Ukraine-Krieg: Selenskyjs Rede und der Streit um den besten Wiederaufbau
Die Zerstörung der Ukraine schreitet voran. In Berlin wird über einen "Recovery Plan" beraten. Zuletzt gab es Kritik an der neoliberalen Ausrichtung.
Ein Ende des Krieges in der Ukraine ist noch nicht in Sicht und soll auch nach Meinung der westlichen Unterstützer des Landes weitergeführt werden, solange Russland nicht zu einem vollständigen Truppenabzug bereit ist – unterdessen tagt in Berlin bereits die dritte internationale Wiederaufbaukonferenz für das Land seit Beginn der russischen Invasion im Februar 2022.
Mehr als 2.000 Teilnehmende aus über 60 Ländern und Vertreter der Vereinten Nationen wollen hier bis zum morgigen Mittwoch darüber beraten, wie die Ukraine beim Wiederaufbau von zerbombten Gebäuden und Infrastruktur unterstützt werden kann.
Selenskyj: Kriegsende nur zu Bedingungen der Ukraine
"Angesichts von Russlands Luftterror werden dringende Lösungen für den ukrainischen Energiesektor für uns Top-Priorität haben", schrieb am Montagabend der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj, der zu diesem Anlass nach Berlin gereist ist, auf der Plattform X. Am Dienstagnachmittag hielt Selenskyj seine viel beachtete Rede im Deutschen Bundestag über "den Krieg auf unserem Kontinent" und den "Traum von Europa".
"Wir werden diesen Krieg zu unseren Bedingungen beenden", sagte Selenskyj mit Blick auf die Debatte über die Möglichkeit von Friedensverhandlungen.
Bas sieht Zukunft der Ukraine in EU und Nato
"Die Zukunft der Ukraine liegt in der EU und in der Nato. Das ist der politische Wiederaufbau", hatte Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) einleitend betont.
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In Online-Medien überschlugen sich derweil die Meldungen über das Fernbleiben der Abgeordneten von AfD und BSW bei der Rede des ukrainischen Präsidenten.
In einer BSW-Erklärung wurde dies damit begründet, dass Selenskyj "mittlerweile nach dem Urteil vieler internationaler Beobachter auf eine offene Eskalation des Krieges und einen unmittelbaren Kriegseintritt der Nato" setze. Das BSW verurteile zwar "den völkerrechtswidrigen Krieg Russlands in der Ukraine", aber Selenskyj trage dazu bei, "eine hochgefährliche Eskalationsspirale zu befördern" und riskiere somit einen atomaren Konflikt.
Weniger Zerstörung durch mehr Abwehrwaffen?
Zum Auftakt der Wiederaufbaukonferenz sprachen sich Selenskyj und Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) für eine weitere Stärkung der konventionellen Luftverteidigung der Ukraine aus. Scholz rief die Verbündeten auf, eine entsprechende Initiative "mit allem, was möglich ist" zu unterstützen. "Denn: Der beste Wiederaufbau ist der, der gar nicht stattfinden muss."
Selenskyj hob hervor, dass mindestens sieben weitere Patriot-Systeme nötig seien, um die ukrainischen Städte und Ballungsräume zu schützen. "Luftverteidigung ist die Antwort auf alles", sagte er laut offizieller Übersetzung mit Blick auf die russischen Angriffe mit Marschflugkörpern, Gleitbomben und Drohnen.
Scholz stellte der Ukraine umfangreiche finanzielle Zusagen für den Wiederaufbau in Aussicht. Dafür werde er sich auf dem G7-Gipfel der führenden Wirtschaftsmächte einsetzen, der am Donnerstag im italienischen Borgo Egnazia beginnt.
Die Weltbank rechnet laut Scholz in den kommenden zehn Jahren mit einem Bedarf von 500 Milliarden US-Dollar (464 Milliarden Euro) an Wiederaufbauhilfe für die Ukraine.
Die Ukraine als neoliberales Versuchslabor?
Über das "Wie" des Wiederaufbaus und die Arbeitsbedingungen der beteiligten Menschen wird seit längerer Zeit diskutiert. Auf der vorangegangenen Wiederaufbaukonferenz in Lugano hatte die ukrainische Delegation einen "Recovery Plan" vorgestellt, der die Deregulierung von Arbeitsverhältnissen und großflächige Privatisierungen einschloss.
Gewerkschaften und soziale Bewegungen müssten hier gegensteuern, schrieb Politikwissenschaftlerin Anna Jikhareva im vergangenen Jahr für die Bundeszentrale für politische Bildung.
Selenskyjs Plan umfasse drei Phasen: "Zuerst soll direkte Nothilfe im Krieg geleistet, dann die zerstörte Infrastruktur erneuert und schließlich sollen langfristige Ziele für eine Reform des Staates umgesetzt werden." Was der Kiewer Regierung vorschwebe, sei "ein Staat als Start-up, grün und digital, frei von Korruption und als lästig empfundenen Regulierungen". So könnte die Ukraine "ein neoliberales Labor par excellence" werden – "und vor allem ein zuverlässiger Partner fürs internationale Kapital".
Nationale Befreiung ohne soziale Komponente
Der ukrainische Soziologe Volodymyr Ishchenko befand in der Zeitschrift New Left Review, dass nationale Befreiung und der Kampf gegen den russischen Imperialismus in der Ukraine nicht "die Grundlagen von Kapitalismus und Imperialismus infrage stellt".
Es gehe mehr um Symbole und Identität als um soziale Transformation, wie sie bei der Dekolonisierung im Globalen Süden nach dem Zweiten Weltkrieg angestrebt wurde.