Ukraine-Krieg: Macron warnt vor einem Sieg Russlands

Emmanuel Macron (März 2022). Bild: Shutterstock

Wenn Putin militärisch gewinne, müsse Europa existenzielle Folgen fürchten. Rote Linien als falsche Strategie: Die politische Wette des französischen Präsidenten.

"Russland darf nicht siegen", lautet Macrons Kernsatz. Darum drehten sich seine Äußerungen gestern im Interview, übertragen von den französischen Fernsehsendern France 2 und TF1. Die präsidiale Botschaft zur prime time um 20 Uhr: Es darf keine roten Linien für die Verbündeten der Ukraine geben. Ein Game changer?

Wenn Russland im Ukraine-Krieg gewinnt, dann habe das existentielle Konsequenzen für Europa und für die Bewohner Frankreichs, warnte Macron. Wie die Folgen eines russischen Sieges in ihrer Wirklichkeit genauer aussehen könnten, präzisierte er den neun Millionen Zusehern (43 Prozent Marktanteil) aber nur vage.

Er bevorzugte die großen Linien. Dass "sich das Leben der Franzosen ändern" werde.

Wir werden keine Sicherheit mehr haben.

Und:

Wenn Russland diesen Krieg gewinnt, wird die Glaubwürdigkeit Europas auf null sinken.

Das würde auch die Nato angehen. Reflexionen darüber, wie Konsequenzen für das westliche Verteidigungsbündnis aussehen könnten, die ein militärischer Erfolg der russischen Armee in der Ukraine nach sich ziehen würden, sparte Macron allerdings gänzlich aus.

Die innenpolitische Kampfzone

Es kam ihm, dem Kommunikation als Übergefährt der Politik gilt - "Macron ist Kommunikation, nichts als Kommunikation", sagt sein Biograf (SZ) - auf einen grundsätzlichen Drive an. Der richtet sich innenpolitisch gegen Le Pens Partei Rassemblement national.

Macron zieht vor der Europawahl eine Linie, die im Wahlkampf damit argumentieren kann, wer für und wer gegen Russland ist.

Außenpolitisch: Geschichtlicher Akteur sein

Außenpolitisch baut Macron auf einen Prestigegewinn, nach dem Motto, bestimmte Momente in der Geschichte tragen das Risiko, dass man verschwindet, verschaffen aber anderseits die Gelegenheit, sich hervorzutun. Man darf nicht vergessen, dass in Frankreich das Münchner Abkommen von 1938 mit Hitler ein historisches Trauma ist

So schwingt sich der Präsident als starker europäischer Leader auf. Mit dem Appell, dass sich die Europäer angesichts eines Krieges in nächster Nähe auf Stärke besinnen sollen. Putin soll in Moskau klare Signale einer Bereitschaft hören, die sich nicht a priori auf den bisherigen Einsatz der militärischen Unterstützung beschränkt.

Die Frage nach der Entsendung von Truppen

Ob er dazu auch französische Truppen in die Ukraine entsenden wolle, lautete die erste Frage der Moderatorin, gleich mit der Tür ins Haus also. Macron hatte solches kürzlich angedeutet und Wirbel gemacht.

Nicht nur in der Nato fragte man sich, wie diese Kommunikation zu bewerten ist, es gab sofort Gegenwind, von Scholz und anderen. Teile der Öffentlichkeit waren geschockt. Die Angst vor einer Eskalation, vor einem Dritten Weltkrieg war neu angefacht.

Macron antwortete rhetorisch, verrätselt, gab gleich am Anfang eine Stilprobe ab: "Stehen Sie? Nein. Schließen Sie aus, dass Sie am Ende dieses Interviews aufstehen? Ich bin sicher, dass Sie das nicht ausschließen."

Was heißt das? Die augenblickliche Lage sagt nichts darüber, wie die Lage später sein wird? Es gibt Wahrscheinlichkeiten. Man muss und kann nicht alle Optionen bereden.

Moskau soll abgeschreckt werden

Dass in der Diskussion im Westen konkret zu viel öffentlich darüber ausgepackt wurde, was man nicht vorhaben soll, wo rote Linien gezogen werden, markiert Macron als fatalen Fehler, als Schwäche der Rhetorik gegenüber Russland.

Man müsse andere Signale senden. Moskau soll abgeschreckt werden, nicht besänftigt durch einen Westen, der unentschieden und uneins mit roten Linien hadert, die er dann irritiert durch den Kriegsverlauf wieder aufgibt.

Das ist die vollkommen falsche Strategie, so die Prämisse des Putin-Experten Macron, der sich vom Gesprächspartner zum entschiedenen Gegner des russischen Präsidenten gewandelt hat. Le Monde fasst zusammen:

Diejenigen, die dem Engagement zur Unterstützung der Ukraine "Grenzen setzen", "entscheiden sich nicht für den Frieden, sondern für die Niederlage". "Sie entscheiden sich für die Aufgabe von Souveränität, weil sie sich jetzt schon dafür entscheiden, zu sagen: Wir haben Grenzen."

Macron, zitiert von Le Monde

Mehr Munition, mehr Waffen, mehr Geld

Gänzlich ausgespart hat er Konkretes nicht, was Hilfsankündigungen – und versprechen angeht. Man sei am 24. Februar 2022 unvorbereitet von Russlands Angriff auf die Ukraine getroffen worden, jetzt ist die Lage anders, so Macron.

Zusagen, die in den letzten Tagen zuvor schon kursierten: mehr Munition, mehr Kriegsgerät und Geld.

Emmanuel Macron schließt die Aufnahme von Krediten zur Finanzierung der Hilfe für die Ukraine nicht aus. "Ich denke, wenn der Bedarf größer sein sollte, das ist übrigens ein Vorschlag, der von der Premierministerin von Estland gemacht wurde (...), dann stimme ich dem zu."

Macron, zitiert von Le Monde

Was ändert sich nach der Rede?

Was Truppen von Unterstützerstaaten angeht: Selbst hypothetisch vorausgesetzt, dass Macron den klaren Widerstand unter Verbündeten irgendwie erweichen könnte, gäbe es, über sämtliche – und immense – Risiken hinaus, die damit verbunden sind, noch die Frage, wie viele Truppen nötig wären, um die militärische Übermacht der russischen Armee, die im Ukraine-Krieg viel Kampferfahrung gesammelt hat, zu brechen.

Dass ein "all-in" der Nato als eine Art ultimative Option übrig bleiben könnte, deutete der österreichische Militäranalyst Oberst Reisner schon vor Jahresfrist an. Dieser Begriff suggeriert einen Einsatz mit einiger militärischer Wucht. Dass er realisiert werden könnte, danach sieht es aber auch Anfang 2024 nicht aus.

Eine Aufstockung von westlichen Spezialtruppen, die sich angeblich bereits in der Ukraine aufhalten sollen, erscheint möglich. Dass sie einen militärischeren Sieg gegen russische Armee herbeiführen könnten, erscheint sehr spekulativ.

Aus den USA verlauten Äußerungen, die für eine Strategie sprechen, die sie unterstützen könnten. Nicht mehr der Sieg steht da im Vordergrund, sondern ein Vorgehen, das die Kriegskosten für Russland unerträglich hochtreibt: Vernichtung von teurem Kriegsgerät, wie Schiffe und Flugzeuge, Angriffe auf die Krim, auf Munitionsdepots sowie Angriffe auf russisches Terrain, um der Bevölkerung dort vor Augen zu führen, was Krieg bedeutet.

Von einer solchen Strategie sprach Macron aber nicht. Seine Äußerungen waren strategische Kommunikation. Es ist ein Appell an die Moral. "Wir brauchen keinen Pessimismus", sagte neulich Florence Gaub, Forschungsdirektorin der Nato-Militärakademie, bei der Lanz-Talkshow angesichts einer Situationsbeschreibung, wonach die Ukraine mit dem Rücken zur Wand stehe.

Macron erkennt in der Hebung der Moral seine Möglichkeiten, wobei Moral auch einschließt, die Wirtschaft auf eine stärkere Produktion von Kriegsgütern einzustimmen.

Die Anpassung der Wirtschaft und Zusagen für weitere Hilfspakte dürfte der konkrete gemeinsame Nenner sein, auf den sich Scholz, Tusk und Macron beim heutigen Weimarer-Dreiecks-Treffen neben moralischen Appellen beim Fototermin einigen können (nicht zu unterschätzen ist jedoch im Hintergrund die wirtschaftliche Konkurrenz zwischen Deutschland und Frankreich).

Anderes Spruchreifes wäre eine große Überraschung.

Macrons Glaubwürdigkeit

Macron ist ein Präsident, der in Frankreich viel von seiner Glaubwürdigkeit eingebüßt hat: "Monsieur Blah Blah" heißt in einem Porträt, das nicht von einem Gelbwesten-Autor geschrieben wurde.

Er ist ambitioniert: Er will ein gutes Bild abgeben und die rechten Nationalisten, die als Entdiabolisierte im Nachbarland auf einer Erfolgswelle populären Zuspruchs sind, vor der Europa-Wahl in die Schranken weisen. Das geht, wie es eine klassische politische Orthodoxie behauptet, über die Bühne der Auspolitik.

Allerdings: Laut einer Umfrage Ende Oktober sprachen sich 76 Prozent der befragten Französinnen und Franzosen strikt ablehnend gegen Idee einer Truppenentsendung aus.