht sagen, dass sie abziehen sollen, weil er inzwischen zu abhängig von Russland ist. Er kann nicht mehr mit dem Westen über Garantien für sein eigenes Regime verhandeln, da dieses eigene Regime schon lange vor dem Krieg zur Unperson wurde.
Im Westen gab es ja schon vor dem Krieg die Meinung, Lukaschenko sei nur eine Marionette Putins. Im Russland hingegen glaubten einige Experten, das eigene Land sei eher eine Geisel Lukaschenkos, da er der einzige Garant für ein russlandfreundliches Belarus ist. So müsse man all seine Launen tolerieren. Zeigt der Krieg jetzt, dass die erste Auffassung stimmt?
Artjom Schrajbman: Ich denke, dass seit 2020 Lukaschenkos Autonomie in den Beziehungen zu Russland und auch zum Westen konsequent reduziert wurde. Diese Entwicklung bedeutet jedoch nicht, dass er eines Tages als Marionette aufgewacht ist oder vorher nicht im Entferntesten eine war. Es war eine Entwicklung, die nun 2022 ihr logisches Ziel erreicht hat. Aber diese beiden extremen Standpunkte lehne ich beide ab.
Lukaschenko war immer abhängig, der Grad der Abhängigkeit hat sich geändert. Er hat oft, aber erfolglos versucht, diese Abhängigkeit zu reduzieren. Er hing zu sehr an der Macht und nahm sich dadurch selbst die Möglichkeit zum Ausgleich. So lag die Wahrheit lange irgendwo in der Mitte, aber jetzt bewegt er sich auf die Puppe zu.
Das ist jedoch auch keine statische Position, die für immer so bleibt. Bei einigen Szenarien ist mit einer Schwächung von Russland selbst und seiner Militärmaschinerie zu rechnen und diese Szenarien sind durchaus möglich. Hier könnte Lukaschenko wieder versuchen, auszusteigen.
Aber im Moment hat er sehr wenig Handlungsspielraum. Er kann Russland keine so ernsthaften Probleme machen, die mit großen Qualen verbunden wären. Er ist nicht immer ein bequemer Gesprächspartner, hält Versprechen nicht ein, redet viel, aber er garantiert Russland auch die Erfüllung strategischer Interessen, wie wir gerade eben sehen.
Für Putin sind Fragen von Krieg und Frieden, Fragen der Sicherheit und Geopolitik viel wichtiger als Fragen der Ökonomie. So war es für ihn nicht so beängstigend, Lukaschenko ertragen zu müssen. Er ist für Putin das kleinere Übel im Vergleich zu einem anderen, vielleicht weniger loyalen oder kontrollierbaren Führer von Belarus.
Bei der Kriegsschuld ist die Meinung der Weißrussen gespalten
Auch in Weißrussland gab es Proteste gegen den Krieg. Was wollen und denken "normale" Belorussen im Bezug auf diesen Krieg? Wo liegen ihre Sympathien?
Artjom Schrajbman: Um diese Frage beantworten zu können, müsste man Umfragen durchführen. Umfragen sind aber in Weißrussland fast unmöglich. Der einzige Anbieter, der es mehr oder weniger häufig versucht, ist Chatham House. Sie machen Onlinebefragungen und versuchen, sie repräsentativ auszuwerten, zumindest im Bezug auf die Meinung der städtischen Bevölkerung im Land.
Diese macht fast 80 Prozent der Einwohner von Belarus aus. Nach diesen Ergebnissen gibt es eine Spaltung der Gesellschaft in zwei etwa gleich große Teile in Bezug auf die Meinung, wer beim Krieg im Recht ist und wer an ihm Schuld hat - Ukrainer oder Russen.
Nur in Bezug auf die Beteiligung der Weißrussen selbst an diesem Krieg gibt es einen Konsens, bei dem die große Mehrheit der Leute, in jedem Fall über 90 Prozent, dagegen ist, Weißrussen in den Krieg zu schicken. Vielleicht erhalten wir bald neue Erkenntnisse. Chatham House plant eine neue Phase dieser Studie und es soll auf deren Homepage frische Zahlen geben.
Wegen des Krieges verschwand die Situation in Belarus selbst aus den internationalen Schlagzeilen. Zuletzt hörte man von dort über harte Repressionen gegen Oppositionelle. Hat sich das geändert?
Artjom Schrajbman: Die Repressalien gehen natürlich weiter. Ebenso die Prozesse gegen Journalisten. Erst kürzlich wurden mehrere bekannte Presseleute wegen ihrer Arbeit zu Haftstrafen verurteilt: Der Chefredakteur von Nascha Niwa, Jegor Martinowitsch, und Oleg Grusdilowitsch, ein Journalist von Radion Liberty, wurden zu eineinhalb und zweieinhalb Jahren Haft verurteilt.
Leute, die gegen den Krieg protestierten, wurden zu Hunderten festgenommen. Weiterhin gab es in den vergangenen Monaten wieder Berichte über Misshandlungen von Gefangenen. Angesichts der Tatsache, dass es vor dem Krieg schon fast eintausend politisch Inhaftierte gab, sagt das viel aus über das recht große Ausmaß der Antikriegsproteste.
Denken Sie, dass Präsident Putin nach der aktuellen Offensive auch die Union von Belarus und Russland in Richtung eines einheitlichen gemeinsamen Staates vorantreibt?
Artjom Schrajbman: Hier ist es schwierig zu sagen, was Putin weiter tun wird. Ich glaube, dass für ihn jetzt das Vorantreiben dieser Union von Belarus und Russland oder die Schaffung eines solchen Staates keine Priorität hat.
Weißrussland erfüllt ja auch so seine wichtigsten Anforderungen. Es ist nicht sinnvoll, hier irgendetwas zu erzwingen. Belarus wird sowohl von den Russen als auch von ihrer herrschenden Elite als kontrolliertes Territorium wahrgenommen. So besteht für Putin keine Notwendigkeit, die Führer von Weißrussland zu überfordern oder sie noch mehr zu unterwerfen.
Darüber hinaus ist es unklar, wie stark die russische Regierung nach der aktuellen Phase sein wird, wie ihre finanziellen und militärischen Ressourcen sind, um Druck auf Belarus auzuüben oder es für eine Vereinigung zu bestechen. Immerhin ist das ein recht teures Vergnügen, ein Land mit zehn Millionen Einwohnern, dem man für eine Vereinigung etwas bieten muss.
Diese können so etwas aktuell wenig brauchen, alle früheren Umfragen unter den Weißrussen deuten darauf hin, dass sie den Zusammenschluss der beiden Länder ablehnen. Die Frage ist, wie die weißrussischen Behörden ihre Beziehungen zu Russland und der Integration weiter stricken werden?
Denn die Weißrussen benötigen für die Sanktionen, von denen sie mitbetroffen sind, eine gewisse Entschädigung und Putin wird solche wohl an einige Bedingungen in Bezug auf die Kontrolle über strategische Wirtschaftsbereiche knüpfen.
Da wird es wohl eine Art von Feilschen geben, sind doch jetzt schon die meisten Bereiche der belorussischen Wirtschaft vollständig von Russland als Absatzmarkt abhängig und von der Ukraine und dem Westen abgeschnitten. Hier ist die Position des Kreml recht stark. Aber nicht mit dem Ziel einer Vereinigung der Staaten, sondern dem einer wirtschaftlichen engen Vernetzung.