Ukraine-Krieg: Stunde der falschen Erzählungen

Seite 2: Holodomor und Holocaust

Der zweifelhafte Umgang mit der Wahrheit ist allerdings kein Privileg Wladimir Putins. Auch der Westen bedient sich bisweilen einer Argumentation, die man guten Gewissens als demagogisch bezeichnen kann.

So übernimmt man beispielsweise hierzulande völlig unkritisch den ukrainischen Vorwurf, Russland sei für den "Holodomor" – die um die drei Millionen ukrainischen Hungertoten 1932/33 im Zuge der Zwangskollektivierung – verantwortlich. Hier handelt es sich um einen in den meisten postsowjetischen Ländern mittlerweile äußerst beliebten geschichtsrevisionistischenNarrativ, den ich in anderem Zusammenhang einmal etwas akademisch-sperrisch als "posthume Renationalisierung der Sowjetgeschichte"5 bezeichnet habe und der auf folgenden simplen Satz hinausläuft: Schuld am Kommunismus waren immer nur die Russen!

Nicht Vertreter einer bestimmten Ideologie – Bolschewiki, Kommunisten oder der KGB – waren also dieser Argumentation zufolge die Täter, sondern Vertreter einer bestimmten Nation. Dasselbe gilt für die Opfer: Opfer waren nicht Kulaken, Kleinbauern, Adlige, Priester, Dissidenten, unliebsame Wissenschaftler und Künstler, sondern schlicht alle Völker der ehemaligen Sowjetunion – außer den Russen!

Wie fragwürdig diese Konstruktion ist, zeigt sich nicht zuletzt bezogen auf die genannte Hungerkatastrophe Anfang der 1930er-Jahre. Gehungert wurde nämlich auch außerhalb der Ukraine: Nicht zuletzt in den fruchtbaren Kuban- und Schwarzerde-Gebieten, im Nordkaukasus und in Kasachstan. Auch Russen sind dieser staatlich induzierten Hungerkatastrophe zu Hunderttausenden zum Opfer gefallen.

Übrigens war der Hauptverantwortliche für die Millionen Hungertoten, ein gewisser Josif Wissorjanowitsch Stalin, gar kein Russe, sondern Georgier! Kurzum: Die ganze Argumentation stimmt hinten und vorne nicht. Sie wird nicht dadurch besser, dass der Westen sie auch noch nachbetet.

Auf ähnlich fragwürdige Weise werden nun – wie kürzlich von der grünen Europa-Abgeordneten Viola von Cramon-Taubadel – die ukrainischen Holocaust-Opfer für eine angebliche besondere deutsche Verantwortung der Ukraine gegenüber in Anspruch genommen. Ja, auf dem Gebiet der heutigen Ukraine haben die Einsatzgruppen C und D der SS unter tatkräftiger Unterstützung der Wehrmacht grausigste Massaker an der jüdischen Bevölkerung verübt – unter anderem in Babij Yar im Norden von Kiew, Kamanezk-Podolsk und Odessa –, denen insgesamt Hunderttausende ukrainische Juden zum Opfer fielen.

Zur Wahrheit gehört aber auch, dass es unmittelbar nach dem Einmarsch der Wehrmacht im Juni 1941 in nahezu ganz Ostgalizien, der heutigen Westukraine, zu brutalsten blutigen Pogromen der ukrainischen Bevölkerung an den ortsansässigen Juden – im Jargon von SS und einigen Wehrmachtsgenerälen: "Selbstreinigungskräfte des ukrainischen Volkes" – kam, die weder Frau von Cramon-Taubadel noch Präsident Selenskyj auch nur mit einem Wort erwähnen. (Stattdessen führt man die jüdischen Holocaust-Opfer lieber dann ins Feld, wenn ausgerechnet in der unmittelbaren Umgebung von Babij Yar ein Fernsehsender von russischen Geschossen getroffen wird.)

Es ist halt immer bequemer, Opfer zu sein!

Kommen wir zum Schluss zu unserem Ausgangspunkt zurück: Kriegszeiten sind Zeiten der Demagogie, der falschen Erzählungen, der Lügen. Zur Deeskalation gehört auch das mühsame Geschäft, sie richtigzustellen. Beliebt macht man sich damit weder auf der einen noch auf der anderen Seite.