Ukraine-Krieg: Russische Armee rückt im Donbass vor

Seite 2: Strategische Ziele

Mit großer Wahrscheinlichkeit lässt sich jedoch behaupten, dass die Eroberung Charkows angesichts der kleinen russischen Streitmacht nicht das Ziel der russischen Führung gewesen sein kann.

Vielmehr lassen sich zwei Operationsziele annehmen. Einmal, die ukrainische Armee im Raum Charkow zu binden.

Die ukrainische Führung hat keine strategischen Reserven mehr zur Verfügung, Truppenteile müssen aus anderen Frontabschnitten herausgelöst werden, und genau dies ist passiert, so lassen sich auch zu einem gewissen Teil die Erfolge der russischen Armee im Donbass erklären.

Zum anderen verfolgt die russische Führung nicht das strategische Primärziel von Gebietseroberungen, sondern die russische Führung führt einen Abnutzungskrieg, bei der Gebietseroberungen nicht im Fokus sind.

Vielmehr geht es darum, der generischen Partei einen möglichst hohen Schaden zuzufügen bei gleichzeitiger Schonung der eigenen Kräfte.

Zwar wird weiterhin in einigen Medien das Nato-Narrativ von russischen "Fleischangriffen" verbreitet. Ob diese stattfinden, ist eine offene Frage, die der Autor nach seiner Einschätzung der russischen Vorgehensweise verneint.

Seine Argumente: Die Charkow-Offensive wäre ein gutes Beispiel für die Angriffstaktik der russischen Führung, die man als das Schaffen von Niedrigintensitäts-Angriffsräumen beschreiben könnte, in der nur wenige eigene Truppen eingesetzt werden und stattdessen auf die Wirkung überlegener Fernwaffen wie Artillerie, Raketenartillerie und die Gleitbombenkampagne gesetzt wird.

In diesem Zusammenhang kann man einen neuen Forbes-Bericht aus der vorigen Woche lesen, der die russischen Artilleriestreitkräfte als die stärksten der Welt beschreibt:

Inzwischen verfügt das russische Militär über mehr Artillerie als jedes andere Militär der Welt und hat dreimal mehr Artilleriegeschütze als das Militär der Vereinigten Staaten.

Forbes

Zudem habe Russland die Möglichkeiten, seine hohe Feuerrate von 10.000 Artilleriegranaten pro Tag allein durch die eigene Produktion aufrechtzuerhalten:

Darüber hinaus verfügt die russische Rüstungsindustrie über ein robustes Versorgungsnetz für die Herstellung von Artilleriegeschossen und hat nach Schätzungen des NATO-Geheimdienstes, über die CNN berichtet, eine Produktionskapazität von 250.000 Stück pro Monat, die mit der Verbrauchsrate des Militärs mithalten kann.

Forbes

So zeigt sich in der Rede vom russischen Scheitern der Operationen im Bereich Charkow derzeit mehr ein Wunsch als die Realität.

Das Gesamtkonzept eines Abnutzungskrieges, der im Kern ein Produktionskrieg ist, umfasst außerdem wesentlich die strategische Luftkampagne, die darauf abzielt, die Regenerationsfähigkeit der ukrainischen Armee zu unterbinden.

Ausblick: Lage der Ukraine bleibt sehr schwierig

Die Lage der Ukraine ist weiterhin verzweifelt, und das trotz der mit großer Hoffnung erwarteten neuen Waffenhilfe durch die Nato. Trotz Milliarden an westlicher Militärhilfe gelingt es den ukrainischen Streitkräften nicht, das Vorrücken der russischen Armee aufzuhalten.

An dieser Stelle kann man nach der Wirkung der Wunderwaffen, Atacms, Storm Shadow, Scalp oder Himars fragen, die das Kriegsglück zugunsten Kiews wenden sollten. Es gibt nur noch wenig dokumentierte Erfolgsmeldungen über Einsätze dieser Waffen, trotzdem vor allem neue Himars und Atacms geliefert wurden.

Die Situation scheint sich nicht verändert zu haben, seit diese Waffen auf russisches Gebiet zum Einsatz gebracht werden dürfen – ein messbarer Erfolg ist bisher gänzlich ausgeblieben.

Auch neu versprochene Flugabwehr zeigt keinerlei offensichtliche Wirkung, die strategische Luftkampagne Russlands geht unvermindert weiter.

Sollten Städte wie Wuhledar, Niu-York oder Torezk in die Hände der russischen Armee fallen, würde das nicht nur den Verlust von gut ausgebauten Verteidigungsstellungen bedeuten, sondern auch einen nicht zu unterschätzenden moralischen Effekt auf die Truppen Kiews haben.

Die ukrainische Führung signalisiert deswegen überraschend Gesprächsbereitschaft mit Russland. Das sind Signale, die in der Vergangenheit ausgeblieben sind.

Der Guardian zitiert den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj mit den Worten, dass russische Vertreter an einem zweiten Friedens-Gipfel teilnehmen sollten.

Ob sich Russland angesichts der eigenen militärischen Erfolge und der Unnachgiebigkeit der USA gegenüber russischen Sicherheitsinteressen tatsächlich verhandlungsbereit zeigen wird, kann bezweifelt werden.