Ukraine-Krieg: Russische Luftangriffe als Vorbote der entscheidenden Konfrontation?

Luftabwehr in der Ukraine. Bild: pararazzza, Shutterstock.com

Mit intensiven Luftschlägen signalisiert Russland möglicherweise den Start einer Großoffensive. Wie weit reichen militärische Erfolge der Ukraine?

Während es seit Monaten nahezu tägliche Angriffe mit Langstreckendrohnen des Typs Geran-2 auf das Staatsgebiet der Ukraine gibt, hat Russland seit der Nacht vom 20. auf den 21. März eine der intensivsten Raketenangriffe auf die Ukraine seit Beginn des Krieges begonnen.

Laut dem Weißen Haus handelt es sich gar um die massivsten Luftschläge gegen die Ukraine seit Beginn des Krieges vor zwei Jahren.

Anzeichen für Vorbereitung einer russischen Großoffensive

Das russische Verteidigungsministerium verlautbarte am vergangenen Freitag, dass die Luftschläge eine Vergeltung für die Operationen der ukrainischen Streitkräfte in der Grenzregion nahe der Stadt Belgorod seien. Doch das Ausmaß und die Komplexität der russischen Angriffe könnte eher ein Hinweis auf die Vorbereitung einer beginnenden Großoffensive der russischen Armee sein.

Zwar rücken die russischen Landstreitkräfte bereits seit Oktober unaufhörlich vor, doch erwartet die ukrainische Führung einen russischen Hauptschlag mit rund 100.000 Soldaten. So zitiert Business Insider den ukrainischen Generalleutnant Oleksandr Oleksijowytsch Pawljuk, seit 2024 Oberbefehlshaber des ukrainischen Heeres, mit den Worten:

Wir kennen die Pläne Russlands nicht in vollem Umfang. Wir kennen nur die verfügbaren Daten und wissen, was sie vorhaben. Sie stellen Gruppierungen auf - mehr als 100.000.

Generalleutnant Oleksandr Pawljuk im ukrainischen Fernsehen, Business Insider

Strategische Ziele der Luftangriffe

Ziele der fortlaufenden massiven Luftschläge scheinen Nachrichtendienste in Kiew, Fliegerhorste, Kommando- und Kontrollzentren, Aufmarschpositionen der ukrainischen Armee, Standorte der Rüstungsindustrie – hier vor allem wohl die der Drohnenfertigung, Stützpunkte ausländischer Söldner, Luftabwehrstellungen – und weiterhin die Energieinfrastruktur zu sein.

So seien etwa alle Kraftwerke und Umspannwerke in der Region Charkow (Kyiv Post) durch russische Angriffe ausgeschaltet worden. Insgesamt sollen mindestens über 7.000 MW Leistung vom Netz gegangen sein, wird vermutet. Zum Vergeich dazu liegt der Verbrauch Deutschlands tagsüber in der Spitze um rund 70.000 MW.

Neu sind Angriffe auf die ukrainische Gasinfrastruktur. Hier scheint möglicherweise ein Knotenpunkt und große unterirdische Gas-Speicheranlagen in der Nähe von Lemberg getroffen worden zu sein.

190 Raketen und 140 Geran-2 Drohnen

Laut dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj konnten die russischen Streitkräfte in der vergangenen Woche 190 Raketen und 140 Geran-2 Drohnen gegen die Ukraine zum Einsatz bringen. Zusätzlich seien 700 Gleitbomben durch die russischen Luftstreitkräfte eingesetzt worden.

130 Energieinfrastruktur-Einrichtungen waren nach Angaben des Kyiv Independent allein am 21. und 22. März Ziel der russischen Luftkampagne.

Die strategische Luftkampagne ist angeblich in der Nacht von gestern auf heute weitergegangen, mit Schlägen gegen die Energieinfrastruktur von Odessa und weiteren Zielen in der ukrainischen Hauptstadt Kiew.

Der größte private ukrainische Energieversorger DTEK hat allein am 22. März etwa 50 Prozent seiner gesamten Stromerzeuger-Kapazitäten verloren. Laut des zitierten Berichts des Kyiv Independent waren die Verteilernetze und Transformatoren Ziel einer weiteren Stoßrichtung des russischen Angriffs. Die Reparatur würde Monate benötigen.

Das Ausmaß des Problems

Die von Selenskyj kommunizierte Zahl von 700 eingesetzten Gleitbomben macht das Ausmaß des Problems der ukrainischen Fronttruppen deutlich. Die Gleitbomben treffen ihre Ziele sehr präzise und haben wahrscheinlich einen großen Anteil am stetigen Vorrücken der russischen Armee entlang der gesamten Frontlinie, können sie doch mit ihrer gewaltigen Sprengkraft ukrainische Verteidigungsanlagen neutralisieren.

Jetzt soll mit der Produktion der FAB-3000 eine Bombe mit einem Gesamtgewicht von drei Tonnen zur Verfügung stehen, die doppelt so schwer ist wie die bisherige 1,5-Tonnen-Variante FAB-1500. Die FAB-3000 soll ebenfalls durch einen Gleitrüstsatz zu einer Gleitbombe transformiert werden. Die neue FAB-3000 weist angeblich einen Explosionsradius von 900 Metern auf.

Russland hat aller Wahrscheinlichkeit nach alte Freifallbomben der FAB-Serie in größeren Mengen in seinen Arsenalen. Durch den archaisch wirkenden, wahrscheinlich sehr günstig herzustellenden Gleitrüstsatz mit dem Namen UMPK verwandelt es diese in eine Art Kurzstrecken-Marschflugkörper. Eine Reichweite von 70 Kilometern wird angenommen.

Russland: Neuer Gleitrüstsatz

Jetzt ist zusätzlich ein neuer Gleitrüstsatz mit dem Namen UMPB aufgetaucht, der über ein kleines Triebwerk verfügt und so die Reichweite noch einmal steigern kann. Zudem eliminiert er einen gravierenden Nachteil des bisherigen UMPK-Gleitrüstsatzes.

Die mit UMPK-Gleitrüstsätzen versehenen FAB-Bomben müssen zwingend durch ein Flugzeug zum Einsatz gebracht werden. Das Flugzeug dient als Plattform für die mächtigen Bomben, ohne Flugzeug können die Bomben nicht zum Einsatz gebracht werden. Das setzt die russischen Kampfflugzeuge der ukrainischen Flugabwehr aus.

Der neue UMPB-Gleitrüstsatz soll dagegen auch ohne Flugzeug vom Boden aus gestartete werden können, und zwar von Mehrfachraketenwerfersystemen der neuesten Generation wie dem russischen Tornado-S. Damit ähnelt die Waffe dem GLSDB-System der USA.

In der Folge könnten die russischen Streitkräfte zusätzliche Einsatz-Option bekommen, weil sie die Trägerplattform Flugzeug noch weiter hinter der Front belassen können, um frontnahe Ziele zu bekämpfen, oder noch weiter entferntere Ziele hinter der Front treffen zu können oder ein Mehrfachraketenwerfersystem als Startplattform zu nutzen und so weniger Reichweite der Gleitbombe in Kauf zu nehmen.

Die Reaktion der ukrainischen Verteidigung

Gegen die Gleitbomben mit dem bisher eingesetzten, passiven UMPK-Rüstsatz hat die Ukraine noch kein Gegenmittel gefunden, außer dem Versuch, die Trägerplattform Flugzeug zu bekämpfen.

Aufgrund der verheerenden Wirkung auf die ukrainische Front in den vergangenen Monaten durch den massenhaften Einsatz dieser Gleitbomben hat die ukrainische Führung die Entscheidung getroffen, wertvolle Flugabwehrkapazitäten von Städten und anderen strategisch wichtigen Punkten wie etwa Einrichtungen der Energieversorgung abzuziehen und in Frontnähe zu platzieren.

Das hat aber allem Anschein nach nur einen sehr begrenzten Erfolg gebracht. Zwar kommunizierte die ukrainische Führung beinahe täglich den Abschuss von gleich mehreren russischen Kampfflugzeugen. Doch ist fraglich, inwieweit dies vor allem eine Botschaft im "Informationsraum" war.

Denn der offenbar für die Kampagne verantwortliche Pressesprecher der ukrainischen Luftstreitkräfte, Yuriy Ignat, wurde vor gut einer Woche seines Amtes enthoben. Seitdem wurde kein russisches Flugzeug mehr abgeschossen.

Durch die frontnahe Positionierung von Luftverteidigungssystemen sind den ukrainischen Streitkräften mehrere Abschussvorrichtungen von Nasam- und Patriot-Batterien verloren gegangen.

Anzunehmen ist, dass die Flugabwehrsysteme jetzt bei der Bekämpfung der russischen Raketenangriffe fehlen – der bisherige Erfolg der russischen Angriffe dürfte auch mit der frontnahen Stationierung der teueren ukrainischen Luftabwehr eine Ursache haben.

Russische Angriffe mit zivilen Opfern

Auffällig ist, dass es bei der fortlaufenden russischen Luftkampagne kaum Todesopfer unter der ukrainischen Bevölkerung gibt. In der Vergangenheit führten russische Raketenangriffe immer wieder zu Todesopfern unter der Zivilbevölkerung. Westliche Medien deuteten dies denn auch als Angriffe auf die Zivilbevölkerung, allerdings verdeckt dies die strategischen Ziele hinter den Angriffen.

Zwar ist Russland wohl zurzeit weltweit der größte Hersteller von Raketentechnologie. Doch auch hier ist die Produktion naturgemäß begrenzt. Die russische Langstrecken-Raketen-Produktion wird laut einer Einschätzung von CNN auf ca. 115-130 pro Monat geschätzt, die Langstrecken-Drohnen-Produktion von Geran-2 Drohnen auf rund 300-350 pro Monat.

Bei den Zahlen, das muss man deutlich sagen, handelt es sich um Schätzungen. Auch wenn die Nato über eine äußerst fähige Aufklärung verfügt, weiß allein Russland, wie viele Rüstungsgüter es produziert. Anhand der Intensität der Raketen- und Drohnenangriffe auf die Infrastruktur der Ukraine kann von erheblichen russischen Produktionskapazitäten ausgegangen werden.

Die russischen Raketenstreitkräfte haben sehr konzentriert Schläge gegen die kritische Infrastruktur der Ukraine ausgeführt. Ein Angriff mit teuren Raketen gegen Wohnhäuser hätte nicht nur keinen militärischen Effekt, sondern würde sogar eine gegenteilige Wirkung hervorrufen.

Terrorangriffe gegen die Zivilbevölkerung stärken den Widerstandswillen eines Landes gegen die Aggressoren, eine Auswirkung, die für Russland nicht wünschenswert ist. Zudem würden Terroranschläge gegen zivile Objekte die russischen Nachkriegsperspektiven für eine wie auch immer geartete Transformation oder Integration, Einverleibung des ukrainischen Staatsgebietes erschweren.

Abwehrmaßnahmen

Wahrscheinlicher ist, dass Trümmer abgefangener Raketen, Drohnen oder ganze Abwehrraketen auf zivile Objekte gestürzt sind. Videoaufnahmen von abstürzenden ukrainischen Abwehrraketen finden sich im Netz.

Dass laut ukrainischen Angaben so wenig zivile Opfer bei den neuesten russischen Raketen- und Drohnenangriffen zu beklagen sind, könnte im Umkehrschluss deshalb auch bedeuten, dass die ukrainischen Streitkräfte nicht in der Lage waren, massiv Abwehrmaßnahmen einzuleiten.

Die Menge der Treffer an der kritischen Infrastruktur der Ukraine würde diesen Schluss tatsächlich zulassen. Das würde allerdings auch bedeuten, dass die ukrainischen Abwehrkapazitäten auf ein bedrohlich niedriges Maß gesunken sind, wie dies auch schon in der Vergangenheit hier angedeutet wurde.

Auffällig ist, dass anscheinend keine nordkoreanischen oder iranischen Raketen zum Einsatz gekommen sind, obwohl es größere Lieferungen ballistischer Raketen beider Länder an die Streitkräfte Russlands gegeben haben soll. Allein der Iran soll 400 ballistische Raketen geliefert haben.

Trotzdem die fortlaufenden russische Angriffe als die intensivsten seit Beginn des Krieges bewertet werden, wie oben dargestellt, würde Russland demnach noch über ein sehr großes Arsenal an Raketen verfügen.

Erfolge der ukrainischen Armee

Aber auch die Ukraine hat ihre Langstrecken-Angriffsmöglichkeiten stark ausgebaut. Forbes berichtet, dass es den ukrainischen Streitkräften gelungen ist, nicht weniger als 15 verschiedene Typen von Langstreckendrohnen in den Dienst zu stellen.

In der Vergangenheit wurde an dieser Stelle die Einschätzung weitergegeben, dass es für die ukrainische Industrie sehr schwierig sein würde, unter den Augen der russischen Angreifer eine leistungsfähige Waffen- und Drohnenindustrie aufzubauen.

Das scheint der Ukraine aber in den vergangenen Wochen und Monaten tatsächlich gelungen zu sein, die Einschätzung des Autors an dieser Stelle war also falsch. Tatsächlich gelingt es der Ukraine nicht nur, fast täglich Einrichtungen der russischen Ölindustrie zu treffen, vielmehr hat auch die FPV-Produktion ein für die russischen Fronttruppen bedrohliches Ausmaß angenommen, wie auf mehreren russischen Telegram-Kanälen berichtet wird.

Das erschwert den russischen Vormarsch deutlich und macht den Mangel an Artilleriemunition auf ukrainischer Seite zumindest in Teilen wett.

Mit Langstreckendrohnen nimmt die ukrainische Führung seit Wochen die Raffineriekapazitäten der russischen Ölindustrie ins Visier. Die durch die ukrainischen Drohnen zerstörten Raffinerie-Anlagen sind von Russland nur schwer zu ersetzen.

Laut Bloomberg konnte die ukrainische Drohnenkampagne bereits bis zu 14 Prozent der russischen Raffinerie-Kapazitäten vom Netz nehmen.

Die Wirkung auf Russland

Das scheint aber bislang die militärischen Fähigkeiten der russischen Streitkräfte nicht spürbar zu schmälern. Und die Angriffe schmälern auch bislang nicht die Einkünfte Russlands durch das Ölgeschäft.

Es hat den Eindruck, dass dies sogar zumindest zwischenzeitlichen ökonomischen Paradoxon führt, da die Einnahmen des russischen Staates über die Ölexporte nach den ukrainischen Angriffen auf die russische Ölinfrastruktur sogar noch steigen.

Die Überlegungen der strategischen Führungsebene der Ukraine waren sicher, dass ein fortgesetzter Angriff auf russische Raffinerien die Kraftstoffzuteilungen an das russische Militär einschränken würde. Ob das bisher gelungen ist, bleibt offen. Einiges spricht dagegen.

Denn selbst wenn tatsächlich 14 Prozent aller Raffinerie-Kapazitäten ausgeschaltet worden sind, reichen die Restkapazitäten, um weiter genug Betriebsstoff für die russische Armee bereitstellen zu können.

Der Westen würde zuverlässig eine Betriebsstoffknappheit in Russland erkennen können, denn als erstes würden die Kraftstoffzuteilung für zivile Anwender in Russland rationiert werden. Von einer Rationierung von Benzin für private PKWs in Russland ist aber nichts bekannt.

Einen selbstschädigenden Effekt hat die ukrainische Luftkampagne gegen die russische Ölindustrie dagegen im Hinblick auf die Exporterlöse Russlands: Obwohl die russischen Ölexporte fast ausschließlich aus Rohöl bestehen und so von der ukrainischen Luftkampagne gegen die russischen Raffinerie-Kapazitäten eigentlich nicht betroffen sind, reagiert der globale Ölmarkt nervös.

Der Ölpreis ist verhältnismäßig stark gestiegen, seit Beginn der ukrainischen Angriffe auf die russische Ölindustrie um satte 15 Prozent.

Gleichzeitig gelingt es Russland, den Export von Rohöl über seine westlichen Häfen um 10 Prozent zu steigern. Marktteilnehmer gehen von einer weiteren Steigerung der russischen Ölexporte aus.

Die Führung der USA ist besonders wegen der in diesem Jahr anstehenden Präsidentenwahlen aufgrund des Ölpreisanstieges besorgt – und hat deshalb die ukrainische Führung gebeten, die Angriffe auf die russische Energieinfrastruktur einzustellen (siehe Financial Times).

Ein Abnutzungskrieg

Der Ukraine-Krieg ist ein Abnutzungskrieg. Es zählt die Addition der beigebrachten Schäden. So ist es Ukraine zwar gelungen, trotz äußerst widriger Umstände eine eigene Flotte von Langstreckendrohnen aufzubauen und sie zum Einsatz zu bringen. Doch trotz deren operativer Erfolge haben die ukrainischen Angriffe auf russischen Boden noch nichts Signifikantes für den Kriegsverlauf erreicht.

Augenblicklich zeitigen sie sogar einen gegenteiligen Effekt, indem über nur schwer vorhersehbare Marktmechanismen die Einkünfte Russland aus dem Ölgeschäft gestiegen sind.

Dem steht gegenüber, dass die Intensität der russischen Angriffe auf die Infrastruktur der Ukraine steigt. Sollten sie fortgeführt werden, so steht für die ukrainische Führung zu befürchten, dass es zunehmend schwieriger wird, die Kampfkraft der Verteidiger auch nur zu regenerieren, geschweige denn zu steigern.

Die Ukraine muss durch die russische Luftkampagne schwere Schläge hinnehmen. Noch steht sie aufrecht im Krieg gegen die russische Armee, wieweit reicht die Kraft zum Weiterkämpfen?

Die hier zusammengestellten Informationen speisen sich aus folgenden OSINT-Quellen: Weeb Union, Military Summary Channel, Suriyakmap, Deepstatemap, Remilind23, HistoryLegends, simplicius76, Militaryland, Red Fish Bubble 2.1 (geschlossene Gruppe).